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»Wie ein flügellahmer Zaunkönig ...«

Der Schriftsteller und frühere SPD-Abgeordnete Dieter Lattmann über die Schaltstellen der Bonner Macht Umständliche Leute kann Helmut Schmidt sowenig ausstehen wie Schnörkel, Unklarheiten, zu dickleibige Ressortvorlagen -- oder Fraktionsabweichler wie den SPD-Abgeordneten Dieter Lattmann. Seine Erfahrungen mit dem Kanzler und den übrigen Regenten der Bonner Koalition schildert Lattmann, 54, von 1972 bis 1980 im Bundestag, in einem Buch, das unter dem Titel »Die lieblose Republik« im März erscheinen soll. Auszug: 1980 Kindler Verlag München.
aus DER SPIEGEL 53/1980

Verblüffend war, daß es im Kabinett auch nicht immer anders zuging als im Ortsverein. »Jeder kannte einen«, wie Helmut Rohde sagte, als er noch Bildungsminister war. Tatsächlich argumentierten Fachminister außerhalb ihrer Zuständigkeit manchmal so subjektiv, daß vom respektgebietenden obersten Bundesvorstand der Republik nur eine Runde mehr oder weniger privater Menschen in ihren Grenzen und Widersprüchen übrigblieb. Die versammelte Macht wurde durch die Personen, die sie verkörperten, relativiert.

Es kam vor, daß Helmut Schmidt zu den Kabinettssitzungen, die in der Regel mittwochs ab 9 Uhr stattfanden und eine mittels Ressortabstimmung detailliert vorbereitete Tagesordnung abwickelten, für bestimmte Punkte die Fachsprecher der Koalitionsfraktionen zuzog. Für die Innenpolitik zum Beispiel war das aus der SPD Hugo Brandt, von der FDP Friedrich Wendig. War ein Thema aus Bildung und Wissenschaft an der Reihe, hatten sich Helga Schuchardt und ich einzufinden. Ich saß dann zwischen Vogel und Wehner und wartete auf das Stichwort -- manchmal dauerte das zwei Stunden, weil aktuelle Tagespolitik die Ministerrunde zu Anfang beschäftigte.

Eine Zeitlang wurde die Anforderung der Fraktionssprecher zur Regel. Dem Kanzler kam es darauf an, daß sie einen Sachverhalt, der vom Kabinett zu beurteilen war, genauer als alle Tischvorlagen präzisierten. Er gab ihnen drei Minuten und wollte den springenden Punkt herausgearbeitet haben. Kam einer damit nicht zu Rande, unterbrach er jeden.

»Nicht verstanden«, sagte er schneidend und zündete sich eine seiner Mentholzigaretten aus der Packung neben dem Coca-Cola-Glas an. Umständliche Leute wollte er nicht an diesem Tisch haben. Schnörkel, Unklarheiten erzürnten ihn ebenso wie zu dickleibige Ressortvorlagen. Er wollte das Knappste hören und eindeutige Züge vorgesetzt erhalten wie beim Schach. »Erklären Sie das noch mal«, forderte er, »aber so, daß es ein normaler Mensch begreifen kann.«

Die Minister kannten das, sie reagierten nicht sichtbar auf diesen Ton. Die meisten blätterten in ihren Mappen. Rechts neben dem Kanzler saß Genscher eulenäugig, mit unbewegtem Gesicht. Auf der anderen Seite Kanzleramtschef Schüler, er wirkte auf mich S.33 mit dem großen Kopf und dem kleinen Körper wie die Bürokratie in Person.

Die anderen ähnelten alle überraschend genau ihrem Abbild in den Medien. Ihr Mienenspiel, ihre Gesten, ihre Äußerungen erschienen aus der tausendfachen Vervielfältigung, in der die Öffentlichkeit sie erlebte, auf das jeweils eine Exemplar zurückgeführt, das hier leibhaftig anwesend war. Das galt besonders für die überall multiplizierten Chefs der Mammutressorts. Neben ihnen nahmen sich die Herren kleinerer Häuser und Antje Huber wie Staatssekretäre aus. Landwirtschaftsminister Ertl, Bruder Josef, sah meist aus, als tage er mit seinen Aktenbündeln inmitten der ovalen Versammlung dennoch separiert. Er hatte seine Aura fest um sich und wußte: Wenn er für seine Bauern eine Sache tabuisierte, ging im Kabinett nichts mehr.

In dem saalartigen Raum, einem Rechteck, saßen entlang der Fensterfront wenige Mitarbeiter an aufgeräumten Tischen. Sie senkten die Köpfe über gespitzte Bleistifte und schneeweißes Papier. Ab und zu erschienen Referenten und händigten ihren Ministern Notizen aus, die jene kurz ansahen und mit einem hingeflüsterten Satz erwiderten.

Die Stimme des Kanzlers monologisierte häufig im Abstand zwischen den Köpfen, von denen die wenigsten ihn anschauten. Draußen im Vorraum liefen Meldungen ein, wurden von Zwischenträgern begutachtet, abgewiesen oder zugelassen als Mitteilung von Kabinettsrang. Das Filtersystem funktionierte reibungslos, es wurde von perfekten Zuarbeitern gesteuert.

In diesem Flügel merkte niemand etwas davon, daß in anderen Fluren und Räumen 477 Mitarbeiter in sechs Abteilungen auf 7852 qm Bürofläche ihren Dienst versahen, die -- Besucher eingerechnet -- ihre Fahrzeuge in unterirdischen Parkdecks mit der Ausdehnung von 11 000 qm untergebracht hatten. Das Kanzleramt residierte in dem Neubau, den die Architektengruppe Stieldorf 1976 fertiggestellt hatte. Im Regierungsapparat war die Bonner Ministerialbürokratie einschließlich der Institution des Bevollmächtigten der Bundesregierung in Berlin und der Nachrichtendienste im Kern nachgebildet. Jedem Ministerium entsprach im Haus ein Referat, von der Außenpolitik über Wirtschaft, Finanzen und Sozialpolitik bis zu den innerdeutschen Beziehungen, der äußeren Sicherheit und der Verwaltung.

Ein besonderer Rang kam der Planungsabteilung mit der Nummer 5 zu, denn hier saß der Brain-Trust, der Konzeptionen ausdachte und formulierte. Die Verbindung zum Bundestag hielt der Parlamentarische Staatssekretär oder später Staatsminister. In dieser Rolle habe ich nacheinander Karl Ravens, Marie Schlei, Hans-Jürgen Wischnewski und Gunter Huonker erlebt.

Mit seinen eloxierten Metallplatten mit Antiabhörbeschichtung stand das Gebäude da wie ein riesiger Sarkophag. Alles war auf Zweckmäßigkeit eingerichtet: 40 000 qm Gesamtnutzfläche und 5000 qm Park. 700 Wachsoldaten des Bundesgrenzschutzes konnten hier untergebracht werden.

Einmal hatten zum Kanzlerfest die elf Bundesländer dort im Hof ihre Suppen gekocht. Kulinarischer Föderalismus von der Waterkant bis Bayern. Zu Tausenden probierten Gäste in Abendroben oder Jeans im Lauf der Nacht im Gedränge um Gulaschtöpfe die landsmannschaftlichen Eigentümlichkeiten von Fischsuppe bis zur Kartoffelbrühe. In Sichtweite stand nachtblind das Bundesratsgebäude, die Kurfürstenburg, und repräsentierte das Nachspiel zum Duodez, das die Staatskanzleien der Ministerpräsidenten im elfgliedrigen Trachten nach der Schwächung des Regierungshaupts lieferten.

Das Philosophischste an dem Fest, das als »Heiteres Philosophicum« ausgeboten wurde, waren übrigens die Schafe, die im Kral bei einem Lagerfeuer unter den Parkbäumen standen und manchmal blökten. Sie wunderten sich über das Festgelächter, die einherschreitenden Herren und frierenden Damen, die alle in Mänteln aus der Kälte kamen, um sich an der Glut ein wenig aufzuwärmen. In den Gläsern, die sie mit sich trugen, spiegelten sich die Lichter aus dem Neubau und den Festzelten. Es spiegelten sich auch die Blicke unzähliger Sicherheitsbeamter in Zivil darin.

Im Palais Schaumburg, dem alten Kanzleramt nebenan, traf meine Frau den Bundesbildungsminister und konnte sich nicht verkneifen, ihn auf der Stelle zu fragen: »Wie wird jemand wie Sie Politiker und auch noch Minister?« »Wissen Sie«, antwortete Jürgen Schmude, einer der genauesten Formulierer im Kabinett, »das frage ich mich auch oft morgens, wenn ich beim Rasieren in den Spiegel schaue.« Altarkerzengerade stand er noch eine Weile mit uns beim Sektausschank herum.

Der Sitzungsraum des Kabinetts im ersten Stock des neuen Kanzleramts war die Schaltstelle, von der aus die Bundesrepublik am augenfälligsten regiert wurde. Hier bündelten sich Gesetzesvorhaben, wurden Richtungen entschieden. Die Koalition rang um Kompromisse, die sie später in den Fraktionen auseinandergenommen und oft unter dem Druck der gegenläufigen Bundesratsmehrheit noch aufgeweicht erhielt. Daß der Bundespräsident als erster Mann im Staat galt, war ein Relikt aus der Monarchie. In Wahrheit war es der Kanzler, der die Richtlinien der Politik bestimmte. Präsidenten blieben gut für Repräsentation, Orden, Manöverbesuche und öffentliche Ermahnungen.

Wer außer den Ministern und Staatssekretären an den Kabinettssitzungen S.34 teilnahm, wurde vom Büro des Kanzleramtschefs an der Pforte angekündigt. Die Wache kontrollierte den Ausweis. Wenn ich durchgelassen wurde, dachte ich an eine Kaserne. Ich ging quer über den Vorplatz auf den rechten Flügel des Komplexes zu. Dort wurde am Eingang noch einmal der Name auf der Liste ermittelt, ehe ein Bediensteter mir die Treppe in den Oberstock zum Kabinettstrakt freigab.

Während eines halben Jahres hatten sich ein Kabinettsausschuß und danach das gesamte Kabinett -- was niemals zuvor geschehen war -- auf Drängen des Kanzlers sogar mehrfach mit einer künstlerpolitischen Vorlage von 80 Seiten beschäftigt. Sie umfaßte Vorschläge für Gesetze und Verordnungen von der Künstlersozialversicherung über steuerliche Maßnahmen bis zu Kunst am Bau und der Deutschen Nationalstiftung. Beteiligt waren daran das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, das Innenressort, das Auswärtige Amt durch seine Kulturabteilung, das Wohnungsbauministerium sowie Wirtschaft, Finanzen und Justiz. Wie bei jedem solchen Abstimmungsprozeß lief alles im Kanzleramt zusammen, wurde anberaten und schließlich entscheidungsreif.

Nach anfänglichem Staunen hatte die sozialdemokratische Fraktion eingesehen, daß Helmut Schmidt als Kanzler Versprechungen gegenüber Künstlern und Schriftstellern konkreter einzulösen bereit war als Willy Brandt, der die Aura dafür besaß.

Ich vergesse nicht jenen Morgen des 7. Mai 1974, an dem ich auf dem Bonner Bahnhof aus dem Schlafwagen stieg und vom Fahrer des Bundestagswagens erfuhr, daß Brandt das Amt des Bundeskanzlers niedergelegt hatte. Bonn hielt den Atem an. Die Opposition triumphierte. Wir Sozialdemokraten waren einer wie der andere gelähmt. Von der Klausur im Gästehaus der Ebert-Stiftung in Münstereifel, wo Brandt, Wehner und Schmidt die Entscheidung gefällt hatten, erfuhren wir nur Andeutungen. Die Fraktion wurde beschwichtigt. Es war die Stunde einsamer Beschlüsse.

Wenig später erhielt ich während einer Fachkonferenz in Münstereifel jenes Rücktrittszimmer zugewiesen, in dem der Parteivorsitzende, so berichteten die Betreuer, in der vorletzten Nacht um den ihm abgeforderten Entschluß gerungen hatte. Der Raum wirkte nichtssagend komfortabel und beschwor doch eine mächtige Emotion herauf.

Damals hatte sich Brandt am äußersten Punkt einer Identitätskrise befunden, die unter anderem durch alle Vorgänge rings um die Festnahme seines Parteireferenten im Kanzleramt, Günter Guillaume, als Offizier der Nationalen Volksarmee und Spion des DDR-Staatssicherheitsdienstes ausgelöst war. Wir alle hatten Guillaume gekannt. Kaum einer konnte nachträglich behaupten, Verdächtiges an ihm bemerkt zu haben. Er war freundlich, unpersönlich und effektiv gewesen wie andere Referenten vor ihm.

Aufs äußerste betroffen erlebten wir, wie sich die niemals verstummte Anfeindung seit der Emigration, alte Rivalitäten, Verdacht und Drohung, der berechtigte Vorwurf und widerwärtiges Gezerre um die Privatsphäre unter schäumender Beteiligung des politischen Regenbogen-Journalismus um Willy Brandt zusammenzogen und alle, die ihn je beneidet, gehaßt oder verehrt hatten, jeder in seiner Weise, wie in einem Brennpunkt vor sich sahen, was Höhe und Tiefe in diesem Politikerleben ausmachte. Er erhielt tausendfach Beweise der Zuneigung und Treue, beinahe ebensooft wurde er verflucht.

Er bewahrte Haltung. Mit der nötigen Disziplin wurde der Übergang von Brandt zu Schmidt vor der Öffentlichkeit inszeniert und zunächst einmal Zeit überstanden. Im Hintergrund vollzog sich die kritischste Wende der Sozialdemokratie, seit die sozialliberale Koalition im Frühjahr 1972 das Mißtrauensvotum der CDU/CSU, angeführt von Barzel, mit jener einen Stimme (oder waren es gar zwei?), die aus der Union gekommen sein mußte und niemals aufgedeckt wurde, hatte gerade noch abwehren können.

Eine Ära ging zu Ende. Wie immer, wenn eine außerordentliche Veränderung scheinbar blitzartig eintrat, wurde den Augenzeugen das Ausmaß erst in Etappen bewußt. Viele empfanden, daß eine Vision verschüttet war. Während der Apparat weiter rotierte, wurde nach und nach ein verkürztes Programm eingespeist -- scheinbar war es realistischer, jedenfalls machbarer.

Das Kanzleramt reagierte wie jede Behörde, die sich auf eine neue Person an der Spitze einrichtet: mit Beharrungskräften, zuwartend, funktionsbereit. Das erste Kabinett Schmidt schien, als es vereidigt wurde, angetreten, um das letzte Kabinett Brandt fortzusetzen. Dann allmählich kamen von der Brücke durch den Telegraphen neue Anweisungen an den Maschinenraum. Das Staatsschiff korrigierte den Kurs und steuerte ruhigere Gewässer an. Die Mißweisung wurde genauer einkalkuliert.

Brandt blieb Parteivorsitzender. Seine Wirkung verlagerte sich, als er auch Vorsitzender der Sozialistischen Internationale und der Nord-Süd-Kommission wurde. Aber es sollte lange dauern, S.35 bis er nach der Trennung vom Kanzleramt wieder zu sich fand -- verwunden hat er den Sturz wohl niemals ganz.

Damals beim Kanzlerwechsel wich der Angefochtene dem weniger Anfechtbaren, der Wissendere dem Intelligenteren, der Verletzbarere dem Härteren. Die lieblose Republik erhielt einen ziemlich perfekten Verwalter des Vorhandenen, einen Kanzler, wie er der Mehrheit vertrauenerweckender erschien, gerade weil er das Charisma und die Widersprüchlichkeiten seines Vorgängers nicht besaß. In der Ära Brandt war der Grundstein zum neuen Kanzleramt gelegt worden, doch der Hausherr, der einzog, hieß Helmut Schmidt. Dieser Austausch belegte, was mit der Republik inzwischen geschehen war.

Zu Beginn der Regierung Schmidt traf sich einige Male im Kanzlerbungalow eine abendliche Gesprächsrunde von Schriftstellern und Künstlern, die dann bis Mitternacht mit dem neuen Hausherrn diskutierte. So war es bei Brandt gewesen, aber es war anders. Solange ich es miterlebte, wurden dazu Heinrich Böll, Günter Graß, Siegfried Lenz, Otto Herbert Hajek, Luise Rinser und Thaddäus Troll, Carola Stern, Eberhard Jäckel und viele andere aus dem Freundeskreis der einst vom Autor der »Blechtrommel« inspirierten Wählerinitiative eingeladen. Der als Macher begrenzt galt, bewies Phantasie, er suchte bei den Unangepaßten eine Ballwand für seine Gedanken. Dennoch waren es recht holprige Zusammenkünfte. Keiner schonte den anderen. Ich hatte lange die Vorstellung von den Nachdenklichen im Land gehegt. Jetzt stellte ich fest: Auch die lief sich ab wie Schuhsohlen.

Es war die Zeit, in der Schmidt seines Amtes noch nicht sicher war. Oft wirkte er physisch überfordert. Er war ein Preuße, der seine Pflicht erfüllte. Manchmal ging er durch den Plenarsaal, als werde der eigene Körper zu einem unerträglichen Gewicht. Es gab Tage, an denen sein Gesicht grau wurde und die Augen angestrengt hervortraten. Er wurde reizbar, bis er nur noch arrogant wirkte.

In dieser Phase brauchte er Rückhalt bei der Fraktion. Ab und zu ging er nach einer Rede, bei der seine Stimme langsam geworden war und ungewohnte Schwierigkeiten beim Artikulieren bestimmter Silben hatte, durchs Restaurant im alten Bundeshaus. Man merkte ihm an, daß er kaum geschlafen hatte. Dann setzte er sich von Tisch zu Tisch und wollte von den Genossen hören, daß er gut war. So sammelte er Bestärkung ein. Der Regierungschef war aufrichtungsbedürftig wie andere Menschen auch.

In solchen Augenblicken konnte er sich heftig beschweren, daß ihm das alles zu spät und unter zu ungünstigen S.36 Umständen aufgepackt worden war. Das wirkte aufrichtig, obwohl ich unter Politikern selten erlebt habe, daß nicht zugleich jeder dem Spiel des anderen mißtraute. Einmal zog er mich während einer späten Plenumsdebatte, bei der wir auf eine kontroverse Abstimmung warten mußten, hinaus in einen Nebenraum. »Komm«, sagte er, »quatschen wir ein bißchen.« Ich hatte die Aufgabe eines ungefährlichen Zuhörers, dem eine plötzliche Offenheit entgegenkam. »Meinst du«, fragte er mit einem wirklichen Aufbegehren, »ich komme aus diesem Amt je wieder lebend heraus?« Er rechnete mir vor, was alles dagegen sprach.

Jeder aber, der damals solche Zweifel von ihm hörte, erlebte auch, wie das Amt ihm nach und nach auf den Leib wuchs, bis es dem Menschen Helmut Schmidt paßte wie vorher nur Konrad Adenauer. Dem Triumph des ersten Kanzlers der Bundesrepublik in der Bundestagswahl von 1957 sollte für Schmidt das Wahlergebnis des 5. Oktober 1980 entsprechen, auch wenn es nicht die absolute Mehrheit seiner Fraktion erbrachte. Die hätte er gar nicht gewollt. Genscher als Vizekanzler sicherte ihm die relative Unabhängigkeit von der eigenen Partei zu und zwang diese in die Loyalität. Auch die Gewerkschaften, auf die sich seine Regierung erklärt stützte, ließen sich mit Hilfe der FDP auf Distanz halten, wenn es ihm notwendig schien. Die Zerreißproben der Sozialdemokraten fanden um ihn herum statt. Er behielt sich fürs äußerste die Vertrauensfrage vor. Das Modell entsprach den gegenwärtigen Bedürfnissen der Mehrheit -richtiger: ihren Erwartungen. Schmidt wies gern darauf hin, wie begrenzt sein und der allgemeine Handlungsspielraum war, aber er unternahm auch kaum etwas, das er nicht schätzte, um ihn zu erweitern. Was aber wurde in Orwells Jahrzehnt? So fragten nicht nur Graß und Johano Strasser.

Sofern ich im Kanzleramt eine Rolle spielte, hatte sie ihre Kulmination am 15. Februar 1978, das ließ sich genau ermessen. Es war der Tag vor der Kampfabstimmung über die sogenannten Razziengesetze im Bundestagsplenum -- die Bezeichnung hatte Helmut Lölhöffel von der »Süddeutschen Zeitung« mit Bedacht in Umlauf gesetzt. An jenem Mittwoch waren Helga Schuchardt und ich um 9 Uhr zur Kabinettssitzung gebeten worden, weil zu Anfang der Bericht der Bundesregierung über Strukturfehler des föderativen Bildungssystems behandelt werden sollte.

Als wir eintrafen, hatte der Kanzler die Tagesordnung jedoch umstellen lassen. Zu Beginn ging es nun um die Lage der Koalition am morgigen Donnerstag bei der Plenardebatte und Abstimmung über das Bündel weiterer Strafgesetze, die nach Behauptung und Wollen der Mehrheit den Terrorismus eindämmen sollten. Nach Meinung einer Minderheit gingen sie jedoch übers Ziel hinaus und konnten im Gegenteil Grundfreiheiten gefährden. Die Opposition hatte weit schärfere Gesetzesvorlagen eingebracht, so daß man auf deren Stimmen zur Unterstützung der Regierungsposition in diesem Fall nicht rechnen konnte.

Am Vortag hatte ich vor der Fraktion auch im Namen von Manfred Coppik, Karl-Heinz Hansen und Erich Meinike unser Nein zu dem Gesetzespaket begründet und angekündigt, daß ich zur Erklärung der vier ablehnenden Stimmen im Plenum sprechen wollte. Es war eine erbarmungslose Auseinandersetzung. Viereinhalb Monate vorher hatte fast dieselbe Gruppe -- Thüsing an Stelle von Meinike -- ebenfalls bis ins Plenum gegen die eigene Fraktion gestimmt, als es sich um das Kontaktsperregesetz handelte.

Die öffentlichen Emotionen wurden aufgeheizt. Man redete und druckte der Bevölkerung ein, die Regierung stürze, falls sie in dieser Sachfrage nicht die Mehrheit in den eigenen Fraktionen fände. Das stimmte zwar nicht, aber es trieb die Konfrontation bis ins Irrationale. Entsprechend war der Anpassungsdruck in der Fraktion gewachsen. Die Entscheidung hatte sich von der ersten Lesung über die Ausschußberatungen, durch die das Paket erst die endgültige Formulierung erfuhr, monatelang hingezogen und immer mehr Aufmerksamkeit der Medien hervorgerufen.

Auf meinem Schreibtisch lagen Telegramme für oder gegen das Standhaftbleiben zu Hauf. Aus dem Wahlkreis kamen hektische Anrufe mit ebenso polarisiertem Inhalt. Schließlich hatte ich mich vor Zurufen von außen für die letzten zwei Tage hinter Unansprechbarkeit verschanzt, um nicht die Konzentration auf das Eigentliche zu verlieren.

Jetzt war die Gesetzgebung am kritischen Punkt angelangt. Mit vier Gegenstimmen aus den eigenen Reihen blieb die Mehrheit der Koalition bei insgesamt 253 verfügbaren Stimmen gegenüber 243 aus der Opposition, wenn alle da waren, auf fatale Weise gesichert. Bei Stimmengleichheit scheiterte das Gesetz. Keiner wollte der fünfte sein. Die Glaubwürdigkeit der Vierer-Voten war dadurch beeinträchtigt.

Dennoch mußten wir unserer Überzeugung nach antreten und die Gegenposition markieren, solange das durch eine nennenswerte Zahl in der Bevölkerung und Partei unterstützt wurde -- woran es keinen Zweifel gab. Völlig isolierte Entscheidungen waren noch keine Politik, sie befriedigten allenfalls die Moralvorstellungen von Überzeugungstätern.

Nun also saß ich neben Herbert Wehner am Kabinettstisch, gegenüber Genscher und dem Kanzler, in Reichweite von Hans-Jochen Vogel, mit dem mich auch bei unterschiedlicher Meinung Offenheit verband. Ich hatte zu diesem Punkt hier kein Rederecht und wurde auch nicht gefragt.

Statt dessen wollte der Vizekanzler und FDP-Chef, nachdem die Fernsehkameraleute und Photographen hinausgebeten waren, vom Bundeskanzler wissen: »Was wird morgen stattfinden? Müssen wir uns aus Ihrer Fraktion eventuell auch noch Reden von Andersdenkenden anhören, die sich liberal geben?« Genscher sah mich dabei mit der Auge-in-Auge-Robustheit an, die Politikern seines Schlages eigen ist. Falls es im Kanzleramt Engel gab, schwebten sie in diesem Augenblick gewiß durch den Raum.

Beinahe zwei Stunden erörterte das Kabinett hochnotpeinlich die Situation, S.38 zu der ich einen Schlüssel in der Tasche hatte. Je nach Temperament blickten die Ministeraugen mich sinnend oder drohend an. Hans Apel signalisierte Wohlwollen. Vor Beginn der Sitzung hatte er mich beiseite genommen und erklärt: »Ich bin nicht deiner Meinung, das weißt du. Aber ich werde dafür eintreten, daß jemand aus unserer Fraktion eine andere Meinung durchstehen kann, wie du.«

Das war wohl nicht nur eine Rosa-Luxemburg-Anleihe. Er sah mich sibyllinisch an, während Genscher weitschweifig wurde. Jedenfalls verursachten wir vier Aufenthalt, und ich war greifbar hier vor Ort. Kein Wunder, daß sich das Kabinett an mich hielt. Es war mein zweiundfünfzigster Geburtstag. Ich hatte mich schon in glücklicheren Lagen befunden. Jetzt fühlte ich mich wie ein flügellahmer Zaunkönig im Gebüsch. Um mich lärmten lauter Gärtner mit Heckenscheren. Sicherlich habe ich den Kopf ins Gefieder gezogen.

Schließlich verließen sich alle darauf, daß die Geschäftsführer der Fraktionen im entscheidenden Augenblick im Plenum die Mehrheit auf die Beine brächten, sichtbar für die erregte Öffentlichkeit. So geschah es auch in einer tumultartigen Versammlung.

Von da an war ich für eine Zeit in Ungnade. Einladungen ins Kabinett erfolgten -- bis auf einmal -- nicht mehr. Offenbar hatte der Kanzler eine generelle Anweisung gegeben, die überhaupt das Zuziehen der Fraktionsobleute betraf. Vom Kanzleramt aber liefen weiter alle Bindungen zur Arbeitsgruppe, die ich zu leiten hatte. Es ging um die Sache. Darin blieb ich einbezogen.

Noch oft betrat ich den Sarkophag mit der stumpfen Farbe, die je nach Beleuchtung an Koks, Flaschengrün oder militärische Tarnung erinnerte. Von dort zum Parlament und zurück lief die Ameisenstraße der Boten, Sachbearbeiter und Abgeordneten. Antennen und drahtlose Kommunikation verbanden über Relaisschaltungen und elektronische Richtstrahler das Kanzleramt mit den Innenbehörden, dem Bundespresseamt und Regierungsstationen in aller Welt. Wenn Staatsbesuche hereinparadierten, wehten bilaterale Flaggen an den Masten. Gewehre blitzten mit knatternden Atavismen aus der Kaiserzeit.

Das halbe Tausend Menschen, das hier seinen Alltag durchpflügte und die Bundesrepublik durch vielerlei Impulse beschäftigt hielt, diente einer Kernbürokratie inmitten von Bürokratiegehäusen ganz anderer Ausmaße. Zum Vergleich: Das Arbeitsministerium verfügte einschließlich sechs nachgeordneten Behörden über 2200 Mitarbeiter (Zahlen von 1980), das Bundeswirtschaftsministerium alles in allem über nahezu 5400 und das Innenministerium mit seinen über mehr als 10 000 Stellen -- so hieß es im Jargon.

Da nahm sich das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft, mit dem ich am meisten zu tun hatte, mit rund 350 Beamten und Angestellten aus wie ein Schubertquintett gegenüber einer Wagnerouvertüre im Furioso eines Philharmonischen Orchesters.

Die Ministerialdemokratie bürokratisierte die Republik in elf Bundesländern und der Hauptstadt durch die millionenfach ineinandergreifenden öffentlichen Hände im Geflecht von 8500 Kommunen. Der Kanzler, so sagte er gern, empfand sich in diesem Organismus als der oberste Angestellte des Staates, der res publica, die allgegenwärtig und doch kaum noch eine öffentliche Sache war.

S.36Nach seinem Rücktritt am 7. Mai 1974.*S.38Am 15. Februar 1978 mit Staatsminister Klaus von Dohnanyi undSPD-Fraktionschef Herbert Wehner.*

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