KERNKRAFTWERKE Wie eine Walze
Wie wir soeben erfahren, hat es im Atomkraftwerk Rehling bei Augsburg einen schweren Unfall gegeben«; »entgegen allen Erwartungen konnte der Kraftwerksunfall von den Notkühlsystemen nicht unter Kontrolle gebracht werden«; »der Unfall ist somit außer jeder Kontrolle«; »nach ersten Schätzungen hat die Atomkatastrophe etwa 19 999 Soforttote gefordert«.
Die Apokalypse, von einer »Arbeitsgemeinschaft demokratische Neuordnung« aus dem fernen Remscheid ausgemalt und auf Flugblättern an die Bauern der Lech-Auen nördlich von Augsburg verteilt, wird vermutlich eine Vision bleiben -- schon deshalb, weil das Kernkraftwerk womöglich überhaupt nicht gebaut wird.
Denn in Rehling haben sich zum erstenmal in der Bundesrepublik alle betroffenen Gemeinden und kommunalen Gebietskörperschaften gegen das Kernprojekt gewandt -- darunter auch die Standortgemeinde Rehling mit 1700 Einwohnern, die damit freilich, wie Bürgermeister Fritz Höß bedauernd einräumt, auf 400 Arbeitsplätze und Steuerzuwächse in Millionenhöhe verzichten muß.
Bürgermeister Höß stimmte für das Projekt, weil er die »Entwicklung ähnlich wie im Eisenbahnzeitalter nicht am Lech vorbeirauschen lassen möchte«. Die Aufgeschlossenheit des Gemeindeoberhauptes wundert indessen niemanden im Ort, denn Höß ist auch Vize-Bezirksmeister bei den Lech-Elektrizitätswerken, die das Kernkraftwerk zusammen mit dem Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerk bauen wollen.
Mit dem Rehlinger Beschluß, stark beeinflußt von einer örtlichen Bürgerinitiative, könnte in Schwaben schon das Raumordnungsverfahren, das erste einer Vielzahl von Genehmigungs- und Gutachterprozeduren, mit einem negativen Ergebnis enden. Doch auch bei einem positiven Bescheid durch die zuständige Regierung ist die rechtliche Stellung der betroffenen Gemeinde erheblich gestärkt.
Denn als Trägerin der örtlichen Planungshoheit wird Rehling im Falle einer Klage auch ohne weiteres Gehör finden. Bisher war das anders. Die Bauherren von Kernkraftwerken konnten stets die Zustimmung der unmittelbar zuständigen Gemeinde vorweisen, und Argumente gegen die Errichtung mußten deshalb außerhalb der Gemeindegrenzen von Nachbarkommunen vorgetragen werden.
Dies aber ist schwierig, weil den Gemeinden nach herrschender Rechtsauffassung »außerhalb ihrer Planungshoheit keineswegs allgemein ein Mitspracherecht bei Entscheidungen anderer Verwaltungsträger zusteht«, auch wenn das »allgemeine Wohl ihrer Einwohner oder gar »existenzielle Grundlagen« auf dem Spiele stehen (so der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg am 19. Januar 1977).
Großkommunen in der weiteren Umgebung eines Kernprojektes gerieten deshalb bislang immer in ein Dilemma. Zwar waren sie personell und finanziell noch am ehesten in der Lage, ihre Einwände und Bedenken zu artikulieren, wußten aber nie so recht, in welchem der zahlreichen Genehmigungsverfahren diese plaziert werden können. Das Raumordnungsverfahren, gegen dessen Ergebnis Nachbargemeinden noch nicht einmal ein Rechtsmittel zu Gebote steht, schien dabei manchen Städten noch am wenigsten geeignet, einen Hebel anzusetzen.
Der Landshuter Oberbürgermeister und bayrische Städteverbandsvorsitzende Josef Deimer beispielsweise, der in der Umgebung seiner Stadt womöglich bald vier Atomkraftwerke zu dulden hat, sieht sich »sehr hilflos den ganzen Gegebenheiten ausgesetzt«.
Noch bevor das Raumordnungsverfahren für das »Kernkraftwerk Isar I« positiv abgeschlossen und genehmigt war, seien am Standort Ohu bereits an die 50 Millionen Mark verbaut gewesen. Deimer: »Das ist wirklich eine Walze, die über uns hinweggeht.«
Die Macht des Faktischen belastet auch die Kugellager-Stadt Schweinfurt in ihrem Rechtsstreit gegen das Kernprojekt in Grafenrheinfeld: Rund die Hälfte des 1,5-Milliarden-Mark-Projekts war schon verbaut, als die Stadt letzte Woche Berufung beim Verwaltungsgerichtshof München einlegte.
Wenige Wochen nach dem gerichtlichen Baustopp in Wyhl hatte nämlich das Würzburger Verwaltungsgericht im April die Schweinfurter Einwände zurückgewiesen und die Kern-Bauherren am östlichen Mainufer gewähren lassen.
Seine rechtliche Legitimation zur Klage hatte sich Schweinfurt unter anderem dadurch beschaffen müssen, daß es einen Krautacker neben der Atombaustelle ankaufte und so Eigentümerrechte zur Geltung bringen kann.
Gewitzt durch solche mißlichen Erfahrungen, geht nun Augsburg im Fall Rehling schon von Anbeginn aufs Ganze. Am Mittwoch letzter Woche lehnte auch der Rat der Fuggerstadt das Vorhaben in Rehling ab und fütterte schon in das Raumordnungsverfahren zwei wissenschaftliche Gutachten ein, in denen -- nach Schleyer und Mogadischu -- die Hinweise auf »erpresserische Terroraktionen« von »anarchistischen oder geistesgestörten Einzeltätern« besonders auffallen.
Gegenüber den voluminösen Gutachten und Begründungen der Augsburger nehmen sich nun die 21 Seiten des Antrags auf Errichtung eines Kernkraftwerks der Lech-Elektrizitätswerke und des Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerks besonders dürftig aus. Augsburgs Stadtsyndikus Albert Räder: »Bei einem gewöhnlichen Kieswerk brauchen sie mindestens das Doppelte an Unterlagen.«