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PRESSE Wie du und ich

In 30000 Exemplaren kommt »Guten Tag« auf den Sowjet-Markt, eine deutsche Zeitschrift, auf russisch, unzensiert.
aus DER SPIEGEL 28/1979

Und die Sowjet-Union bewegt sich vielleicht doch: Von dieser Woche an können Bürger der UdSSR in 24 Großstädten eine Zeitschrift kaufen, die -- entgegen Lenins 61 Jahre lang gültiger Order -- unzensiert ist. Sie brauchen dafür nur 40 Kopeken anzulegen, einen halben Stundenlohn (1,20 Mark).

Das ganz legale Wochenblatt gibt es am Kiosk, heißt »Guten Tag« und kommt -- in russischer Sprache -- aus dem Westen: Herausgeber und Finanzier mit rund einer Million Mark im Jahr ist das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung. Die Zeitschrift, die im Hamburger Friedrich-Reinecke-Verlag erscheint, wirbt für Deutschland -- in der ersten Nummer, Auflage: 30 000, mit einem Titelphoto von dem satten Markt vor dem romantischen Rathaus der deutschen Bundeshauptstadt.

Per amtlich zugelassener Lektüre erfährt der Sowjetleser auf 40 Seiten, davon acht in Farbe, Ungewohntes über jenes Land, das amtlich bisher von regierenden Revanchisten, unterdrückten Kommunisten und mit Berufsverbot belegten Arbeitslosen bevölkert war: Lehrlinge erhalten eine Ausbildung, der »Golf« ist ein Wagen des Volkes, und das Volk bringt seine Freizeit gern mit Heimwerken zu -- das vielfältige Zubehör mangelt in der UdSSR oft sogar der Staatsindustrie.

»Guten Tag« Nr. 1 stellt seinen Lesern den in Rußland unbekannten Maler Max Ernst und den bereits ins Russische ("Brot und Spiele") und Litauische ("Deutschstunde") übersetzten Dichter Siegfried Lenz vor« ferner als »Menschen wie du und ich« den CDU-Bundespräsident Karl Carstens. Kanzler Schmidt soll das Titelblatt der zweiten Nummer schmücken.

Ähnlich wie Bonn in Moskau wirbt die Sowjet-Union bereits seit 23 Jahren in der Bundesrepublik mit der für sowjetische Verhältnisse gut gemachten Monatszeitschrift »Sowjetunion heute« auf Hochglanzpapier und gratis (Auflage: 37 500 Exemplare). Erst im deutsch-sowjetischen Frühling Anfang der siebziger Jahre gewährte Moskau Reziprozität. Sieben Jahre, fast so lange wie Salt, dauerten dann die Detail-Verhandlungen. Allein zwei Monate ging es um das Problem, wieviel Hefte in einen Packen passen.

Resultat: Die Auflage von »Guten Tag« kann innerhalb von vier Jahren auf 60 000 Exemplare gesteigert werden, ein Drittel davon liefert der Staatsvertrieb »Sojuspetschatj« an Abonnenten, zwei Drittel an Kioske.

Dort allerdings sollten auch schon ähnliche Werbeblätter der USA ("Amerika"), Englands, Japans und Indiens zu haben sein. Doch die sind meist »vergriffen« wie die westlichen Tageszeitungen, die seit dem Helsinki-Abkommen von 1975 in den für Ausländer reservierten Hotels und auf internationalen Flughäfen ausliegen sollten. Dort findet sich höchstens wochenalte Makulatur.

»Amerika« veraltet nicht so schnell wie eine Tageszeitung. Und so erscheint denn gleich nach Anlieferung durch »Sojuspetschatj« gelegentlich ein Herr, der den ganzen Packen noch gebündelt aufkauft -- womöglich nicht einmal für den Reißwolf des Staatssicherheitsdienstes, sondern für den schwarzen Markt, der »Amerika« im Sortiment hat.

Die Moskauer deutsche Botschaft hat sich abgesichert: Sie darf jeden Monat 2000 Stück »Guten Tag« an Sowjetbürger umsonst verteilen. Gibt der Beschenkte die so ergatterte Informationsschrift an Bekannte weiter, macht er sich keineswegs der antisowjetischen Agitation strafbar -- zumal mit der Bonner Redaktion Zurückhaltung vereinbart ist: Berlin zum Beispiel soll nicht direkt erwähnt werden.

Wenn nach dem niedrigsten Verbreitungsschlüssel für unzensierte »Samisdat«-Texte hundert Sowjetmenschen ein Exemplar lesen, erreicht die deutsche Zeitschrift (Stückkosten für Bonn: drei Mark) ungefähr jeden 20. Erwachsenen in der Sowjethauptstadt.

Würde dieser Multiplikator für die geplante Gesamtauflage gelten, gäbe es für »Guten Tag« bald sechs Millionen Sowjetleser.

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