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BRASILIEN Wie Gelbfieber

Eine »soziale Krankheit« breitet sich aus: Bürger nehmen ihr Recht in die eigene Hand - sie exekutieren Mitbürger. *
aus DER SPIEGEL 17/1987

Francisco Ara und Ednaldo Saure waren angeklagt, ein 18jähriges Mädchen vergewaltigt und ermordet zu haben. Die Polizei konnte sie kurz nach der Tat verhaften und hielt sie im Gefängnis von Ouiricuri im öden nordostbrasilianischen Hinterland fest. Doch einige Einwohner wollten nicht auf den Richter warten.

15 Männer griffen zu Revolver oder Jagdgewehr, verhüllten ihre Gesichter mit Nylonstrümpfen und stürmten den Polizeiposten. Sie überwältigten die Beamten, dann verschleppten sie die Gefangenen. Stunden später fand die Polizei die zersägten Leichen der Entführten. Die Stücke waren über Kilometer hinweg am Rand der Landstraße verstreut.

Der brutale Mord, 630 Kilometer westlich der Hafenstadt Recife und weitab von jeglicher Zivilisation geschehen ist kein Einzelfall. Immer häufiger nehmen Brasilianer das Recht in die eigenen Hände und setzen Rache an die Stelle von Justiz.

Etwa im Elendsviertel Jacarezinho (Krokodilchen), im Norden von Rio de Janeiro. Dort wurde Jose Messias da Silveira von Pistolenschüssen zerfetzt. »Man hat mich so bestraft, weil ich ein Kind vergewaltigen wollte«, stand auf einem Stück Pappe, das auf dem Leichnam lag. Auf die Frage, wer denn da geschossen habe, lachte eine Frau, die sich, ein Kind auf dem Arm, den Toten ansah: »Das war der Revolver.«

In Umuarama, im südbrasilianischen Bundesstaat Parana, ermordeten drei Jugendliche - nach übermäßigem Genuß des Nationalgetränks Caipirinha - einen Photographen und vergewaltigten seine Freundin. Stunden nach ihrer Verhaftung riß eine wütende Menge die Täter aus dem Gefängnis. Stockhiebe und Fußtritte ersetzten Richter und Urteil. Die Leichen wurden noch fünf Kilometer weit hinter einem Auto hergeschleift, dann auf einem Platz vor jubelnder Menge verbrannt.

In Amambai im Bundesstaat Mato Grosso do Sul beschuldigte die Witwe eines Taxifahrers den Polizisten Josa Nestor, ihren Mann ermordet zu haben. Der Mann hatte ein Alibi, dennoch wurde er mit Draht und Zigaretten stundenlang gefoltert, dann ermordet. Das Alibi stimmte, Nestor war unschuldig.

»Lynchen ist eine soziale Krankheit geworden«, klagt Antonio Medrado, Polizeioffizier in Bahia. Tatsächlich scheint diese Form der Rache - benannt nach dem amerikanischen Friedensrichter aus - dem 18. Jahrhundert Charles Lynch- in Brasilien so endemisch zu sein wie Malaria oder Gelbfieber.

In den USA kamen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts rund 5000 Menschen durch Selbstjustiz von Bürgern um. Erst in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts war das Vertrauen in die Rechtsprechung so gefestigt, daß direkte Rache nachließ.

In Brasilien, das gerade den Übergang von Militärdiktatur zu Demokratie durchlebt, wird Erzbischof Dom Geraldo Majella Agnelo noch lange vergebens mahnen: »Niemand hat das Recht, Menschenleben zu nehmen - weder Volk Regierung noch Polizei!« Zwischen 1979 und 1983 gab es rund hundert Fälle von Lynchjustiz in Brasilien, so berichtet die Soziologin Maria Victoria Benevides, »niemand wurde je bestraft«.

Die Tendenz ist steigend: Zwischen Jahresende und Anfang Februar erlagen allein im Bundesstaat Bahia 16 Menschen der Selbstjustiz. »Die 'Urteile' fallen auf durch die maßlose Gewalt«, schreibt das Wochenmagazin »Isto e«. »In allen Fällen kam es vor der Hinrichtung zu grausamen Folterungen.«

Mag sein, daß die krisenerschütterte Gesellschaft Brasiliens besonders zu Gewalt neigt. So brüllten 2000 Gaffer einem Selbstmord-Kandidaten, der sechs Stunden lang auf dem Fernsehturm von Fortaleza ausharrte, die Aufforderung zu: »Spring! Spring! Du Feigling!« Der Arbeitslose, 23, sprang schließlich in den Tod.

Auch im Straßenverkehr manifestiert sich Brutalität. So verfolgte der Autolackierer Joao Canos Barbosa Melesi in Rio einen Chevrolet, der seinen VW-Käfer in einer Pfütze angespritzt hatte. Er holte auf - und schoß dem Fahrer des anderen Wagens in den Kopf. In drei Tagen zählte die Polizei von Sao Paulo Mitte Januar zwei Morde, einen Mordversuch und ein Feuergefecht beim Streit um Vorfahrt oder Blechschaden.

Überhaupt liegt die Mordrate in Brasilien besonders hoch - nach der letzten Statistik (von 1983) bei 13,6 pro 100000 Einwohner, in Rio de Janeiro gar bei 26,1. Ein Rekord: In Großbritannien wurden im selben Jahr 0,9, in der Bundesrepublik 4,4 Menschen je 100000 Einwohner ermordet.

Der Staat steht der Gewaltwelle ohnmächtig gegenüber. »Seit Jahrhunderten leidet die Justiz an zwei Übeln: Sie ist langsam und teuer«, analysiert der Oberste Richter der Nation, Jose Canos Moreira Alves. Offenkundige Fehlurteile ebenso wie überfüllte Gefängnisse, aus denen Verbrecher oft schnellstens wieder entlassen werden müssen, sind der Nährboden für die Selbstjustiz der Bürger. Allein in Groß-Rio leben 30000 Verurteilte in Freiheit, weil in den Gefängnissen kein Platz ist.

»Die Bevölkerung dürstet nach Gerechtigkeit«, meint der Bischof von Umuarama. Da sie sie oft nicht bekomme, verfielen einige auf die Lynchjustiz.

Aber inzwischen scheinen auch organisierte Banden die Menge zur Gewalt anzutreiben. Vor allem Taxifahrer, selbst oft Opfer von Raub oder Mord, üben nur allzugern selbst Rache aus - und werden dabei meist nicht gefaßt.

»Die Lynch-Verbrechen sind gut organisiert«, meint Maria Victoria Benevides. »Denn viele Taxifahrer sind ehemalige Polizisten, sie planen das Lynchen mit großer Umsicht.«

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