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Briefe

Wie ein Bleiklotz, Impressum
aus DER SPIEGEL 6/1979

Wie ein Bleiklotz, Impressum

(Nr. 5/1979. SPIEGEL-Titel: »Holocaust -- Der Judenmord bewegt die Deutschen")

Ich wohne in einem warmen Haus, aber ich friere -- mir ist sehr kalt geworden.

Escheburg (Schlesw.-Holst.)

HILDEGARD HANAFI, 41

Ich habe es gewußt, und jeder, der BBC gehört hat, wußte es, und alle, die mit sehenden Augen im Dritten Reich gelebt haben, mußten schon ein Verdrängungsvermögen à la Filbinger haben, wenn sie es nicht sahen.

Berlin DR. HUGO BUSCHMANN, 81

Mein Vater war fünf Jahre in verschiedenen Konzentrationslagern des Dritten Reiches. Für diese Zeit hat er 20 Jahre nach Kriegsende 2500 Mark Entschädigung erhalten, obwohl er heute noch an den psychischen Folgen dieser Zeit zu leiden hat.

Regensburg WALDEMAR CISZEK

Aktive oder passive Gegner des Hitlerregimes waren ungefähr 25 Prozent der Bevölkerung aus weltanschaulichen oder religiösen Gründen oder weil sie ganz einfach ein normales Gehirn im Kopfe und ein wenig Courage hatten. Es ist dieselbe Sorte Menschen, denen heute vieles in der Bundesrepublik wie ein Bleiklotz im Magen liegt.

Ravensburg (Bad.-Württ.)

FRÄULEIN E. HÄBERLE, 63

Ich, zur Nachkriegsgeneration gehörend, sitze hier, und das Bewußtsein eigener Unzulänglichkeit übermannt mich. Erhebe ich meine Stimme gegen Unrecht, protestiere ich mit persönlichem Einsatz gegen Unterdrückung? Lege ich nicht fatalistisch meine Hände in den Schoß (ach, Chile und Südafrika sind weit weg, und was kümmern mich die Gastarbeiter)? Sage ich nicht ja, wo ich hätte nein sagen müssen, kusche ich nicht vor der öffentlichen Meinung (höflich sein und immer hübsch die Klappe halten!), und mache ich nicht auch meine Tür zu?

München BARBARA KALTER

Die »Alten«, die damals diese Sauerei mitgemacht, zumindest geduldet haben, die wollen uns heute etwas von »Demokratie beibringen, mir kommen die Tränen.

Flörsheim (Hessen) ULRICH CHWALEK, 25

Das Schicksal der Familie Weiß ist zum Teil auch Schicksal meiner Familie. Mein Vater (seine Zeichnungen sind heute im Jüdischen Museum in Prag ausgestellt) war ein Mitglied der Malergruppe in Theresienstadt, und auch seine Bilder sind in die Nazihände gekommen, und er hat auch nicht das KZ überlebt. Ich selbst kam als einziger Überlebender in meiner Familie aus Theresienstadt zurück. Damals war ich fünf Jahre alt.

Mein Vater hat mir zum dritten Geburtstag in Theresienstadt ein Buch gemacht. Es ist noch in meinem Besitz. Es handelt sich um ein einmaliges Werk. Der Vater versuchte mit viel Phantasie und Hoffnung, die grausame Realität zu überwinden und dem Kind zu zeigen, daß hinter der Mauer Blumen blühen und daß es doch noch eine Zukunft geben kann. Es sind 52 Farbbilder mit kurzen Texten und einer Widmung, die lautet: »Dies ist das Erste in der langen Reihe der Bücher, die ich beabsichtige für Dich zu malen!«

Es war das erste und letzte Buch, einige

Monate später war mein Vater tot. Nach der Entdeckung der Bilder wurden die Familien im Ghetto verhaftet, die Männer nach Auschwitz deportiert und Frauen mit Kindern in der sogenannten Kleinen Festung inhaftiert. Dadurch wurde ich zum jüngsten politischen Häftling Europas.

Mannheim THOMAS FRITTA-HAAS

Vielleicht werden auch wir in einigen Jahren von unseren Kindern gefragt, wie konntest Du es zulassen, daß Leute wegen ihrer Gesinnung Berufsverbot bekamen? Wie konntest du es zulassen, daß der Verfassungsschutz über 100 000e von Bürgern Daten über politische Ansichten abspeicherte und diese Daten an die Industrie weitergab? Wie konntest du zulassen, daß Millionen von Arbeitslosen so ins Elend gedrückt wurden, daß sie wieder einem Rattenfänger hinterherliefen? Und darauf müssen dann wir antworten!

Köln PETER MANZKE, 34

Und jetzt komme mir bloß niemand und verlange von mir Entschuldigungen oder Beschämung. Aber komme bitte jeder, der bereit ist, mit mir zu verhindern, daß derartige Verbrechen (und die sind bereits im Denken verwurzelt) keine Stunde der Wiedergeburt erfahren. Holocaust stellt eine Hilfe für mich dar, verstärkt nach Frieden, Freiheit und Gleichheit zu streben. Münster WERNER PACZIAN. 21

Wir wünschen ehrliche Dikussion. Wo sind Politiker, ehemalige Offiziere des Zweiten Weltkrieges wie Schmidt, Strauß, Carstens, Barzel?

Essen OSWALD LORICH

IRMGARD LANGE

Tragen nicht wir als Mitglieder eines demokratischen Staates auch eine Schuld, wenn wir einen Massenmörder wie Idi Amin akzeptieren?

Münster HANS BOHMANN

Student -- Geschichte/Anglistik

Die Resolutionen der Uno gegen Rassismus in Südafrika werden von den USA und der BRD abgelehnt. Wer auch immer verantwortlich für diese Ablehnung, letztendlich Schmidt, Genscher oder Lambsdorff -- die wirtschaftlichen Interessen der BRD werden gewahrt. Es scheint, als könne die jetzige Regierung Deutschlands Unternehmer besser absichern als die »Unternehmer-Partei« CDU.

Castrop-Rauxel (Nordrh.-Westf.)

ULRICH B. HASLER Student

Nach dem mündigen Bürger der 70er Jahre erscheint nun der sündige Bürger der 80er?! Warum verfilmen wir nicht My Lai für gefühlvolle Amerikaner?

Mülheim (Nrdrh.-West.) FRANZ FIRLA, 35

Ich finde, jetzt wäre es an der Zeit, daß deutsche Filmemacher die Machenschaften der CIA verfilmen.

Garching (Bayern) PETER KLAGES, 20

Vielleicht rückt der heilsame Schock schärfer in unser Bewußtsein, daß wir seit 1977 alle Zeitgenossen eines neuen ideologisch bestimmten millionenfachen Massenmordes sind: in Kambodscha, teilweise auch in Laos und Vietnam. Und wieder blicken die meisten von uns weg, zweifeln, beschwichtigen, nur weil es nicht ins eigene Weltbild paßt. Es lebt sich eben leichter, davon nichts wissen zu wollen -- wie 1944!

Bochum PROF. DR. PETER SCHÖLLER

Ich lese, daß die »Junge Union« findet, man hätte auch über die Vertriebenen aus den Ostgebieten berichten müssen. Da bitte ich um Aufklärung: War es nicht wenigstens teilweise so, daß die Menschen aus jenen Gebieten in Panik flohen, weil sie aus Zehntausenden Berichten von Urlaubern und ebenso vielen Feldpostbriefen wußten, »was wir dort angerichtet haben«? Daß sie also gewiß zum Teil aus Angst vor gerechter Vergeltung flohen? (In meiner Familie wird eine ganze Anzahl von solchen Briefen aus der Ostfront aufbewahrt.)

München DETLEV MÜGGENBURG

Zu Jürgen Schützinger:

Polizeiobermeister in Biberach. NPD-Landesvorsitzender von Baden-Württemberg und Bürgermeisterkandidat für Villingen-Schwenningen. Jahrgang 1953.

Bad Dürrheim (Bad.-Württ.) STEFFEN HOLLER

Ein Bruchteil der Tischler, Metzger, biedere, obrigkeitshörige, sentimentale Staatsbürger (die heute für die Todesstrafe plädieren oder jeden Terroristen coram publico erschießen wollen und so weiter), die auf Befehl von oben die Bestialitäten vollbrachten, wurden human und demokratisch abgeurteilt.

Die akademische Elite jedoch -- skrupellos wie eh und je -- kam davon (dank ihrer rhetorischen Abilität, der humanen Praxis der Siegermächte und der »christlichen« Parteien, die die Geschichte Historie sein lassen wollen).

Der Kommunismus und die rote Gefahr im Osten kamen der akademischen Schicht sehr gelegen, um unter dem Deckmantel des Kampfes gegen den Bolschewismus auch ihre Vergangenheit ins »rechte« Licht zu rücken. Viele Dorfs brachten sich in Sicherheit, sind heute fünfhundertprozentige Demokraten, singen wieder Stille Nacht und weinen -- senil-infantil geworden -- Krokodilstränen über die jüdische Tragödie. Mit kosakischen Grüßen

Heidelberg JENS T. BULBA

kosakischer Abstammung

Da die Diskriminierung und Verfolgung der Juden mit amtlicher und öffentlicher Kennzeichnung begann, muß man sich mit Sorge fragen, was mit unseren ausländischen Mitbürgern geschieht, die heute bereits wieder als Menschen zweiter Klasse behandelt werden. Wie werden die nächsten Schritte aussehen, wenn schon eine einfache polizeiliche Anmeldung, aus der doch bereits die Staatsangehörigkeit ersichtlich ist, völlig sinnlos mit dem unübersehbaren amtlichen Vermerk »Ausländer« gekennzeichnet wird?

Frankfurt WOLFGANG KREMER

Rudolf Augstein bekennt offen »Ich habe es nicht gewußt!« Doch damit stellt er uns Älteren beileibe keinen Freibrief aus. Wer Jahrgang 1923 war, zählte im Jahre der Gleichschaltung 1933 ganze zehn Jahre.

Doch wir Älteren können nicht bestreiten, daß wir die Drohungen Hitlers in seinem Buch »Mein Kampf« gelesen haben oder doch lesen konnten, und keiner von uns konnte bestreiten, daß er die Synagogen brennen sah. Der Rauch ihrer Brände überschattete uns alle, und er überschattete das ganze Reich, Wer sich beschämt und gedemütigt fühlte, widerstrebte zwar, doch war das noch kein Widerstand.

Was damals ausblieb, war ein Aufstand der Massen, waren Proteste der Generalität, waren Anklagen nicht

von wenigen, sondern von allen Kanzeln unserer Kirchen, waren Proteste aller recht denkenden Universitäts-Dozenten von allen Kathedern.

Was uns damals fehlte, trotz unserer militärischen Traditionen und unserer im Geschichtsunterricht gelehrten Heldenverehrung, war eine der wenigen wahren Bürgertugenden: die Zivilcourage! Ob sich das seither wirklich geändert haben sollte? Erst dann wären wir ein »anderes Deutschland«.

Hamburg ERICH LÜTH, 77 Mitinitiator der Aktion »Friede mit Israel (1951)

Nazi-Extremisten, damals 98 Prozent der Staatsdiener, sind Personen im Sinne des Grundgesetzes, durften sich nach 1945 auf einen Notstand berufen, verblieben im Dienst und erhalten weit über fünf Milliarden Mark Versorgungsbezüge.

Für ein halbes Prozent Nazigegner, die noch leben, gab es keinen Notstand. Sie wurden nach 1945 fristlos entlassen. Dieser Willkürakt ist für die SPD und FDP heute noch grundsätzlich geltendes Recht. Hierzu schweigen Bundespräsident und Bundeskanzler.

Steinbeck (Nordrh.-Westf.) CARL BERNEISEN Ingenieur

Ich möchte mich dem Chor all derer anschließen, die gegen den Schritt der Bundesrepublik protestieren, die weitere Verfolgung von Nazi-Verbrechern nach 1980 einzustellen.

Die für so schreckliche Verbrechen an der Menschheit verantwortlichen Nazis sollten nicht den Schutz ihres Verjährungsgesetzes genießen, sondern vielmehr gejagt und vor Gericht gestellt werden.

Die freie Welt begrüßt den Mut, die Ihr Land bei der Verfolgung von Nazi-Kriegsverbrechern bewiesen hat. Wir hoffen, Sie werden uns nicht enttäuschen, indem Sie über dieses noch unvollendete Werk den Vorhang herunterlassen.

Silver Spring (Maryland/USA) DORIS MARGOLIS

Vizepräsidentin »Editorial Associates«

Einer Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe ist ein Briefumschlag der Nordwestdeutschen Klassenlotterie, Hamburg, beigeklebt.

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