SPIONAGE Wie ein Schock
Die Abgeordneten des Bayerischen Landtags debattierten wieder einmal über ihr Dauerthema, die Sexualkunde. Da unterbrach Parlamentspräsident Franz Heubl die Plenarsitzung und berief eilig den Geschäftsordnungsausschuß ein.
Die meisten der Parlamentarier wußten aus Erfahrung, daß die plötzliche Programmänderung nur eins bedeuten konnte: Aufhebung der Immunität eines Kollegen. Aber außer dem Präsidenten, der kurz zuvor Besuch von der Bundesanwaltschaft bekommen hatte, war lediglich SPD-Fraktionsvorsitzender Helmut Rothemund im Bilde.
Seines besonderen Schutzes entblößt wurde der Abgeordnete Friedrich Cremer, 58, Arzt und Bürgermeister aus dem unterfränkischen Markt Triefenstein, ein Politiker mit vielen Ämtern und eine bunte Figur unter Bayerns bläßlichen Sozialdemokraten. Er steht im Verdacht, für die DDR spioniert zu haben.
Darüber war Rothemund vom bayrischen Innenministerium schon vor Weihnachten »aus Fairneß« (Minister Gerold Tandler) vertraulich informiert worden; die ahnungslosen Abgeordneten traf die Nachricht am Dienstag vergangener Woche hingegen »wie ein Schock« (SPD-MdL Bertold Kamm). Cremers Kollegen, nicht nur von der eigenen Partei, hielten den Spionageverdacht für »unvorstellbar« (CSU-MdL Karl Schön) und verwiesen sogleich auf den Fall des Bundestagsabgeordneten Uwe Holtz (SPD), »bei dem sich sehr schnell herausstellte, daß die Schuldvorwürfe unbegründet waren« (Rothemund).
Verblüfft waren Genossen wie Gegner, weil kaum erkennbar scheint, was den Parlamentarier für die Rolle eines roten Agenten qualifiziert -- es sei denn sein Automobil: Cremer, der nach Aufhebung seiner Immunität noch am gleichen Tag beim Skifahren im Oberland festgenommen wurde, fährt einen roten Alfa Romeo, der früher das Marktheidenfelder Kennzeichen MAR-X 1 trug und nach der bayrischen Gebietsreform die Karlstadter Nummer KAR-L 2 erhielt.
Im Landtag engagierte sich der »Renommierdoktor der SPD-Fraktion« (so ein FDP-Kollege) ausschließlich auf sozial- und gesundheitspolitischem Gebiet. Cremer plädierte für Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs und setzte sich für einen Lehrstuhl in der Vorsorgemedizin ein, er forderte eine Neuregelung für die Nebentätigkeitsverdienste von Chefärzten und wirksamere Werbung für Impfaktionen gegen Kinderlähmung.
Daheim in Unterfranken setzte sich der lebensfrohe Bürgermeister -- der auch sein Privates, einschließlich seiner Münchner Freundin, vor Bekannten nicht versteckt -- vornehmlich für Abwasser- und Müllbeseitigung ein. Sein Stellvertreter Rudolf Scheurich: »Hier herrscht tiefe Betroffenheit.«
Betroffen war auch die Bonner SPD-Führung: Vorstands- und Regierungsmitglieder beschwerten sich bei der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe, daß mit Cremer wieder ein sozialdemokratischer Abgeordneter vorschnell verdächtigt werde. Die Parallele zum Fall Holtz läßt sich allerdings nicht lückenlos ziehen.
Der im Sommer letzten Jahres von dem übergelaufenen rumänischen Geheimdienstmann lon Pacepa belastete Bundestagsabgeordnete war unmittelbar nach Bekanntwerden des Verdachts belangt worden -- ein »Kunstfehler«, wie der ehemalige Generalbundesanwalt Max Güde dieses Vorgehen kritisierte, weil dadurch ein möglicherweise haltloser Vorwurf gleich »an die große Glocke« komme. Bundesjustizminister Hans-Jochen Vögel empfahl nach den Holtz-Erfahrungen für künftige Fälle eine diskrete Überwachung im Vorfeld des förmlichen Ermittlungsverfahrens, das erst durch die Aufhebung der Immunität in Gang kommen kann.
Genau das scheinen die Staatsschützer bei Cremer beherzigt zu haben, denn Verdachtsmomente bestehen mindestens seit einem halben Jahr. Im Juli 1978 sei der Bayer, so die Bundesanwaltschaft, in Stockholm mit dem Chef der DDR-Auslandsspionage, Generalleutnant Markus Wolf, sowie weiteren DDR-Geheimdienstlern zusammengetroffen und sogar photographiert worden. Der im Januar übergelaufene DDR-Agentenführer Werner Stiller, dessen Informationen etliche mutmaßliche Industrie- und Wissenschaftsspione in der Bundesrepublik enttarnten, soll seine früheren Kollegen auf den Photos identifiziert haben -- wenngleich zwischen den Fällen Stiller und Cremer kein Zusammenhang erkennbar ist.
Was Cremer dem DDR-Staatssicherheitsdienst gesteckt haben soll, deutete letzte Woche ein hoher Beamter des Verfassungsschutzes an: »Atmosphärisches aus der Partei«, Mitteilungen über »Führungsquerelen«, Planung und Positionskämpfe in der SPD, ganz allgemein Informationen, die für den DDR-Geheimdienst von »erheblicher Bedeutung« seien.
Auf diesem Sektor verfügt der Mediziner in der Tat über reiches Wissen. Denn Cremer bekleidet in der Partei etliche Ämter, nicht nur in seinem Kreisvorstand und der Landtagsfraktion; er ist Mitglied des SPD-Parteirats -des wichtigsten Beschlußgremiums zwischen den Parteitagen -- und darüber hinaus Spitzenfunktionär in mehreren SPD-Fachgremien wie der Gesundheitspolitischen Kommission beim Parteivorstand und der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Ärzte und Apotheker.
Jedoch, daß der Multifunktionär aus dem Innern der Parteiführung und dabei auch über Staatsschutzwürdiges geplaudert habe, ist bislang schierer Verdacht. Und über die Motive des Spionageverdächtigen können einstweilen auch die Staatsschützer nur spekulieren -- etwa daß es sich um den Tätertyp eines »Einflußagenten« handelt, den »Sympathien für den Marxismus« zu Ost-Kontakten veranlassen, wie in den sechziger Jahren den Nürnberger Photogroßhändler Hannsheinz Porst.
Porst wurde 1969 wegen »landesverrräterischer Beziehungen« zu zwei Jahren und neun Monaten Haft verurteilt, obschon ihm nicht nachzusagen war, was er seinen Gesprächspartnern in der DDR wirklich verraten haben soll.
Der Landtagsabgeordnete Cremer gab schon bei seiner ersten Vernehmung zu, daß er seit 1972 Kontakt mit einem Mann aus dem Osten habe, ohne jedoch zu wissen, daß der vom DDR-Staatssicherheitsdienst sei. Vielleicht führten die beiden auch nur, wie seinerzeit Porst seine Beziehungen beschrieb, »gesamtdeutsche Gespräche«.