»WIE EIN ANGESCHOSSENES WILD«
Das Magazin »Jasmin« gibt Äußerungen Eugen Gerstenmaiers über seinen Sturz wieder, unter anderem:
»Wenn ich mich im Spiegel sehe, ist das wie immer. Mir fehlt jedes subjektive Unrechtsbewußtsein. Mir fehlt jedes Gefühl dafür, daß etwas moralisch nicht in Ordnung war, was ich getan habe. Es wäre eine verlogene Buße, wenn ich sagen würde, daß mir in all den Wochen der Gedanke gekommen wäre: Es war Unrecht.«
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»Mein Vater war ein von der Pike auf gedienter Betriebsleiter einer Klavierfabrik. Er mußte von früh bis spät arbeiten, um seine zehnköpfige Familie zu ernähren. In unserer Familie haben wir die Armut wie ein Schicksal getragen, das einem auferlegt wird und mit dem man durch Arbeit und Fleiß fertig zu werden hat.«
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»Ich habe nicht für eine Entschädigung wegen irgendwelcher Leiden nachgesucht. Ich wollte keinen Pfennig für die Zeit im Zuchthaus, für die verschärften Verhöre durch die Geheime Staatspolizei, für die erlittenen Folterungen. Wenn ich das gewollt hätte, hätte ich längst einen Antrag nach dem Bundesentschädigungsgesetz stellen können. Ich hätte ja auch 1945 so gut wie jeden Lehrstuhl haben können. Aber ich habe mich geschämt, in dieser Zeit an meine persönliche Karriere zu denken. Noch im Gestapo-Gefängnis in Berlin-Tegel habe ich die Aufrufe und den Organisationsplan für das Evangelische Hilfswerk verfaßt. Ich habe nach dem Krieg nicht an meine Karriere gedacht, ich mußte Kinderschuhe und Eipulver sammeln!«
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Eugen Gerstenmaier hat bis heute nicht den 20. Juli 1944 in Berlin vergessen, den Tag des Attentats auf Hitler, den tragischen Tag der Widerstandskämpfer.« Wir hatten verloren und waren Gefangene im »Oberkommando der Wehrmacht« in der Berliner Bendlerstraße. Da hörte ich unter mir ein scharfes Kommando. Dann einen Ruf. Ich glaubte, es war Stauffenbergs Stimme. Mit Sicherheit habe ich nur das letzte Wort verstanden: 'Deutschland'. Darauf eine Salve, so laut, daß ich glaubte, die Dachziegel würden herunterfallen. Dann die Sieg-Heil-Rufe. Das große Sterben hatte begonnen. Die sechs Letzten aus dem engsten Kreis um Stauffenberg waren an Ort und Stelle geblieben. Wir wurden aneinander gefesselt. Mit meinen kurzen Beinen konnte ich nicht über die Blutlachen auf dem grünen Linoleum hinwegsteigen. Ich mußte durch das Blut Stauffenbergs hindurchgehen. Dann kam die Verhandlung vor dem Volksgerichtshof, dessen Präsident Roland Freisler war. Ich sehe alles noch vor mir: Freislers rote Rohe, daneben die anderen Richter, ebenfalls in roten Rohen. Ei- hielt zuerst eine scheinbar ganz ruhige Ansprache. Er griff nach einem vor ihm liegenden roten Band, dem deutschen Strafgesetzbuch. Er hielt es hoch und sagte etwa folgendes: Das sind die deutschen Strafgesetze. Aber -- sie sind hier nicht entscheidend. Hier entscheidet -- und jetzt schrie Freisler -- das gesunde Volksempfinden! Damit ließ er das rote Buch, das deutsche Strafrecht, verächtlich fallen.« Seit diesem Tag ist Eugen Gerstenmaier von unüberwindbarem Mißtrauen gegenüber- dem, was man »gesundes Volksempfinden« nennt. Und er scheut sich nicht, deutliche Parallelen zwischen damals und seinem Fall heute zu ziehen. Er fühlt sich wieder als Opfer eines »solchen Volksempfindens«.
Gestenmaier rief (nach seinem Rücktritt) Bundeskanzler Kiesinger im Bundeskanzleramt an: »Meine Frau besteht darauf, daß ich auch mein Abgeordneten-Mandat niederlege« Kiesinger antwortete: »Um Gottes willen! Das sieht dann wirklich wie ein Schuldeingeständnis aus.« Gerstenmaier: »Ich kann es nicht ändern. Am besten ist es, Sie rufen meine Frau an.« Kiesinger tat es. Wenige Minuten später konnte er Gerstenmaier mitteilen: »Ich habe mit Ihrer Frau gesprochen. Leider konnte ich sie nicht ganz überzeugen. Aber wir wollen uns morgen hei mir mit Ihrer Frau und meiner Frau zum Essen treffen."*
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»Ich muß mir den Kopf zerbrechen, was ich eigentlich tun soll. Der gewaltsame Aufbruch des Gewohnten, der wie ein Blitz aus heiterem Himmel kam, schafft natürlich Veränderungen des Existenziellen. Alles ändert sich auf einmal: die Orientierung des eigenen Gefühls, die Grundstimmungen, das Grundverhalten. Diese Dinge folgen nicht so schnell dem verstandesmäßigen Denken 'Alles ist aus'. So neu zu leben, muß gelernt werden. Auch ich muß neu lernen: Wie ein Mann, der ein Bein verloren hat, wieder gehen lernen muß --- Ich komme mir wie ein Wild vor, das nicht mit einem Blattschuß, sondern mit einer Ladung Schrot angeschossen wurde und sich nun dahinschleppt.«
* Gerstenmater verzichtete nicht auf sein Mandat; in seinem schwäbischen Wahlkreis wird er jedoch als Kandidat nicht mehr aufgestellt.