Wie eine unsichtbare Mauer
Sie haben den israelischen Staatspräsidenten in Berlin mit einem Luxusgefährt durch die scheibenglitzernde Prachtwelt ihrer Renommierboulevards kutschiert. Aber der Jude Chaim Herzog hat an die Kristallnacht denken müssen, an jene Novembernacht im Jahre 1938, »in der die Straßen der Städte Deutschlands von einer Schicht zerbrochenen Glases bedeckt waren, das sich in Millionen von Kristallen auflöste, die der Nacht ihren Namen gaben«.
Sie haben den israelischen Staatsgast am vergangenen Donnerstag im Reichstag empfangen, und der Jude Chaim Herzog muß einfach an den Reichstagsbrand denken, »und das, was er bedeutete«. Sie zeigen dem Präsidenten dort von drei Balkonen aus die Berliner Mauer, aber Chaim Herzogs Augen suchen den Führerbunker, in dem sich »das Drama der letzten Stunde des Dritten Reiches ... seinem logischen Ende näherte«.
»Ich konnte nicht anders«, sagt Präsident Herzog danach. Viele seiner Sätze beginnen so, doch nicht einmal klingt die Formel wie eine Entschuldigung.
Daß solche Erinnerungen, quälend und unvermeidlich, seinen Gast in Berlin überfallen würden, dessen ist sich Richard von Weizsäcker vorher sicher gewesen. Hat er dennoch gehofft, daß Herzog in dieser Stadt auch ein wenig von dem mitspüren könne, was dem Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland und Ex-Bürgermeister von West-Berlin in den Sinn zu kommen pflegt?
Daß nämlich diese Metropole zu groß gewesen ist, zu lebendig und zu sperrig, um sich von den Nazis ganz domestizieren zu lassen? Daß sich hier unorganisiert Menschen gegen die Tyrannei gewehrt haben? Daß manche - wie der Held in Falladas Roman »Jeder stirbt für sich allein« - im Widerstand Sprache gefunden haben? Daß also auch Deutsche Opfer der Nazis wurden?
In Plötzensee ist denen ein Denkmal gesetzt worden. Dorthin begleitet der Deutsche den Israeli zum Auftakt des Berlin-Besuches.
Nichts von ihren Gefühlen dringt in die Gesichter der beiden Männer, die - zum zweiten Mal in vier Tagen - vor einer grauen Mauer Aufstellung genommen haben, so statuarisch starr, als gehörten sie zum festen Bestandteil der Gedenkstätte. Grimm und verschlossen sind die Züge. Die Augen leicht zusammengekniffen, stehen sie hoch aufgerichtet und in straffer Haltung da, genau wie schon am Montag im ehemaligen Konzentrationslager Bergen-Belsen. Die Anspannung, die ihnen das Zeremoniell vor den Linsen der Kameras abverlangt, ist eher zu spüren als zu sehen. Zwei Staatsmänner mit Offiziersvergangenheit tun Dienst.
Und doch ist ein Unterschied unverkennbar. Bei aller Strenge sind die Züge beider Männer weicher, von Müdigkeit oder innerer Bewegung gelöst. Das Grau der Felsquader ist ihnen in Berlin nicht wie in Bergen-Belsen unter die Sonnenbräune der Haut gekrochen.
Es muß etwas geschehen sein in den vier Tagen, in denen Richard von Weizsäcker seinen Gast Chaim Herzog bei seinem Staatsbesuch begleitet, dem ersten eines israelischen Präsidenten in der Bundesrepublik Deutschland. Kann Trauer tatsächlich Arbeit sein, wie die Seelenkundler behaupten? Oder sieht Erschöpfung nur traurig aus?
Doch selbst wenn es nichts als Gewöhnung sein sollte, die Gast und Gastgeber gelockert haben, Gewöhnung an eine extreme Situation, die beiden Männern in jedem Augenblick höchste Spannkraft und Präsenz abverlangt, dann haben sie eine Routine erworben, die sie nicht abgestumpft hat, sondern gereift.
Denn tatsächlich sahen sich die beiden Präsidenten in der vergangenen Woche unentwegt einer grauen Wand gegenüber, Chaim Herzog sagt es am Abend vor seinem Abschied: »Es besteht kein Zweifel daran daß die Vergangenheit, die unsere Gegenwart und damit auch unsere Zukunft geformt hat, wie eine unsichtbare Mauer zwischen unseren beiden Völkern steht - eine Mauer, vor der wir nur schweigend stehen können, da sie durch die Millionen meines Volkes, die in Flammen und Gas auf dem Boden dieses Landes und Europas umgekommen sind, errichtet wurde.«
Nichts haben Chaim Herzog und Richard von Weizsäcker in der vergangenen Woche getan, um diese Mauer abzutragen oder sie zu verniedlichen. Im Gegenteil, alle Konzentration und Kraft haben sie darauf verwandt, diese Wand klar zu sehen und sie auch ihren Landsleuten sichtbar zu machen. Sie führen vor, wie man allmählich mit ihr »normal« leben lernt. Der mitreisende Knesset-Abgeordnete Dow Ben-Meir bringt es auf die Formel: »Normalitat heißt heute, das Bewußtsein für das Nicht-Normale der Beziehungen zu erhalten.«
Daß es kein Routine-Staatsbesuch werden würde, sondern ein »historisches« (Herzog), ein »ganz außergewöhnliches« (von Weizsäcker) Ereignis, das haben die beiden Präsidenten gewußt und gewollt. Ohne darüber mehr als andeutende Worte wechseln zu müssen, sind sie sich einig, diese Begegnung zu einer pädagogischen, wenn nicht gar therapeutischen Veranstaltung für ihre Völker hochzustilisieren.
Der Israeli Chaim Herzog, von vielen seines Volkes angefeindet oder zumindest nicht verstanden, will seine Mitbürger dazu bringen, nicht von Haß gelähmt
in der quälenden Vergangenheit zu verharren. Der Deutsche Richard von Weizsäcker möchte seine Landsleute mahnen, die es allzu eilig haben, aus den Schatten der Vergangenheit herauszutreten und sich in der neuen Unschuld der »späten Geburt« zu sonnen. Er bleibt bei seinem Satz vom 8. Mai 1985: »Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart.«
Herzog zitiert von Weizsäcker, der beruft sich auf Herzog. Beide predigen unermüdlich die gleiche Botschaft. Herzog kann in Berlin »nicht umhin«, die »Führenden der freien Welt« an Hitlers Aufstieg zu erinnern, »damit sie aus der Vergangenheit lernen«. Von Weizsäcker doziert: »Einen Schlußstrich zu ziehen, erlaubt die Geschichte nie.«
Eigentlich hätte es schiefgehen müssen. Nach den sentimental-pompösen »Versöhnungen über Gräbern«, die Kanzler Helmut Kohl in jüngster Zeit mit dem französischen Präsidenten Francois Mitterrand in Verdun vorführte und mit dem amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan in Bitburg, hält sich das Bedürfnis nach pompösen öffentlichen Symbolgesten in Grenzen.
Kitschige Peinlichkeiten, hohle Posen und aufdringliche Bekenntnisse aber sind nicht der Stil der beiden Staatsmänner, die in der vergangenen Woche in Bonn und Bergen-Belsen, in Worms und Berlin ihr Staatsschauspiel inszenieren. Bei allem Pathos und allen demonstrativen Gesten - nicht einen Augenblick droht die bis ins Schmerzhafte unterkühlte Staatsshow in weinerlichem Schwulst zu versacken oder in missionarischem Eifer abzuheben. So absichtsvoll und gezielt symbolträchtig der gesamte Besuch inszeniert worden war, die beiden Haupt- und Staatsfiguren - die sich ihrer Rolle als öffentliche Personen sehr bewußt sind - haben dafür gesorgt, daß jederzeit der Ton stimmt, die Haltung angemessen bleibt.
Form ist das Markenzeichen beider Männer. Und so ist es sicher auch eine Frage des Stils gewesen, daß dieser heikle Staatsbesuch nicht mißglückte. Aus der Umgebung beider Präsidenten dringt, wie sehr die Chefs einander bewundern für ihren Takt und ihre Haltung. Richard von Weizsäcker ist geradezu entzückt von der britischen Coolness seines Gastes - anerzogen auf der Militärakademie Sandhurst und beim Jurastudium in Cambridge, erprobt und bewährt in einem ereignisreichen Leben voller Kampf und Gefahren, geschliffen in öffentlichen Ämtern von Jerusalem bis New York.
Chaim Herzog wiederum preist in Berlin seinen Gastgeber öffentlich als »großen Bundespräsidenten«, der in »unsterblichen Worten« im Bundestag im Mai 1985 »eine außergewöhnlich mutige moralische Erklärung über die Tragödie des jüdischen Volkes während der Nazizeit abgab«.
Daß der Besuch aber ein Erfolg zu werden scheint, liegt daran, daß die beiden Männer durch ihren Lebensweg die Rollen beglaubigt haben, die sie jetzt spielen. Chaim Herzog und Richard von Weizsäcker - so sehr sie auch auf Wirkung abzielen - sind in jeder Nuance ihrer Auftritte authentisch, ohne in Privatheit zu entgleisen.
Das gilt vor allem für Herzog, dem am grauen Montagmittag in Bergen-Belsen die Erinnerung an jenen 16. April 1945 fast die Kehle austrocknet und zuschnürt, als der 26 Jahre alte Major vom Nachrichtenstab des 30. Armeekorps der Engländer mit dem Grauen in den Baracken des Todeslagers Bergen-Belsen konfrontiert wird. »Ja«, sagt der jetzt 68jährige Staatsgast nur, nachdem er lange vor den Photos mit den Leichenbergen gestanden hat, mehr nicht. In einem Gespräch mit dem SPIEGEL hatte er zwei Jahre zuvor bekannt: »Als wir die Lager betraten, als uns das ganze Ausmaß der Tragödie klar wurde, kamen wieder Rachegedanken auf, denn auch mir hätte es so gehen können.«
In Worms, im Nachbau der 1938 von den Nazis eingeäscherten Synagoge, fährt der Finger des israelischen Präsidenten über die Bronze-Tafeln mit den 485 Namen derer, die in den Gaskammern und Todeslagern umgebracht wurden oder im Elend untergingen. »Herzog« steht da, Elisabeth, Rudolf, Sigmund, Henriette und Siegfried Herzog. Der Präsident läßt auf Fragen israelischer Journalisten erkennen, daß dies keine ihm bekannten Angehörigen sind: »Aber für mich zählen alle Juden - gleich welchen Namens - zur Verwandtschaft.« Die Rolle des Opfers, das auf Rache verzichtet, aber auf Erinnerung besteht, die muß Herzog für diesen Besuch nicht einstudieren. Sie ist Teil seiner jüdischen Identität.
Entsprechendes gilt auch für Richard von Weizsäcker, der von seinen Landsleuten fordert, sich den Erinnerungen aufrichtig zu stellen. Der ehemalige Hauptmann in Hitlers Wehrmacht, Angehöriger einer Elite-Einheit, ist schon während seines Dienstes in der Sowjet-Union zwischen den Pflichten zu Gehorsam und Widerstand hin- und hergerissen. Als Sohn muß er dann seinen als Kriegsverbrecher angeklagten Vater Ernst von Weizsäcker verstehen lernen, den er in Nürnberg verteidigen hilft. Der Staatssekretär im Nazi-Außenministerium hatte mit SS-Rang Hitler gedient, um über diplomatische Kanäle den Krieg zu verhindern. Er war dabei immer mehr zum Mitwisser und Mitläufer des Regimes geworden.
»Jeder, der die Zeit mit vollem Bewußtsein erlebt hat, frage sich heute im stillen selbst nach seiner Verstrickung«, hat der Bundespräsident in seiner Rede am 8. Mai 1985 im Deutschen Bundestag gesagt: »Schuld oder Unschuld eines ganzen Volkes gibt es nicht. Schuld ist, wie Unschuld, nicht kollektiv, sondern persönlich.«
Aus dieser Rede ist das Bündnis von Gast und Gastgeber erwachsen. Chaim Herzog, den sie tief beeindruckt hatte, muß während Weizsäckers Staatsbesuch in Israel vor anderthalb Jahren die Überzeugung gewonnen haben, daß er zusammen mit diesem Mann den symbolischen Kraftakt in Deutschland wagen könne. »Bisher haben wir Sie respektiert«, versicherte Herzog seinem deutschen Staatsgast damals zum Abschied in Israel,
»jetzt haben wir Sie ins Herz geschlossen.«
Als Chaim Herzog dann am Montag vergangener Woche im Garten der Villa Hammerschmidt Auge in Auge mit deutschen Soldaten steht, als das »Lied der Deutschen« erklingt - weich und fast choralartig, von jedem militärischen Anklang gesäubert -, als er sich knapp vor der deutschen Fahne verneigt, da hatte er längst schon für sich den hohen Ton gesetzt, den Gast und Gastgeber sich und einander fortan abverlangten: »Zusammen mit der historischen Bedeutung dieser Visite verspüre ich eine historische Verantwortung«, hatte er der Süddeutschen Zeitung« in Jerusalem offenbart: »Ich werde sie fühlen. Ich werde den Flügelschlag des Schicksals hören.«
Es ist harte Arbeit, Disziplin und Feingefühl nötig, um diesen Anspruch durchzuhalten. Er droht ausgehöhlt zu werden von der eingeschliffenen Mechanik der Staatsbesuchsmaschinerie. Die beiden Staatssymboliker spüren zudem, wie schwer Erinnerung durchzuhalten ist gegenüber der einebnenden Macht einer neuen Wirklichkeit, die sich über die Bilder und Gefühle der Vergangenheit schiebt. »Das ist ein sehr anderer Ort als der, den ich 1945 sah. Ich fand einen Park vor«, hat Herzog in Bergen-Belsen gesagt. Doch er beharrt: »Die Szenen des Grauens werde ich nie vergessen.«
Am schwersten aber müssen die beiden Präsidenten kämpfen gegen die geschmeidige Geschäftigkeit bilateraler Alltagskontakte, für die das schillernde Schlüsselwort »vermehrtes Vertrauenskapital« heißt, das die Bonner Unionsfraktion in ihrer Begrüßungserklärung verwendet. Die Bundesrepublik und Israel sind Partner, die mit großer Befriedigung Gemeinsames aufzuzählen haben: Wirtschaftsprojekte, Forschungsvorhaben, Städtepartnerschaften, Touristenverkehr, Jugendaustausch. Das ist eine Beziehung, die »sich rechnet«, wie man in Bonn spricht. Mehr »Normalität« erscheint den meisten übertrieben.
Bundeskanzler Kohl, der sich in Israel der Gnade seiner späten Geburt rühmte und viele mit flacher Unbekümmertheit erschreckte, ist eine zentrale Figur in diesem »Stück Wirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland heute«, wie er zu sagen pflegt, »mit ihren Stärken, mit ihren Schwächen«. Zwar liest Kohl in seiner offiziellen Rede Nachdenkliches über die »Einmaligkeit« der Nazi-Verbrechen vor, aber kennzeichnender für seine Haltung ist das dröhnende Lachen, das aus dem Aufzug des Kanzleramts dringt, als er den israelischen Staatsgast empfängt und locker, allzu locker, den Photographen präsentiert.
Von da ist es nur ein Schritt bis zur neuen Unverfrorenheit, mit der Franz Josef Strauß und seine Bauchredner die Gäste schocken und in Zorn bringen, den sie nicht zeigen dürfen, wollen sie nicht das ganze Unternehmen gefährden. Nach dem Motto: Was kümmert uns unser Gemetzel von gestern, begrüßt der Bayer den Staatsgast von Ferne mit der Mitteilung: »Kein Volk kann auf Dauer mit einer kriminalisierten Geschichte leben«, ganz so, als würden die Gäste und ihr Gastgeber das Kriminelle in die deutsche Geschichte erst nachträglich hineindeuten.
Daß Chaim Herzog und Richard von Weizsäcker durch solche Widerstände eher bestärkt als entmutigt werden, ist offenkundig. Ihre Reden fügen sich zum Duett. Verspricht Chaim Herzog an dem Gedenkstein aus Jerusalem, den er in Bergen-Belsen enthüllt, den sechs Millionen Opfern: »Kein Verzeihen habe ich mit mir gebracht - und kein Vergessen«, dann kommt das Echo des Bundespräsidenten am Abend: »Gegenüber dem Holocaust kann es kein Vergessen geben.«
Daß sie Freunde geworden wären in diesen Tagen, würden weder Herzog noch von Weizsäcker so lauthals in die Welt posaunen wie »Helmut« und »Ronny«. Man kann es aber gar nicht übersehen. »Unsere gegenseitigen Staatsbesuche zeugen von einer neuen Beziehung, die sich wie durch ein Wunder zwischen unseren beiden Völkern entwickelt hat - wenn auch das Trauma noch vorhanden ist«, sagt Herzog. Trauer und Hoffnung scheinen durch, wenn er hinzufügt: »Wir sind auf Gedeih und Verderb jeder ein Teil der Geschichte des anderen.«
So sehen es beide Präsidenten, kein Zweifel. Daß die Völker es auch so sehen, ist noch keineswegs ausgemacht.