BUNDESTAG Wie im Stadion
Wilder Wein und Brombeerbüsche überwuchern das baufällige Gemäuer, Hinweisschilder mit der Aufschrift »Vorsicht Rattengift« warnen den Besucher beim Betreten des 100 Jahre alten Wasserwerks zwischen Bundeshaus und Rheinufer. Noch beherbergt das romantische Bauwerk in seinem muffigen Innern vier Pumpanlagen zur Trinkwasser-Notversorgung der Stadt Bonn und verstaubtes, ausgemustertes Mobiliar der Bundestagsverwaltung.
Geht es nach den Plänen der Baukommission des Bundestags-Ältestenrats, werden in dem wilhelminischen Zweckbau von 1986 an für ein bis zwei Jahre die 520 Abgeordneten des Bonner Parlaments residieren. In ihrer letzten Sitzung beschlossen die Bauplaner unter Vorsitz von Bundestagsvizepräsident Richard Stücklen, das Wasserwerk für zwölf Millionen Mark als Behelfsheim für die Parlamentarier umzubauen.
Besuchertribüne, Abgeordnetenlobby, Ruheräume und eine Cafeteria sollen für demokratiefreundliches Ambiente sorgen. Unter der elf Meter hohen Kuppel, dicht gedrängt auf mehreren ansteigenden Stuhlreihen, so schwebt den Architekten vor, sollen die Volksvertreter sitzen, fast wie im Stadion.
Auf die Idee mit dem Wasserwerk verfielen die Bonner, weil der alte Plenarsaal, so Bundesbauminister Oscar Schneider, in »bedenklichem Zustand« ist und »nicht mehr den baurechtlichen Vorschriften« entspricht. Decke und Fußboden des Plenums sind nicht feuerbeständig. Die beiden Stützpfeiler für die meist überfüllte Besuchertribüne drohen einzustürzen. Die Glastüren an der linken und rechten Seite, warnen Sicherheitsexperten, könnten den Abgeordneten den Fluchtweg verstellen.
Auch aus optischen Gründen ist eine Auffrischung überfällig: Fußboden und Gestühl zeigen Spuren der Zeit, die Bezüge sind abgewetzt, der schwarze Lack blättert ab.
»Wenn ausländische Staatsgäste kommen, wie zum Beispiel der amerikanische Präsident oder der französische Staatspräsident Mitterrand«, klagt ein Bundestagsmitarbeiter, »wird's manchmal schon peinlich.« Der Plenarsaal, geniert sich der Angestellte des Hohen Hauses, strahle »den Charme eines heruntergekommenen Provinztheaters aus«.
Daß die Planer der Bundesbaudirektion auf der Suche nach einem Ausweichquartier gerade auf das Wasserwerk stießen, hält der FDP-Abgeordnete Detlef Kleinert nicht zuletzt für sein Verdienst. Der Freidemokrat wollte das malerische Gebäude schon vor anderthalb Jahren aus seinem Dornröschenschlaf wecken.
Kleinert möchte sich und einem Dutzend gleichgesinnter Kollegen aus Union, FDP und SPD in dem Wasserwerk wenigstens vorübergehend einen Traum erfüllen, den schon der damalige Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier Ende der fünfziger Jahre hatte: einen Bundestag nach britischem Muster, in dem Regierung und Opposition sich gegenübersitzen und in dessen Bänken nur ein Teil der Abgeordneten Platz findet.
In einem solchen Parlament, schwärmt Kleinert, sei für »Eigenheimdenken« und »Bunkermentalität« kein Raum, die Kollegen könnten nicht mehr vor der Weite des Saales zu ihrem angestammten Pult flüchten. Der Bundestag habe die Chance, sich »auf seine eigentlichen Tugenden zu besinnen« und »ein Gegengewicht zur Bürokratie zu bilden«.
Kleinerts heimliche Hoffnung: Das neue »Wir-Gefühl« werde den Volksvertretern so gut gefallen, daß sie auch den alten Plenarsaal in seinem Sinne umbauen wollen.
Die Experten der Bundesbaudirektion in Berlin jedoch bevorzugen anstatt des britischen Konzepts das »Wiener Modell«. »Entweder bleibt alles beim alten«, wirbt Präsident Fritz M. Sitte für seine Pläne, »oder die Plätze im Plenum werden kreisförmig angeordnet.«
Für ein Kreis-Parlament werben die Befürworter mit zwei Argumenten: Da die Abgeordneten sich gegenübersäßen, verlöre das Parlament den Charakter eines Hörsaals, die politischen Konkurrenten könnten sich öfter mal direkt angehen. Und: Selbst im Normalfall, bei halbleeren Bänken, wirke der Bundestag optisch voller.
Der Nachteil: Wegen des beschränkten Raumangebots im Plenarsaal würden drei Klassen von Abgeordneten entstehen. Im inneren Kreis Parlamentarier in
Zweier-Sitzgruppen mit Tisch, hinten dran Stuhlreihen, teils mit, teils ohne Schreibgelegenheit.
Von Grund auf umkrempeln wollen die Planer der Bundesbaudirektion auch den Eingangsbereich des Hohen Hauses. »Wesentliches Gestaltungselement«, heißt es in einem Bericht der Behörde für die Baukommission des Ältestenrates, sei »die signifikante Hervorhebung des Plenarsaals und seiner Orientierung zur Stadt«. Eine repräsentative Vorhalle und ein begrünter Platz vor dem Bundestagsgebäude sollen das Parlamentsviertel »zur Stadt hin öffnen«.
Die Bürgernähe hat ihren Preis: Die gegenüberliegenden Villen, die unter anderem Ausschüsse und Arbeitskreise der FDP und CDU beherbergen, müßten ebenso wie die Baracken der Bundestagsverwaltung abgerissen, die Görresstraße, die den Bundestag mit dem Abgeordnetenhaus verbindet, müßte verlegt werden.
Die Bonner Stadtverwaltung hat noch ganz andere Pläne, um endlich ein bißchen Welt-, zumindest aber Hauptstadtatmosphäre an den Rhein zu bringen: Die häßliche Meile zwischen Kanzleramt und Rheinufer soll in den neunziger Jahren zu einer zusammenhängenden Freifläche umgestaltet werden, die, so der Bonner CDU-Oberbürgermeister Hans Daniels, »Bescheidenheit mit Würde verbindet«. Nicht nur das Gebäude des Westdeutschen Rundfunks, gleich neben dem Regierungshauptquartier, steht auf der Abrißliste, auch das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung müßte weichen.
Doch so schön sich die hochfliegenden Pläne auf dem Papier ausnehmen, zu realisieren sind sie, angesichts der halbleeren Staatskasse, in absehbarer Zeit wohl kaum. Zudem, beklagt der Stuttgarter SPD-Abgeordnete und Architekt Peter Conradi, »interessiert sich das Gros der Abgeordneten nicht für dieses Thema«.
Vor zwei Jahren erst hatten die Parlamentarier das ehrgeizige Neubauprogramm der Bundesbaudirektion und des Ältestenrates gekippt. Für über eine Milliarde Mark wollten die Architekten das Bonner Provisorium zum zweitgrößten Regierungsviertel der Welt nach Washington hochklotzen. In Hohlkörpern und unter Glaskuppeln sollten die Volksvertreter wie Avantgardekünstler residieren.
Um die Konkursmasse des »Babylon am Rhein« rauft sich nun ein halbes Dutzend Architektenteams. Gegenüber dem Abgeordnetenhochhaus, dem Langen Eugen, sollen sie möglichst bescheidene Gebäude für die Fraktionen, den Wissenschaftlichen Dienst und für die Bibliothek unterbringen.
Der Widerstand einiger besonders aktiver Parlamentarier dürfte ihnen auch dieses Mal gewiß sein: Die Neubauten kämen zum Teil auf die Gronau zu liegen - auf den Trainingsplatz des »FC Bundestag«.