»Wie in der Weimarer Republik«
SPIEGEL: Herr Professor, zum drittenmal innerhalb von 20 Jahren hat in der demokratisch regierten Türkei die Armee die Macht übernommen. Warum tun sich die Türken mit der Demokratie so schwer?
YALCIN: Zunächst: Die Türkei hat eine längere demokratische Erfahrung als Deutschland. Die Armee griff bei uns ein, um die Demokratie zu retten.
SPIEGEL: Muß man den Teufel wirklich mit dem Beelzebub austreiben? Läßt sich denn eine Demokratie wirklich nur durch undemokratische Methoden retten?
YALCIN: Die türkische Armee ist nicht die Armee putsch- und machtbesessener Obristen anderer Länder, die undemokratische Absichten verfolgen, die Demokratie also abschaffen wollen. Unsere Streitkräfte sind aus anderem Holz geschnitzt.
SPIEGEL: Was ist denn das Einmalige an der türkischen Armee?
YALCIN: Unsere Armee ist eine nationale Institution, die dann in Funktion tritt, wenn Not am Mann ist, die Staatsorgane versagen. Die Armee nimmt die kranke Nation sozusagen in Intensivpflege, bis sie wieder gesund ist.
SPIEGEL: Und diese Intensivstation soll ausgerechnet die Kaserne sein? Wer ermächtigt denn die Generäle eigentlich, die Regierung abzusetzen und das Parlament aufzulösen?
YALCIN: Unsere Verfassung berechtigt die Armee zum Eingreifen, wenn die Nation bedroht ist. Wie sehr die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung die Tat der Armee begrüßt hat, muß doch auch Ihnen aufgefallen sein. Politischer Terror, Mord und Totschlag, staatliche Ohnmacht und Chaos waren unerträglich geworden. Aus Angst vor blutigen Revancheakten wagte doch kein Türke mehr, von seinem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch zu machen. Mindestens ebenso schlimm waren die Lähmung des Staatsapparates und die Unfähigkeit der Politiker, eine Besserung herbeizuführen.
SPIEGEL: Und die Soldaten sollen das Wundermittel bereithalten?
YALCIN: General Evren ...
SPIEGEL: ... der sich zum Präsidenten ausrufen ließ ...
YALCIN: ... richtig, aber doch erst, nachdem die vom Steuerzahler besoldeten Volksvertreter in 120 Abstimmungen nicht in der Lage waren, sich auf einen Staatschef zu einigen. Evren S.148 will die Fehler unserer Demokratie beheben, daran habe ich keinen Zweifel.
SPIEGEL: Sie selbst hatten doch schon einen ganzen Katalog mit Vorschlägen ausgearbeitet, wie die Verfassung zu ändern sei ...
YALCIN: Ich hoffe, daß General Evren auf meine Vorschläge zurückgreifen wird. Ich rechne auch damit, an den Diskussionen der ins Auge gefaßten Verfassunggebenden Versammlung beteiligt zu werden. Schließlich handelt es sich dabei doch um den einzig seriösen Versuch, unsere politischen Strukturen den neuen Notwendigkeiten anzupassen.
SPIEGEL: Oder den Wünschen der Generäle?
YALCIN: Die Verfassungsänderung, von der ich spreche, habe ich mit Wissenschaftlern und Staatsrechtlern schon monatelang vorbereitet.
SPIEGEL: Der sozialistische Parteichef Ecevit wirft Ihnen vor, sie wollten die Macht zu stark in den Händen der Exekutivgewalt konzentrieren.
YALCIN: Unser bisheriges System förderte die Schaffung von Splitterparteien. Zusammen mit den zentrifugalen politischen Kräften beschworen sie eine Situation herauf, die am besten mit der Lähmung der Weimarer Republik zu vergleichen war.
In solch einer Lage braucht der Staat einen Präsidenten, der mehr ist als eine Symbolfigur, der beispielsweise auch das Parlament auflösen und Volksentscheide anberaumen kann, wenn es um Fragen geht, die die Existenz der Nation angehen.
SPIEGEL: Also eine Präsidialrepublik, wie in den USA?
YALCIN: Nein, eher schon wie in Frankreich. Der Präsident soll meiner Meinung nach auch nicht die Kabinettsmitglieder ernennen.
SPIEGEL: Was hätten Sie denn damit erreicht?
YALCIN: Allein reicht dies nicht aus. Wenn wir Regierung und Parlament aktionsfähig machen wollen, müssen die Splitterparteien verschwinden, ein neues Wahlgesetz muß her.
SPIEGEL: Denken Sie an eine Sperrklausel, an einen hohen Mindestprozentsatz an Stimmen, der einer Partei die Tore zum Parlament öffnet oder verschließt?
YALCIN: Das ist eine demokratische Hürde, die Sie in der Bundesrepublik errichtet haben, wir denken an ein Zweistufen-Wahlsystem: In der ersten Wahlphase gilt diejenige Partei als Gewinner, die mindestens 51 Prozent der Stimmen erzielt, in solch einem Wahlkreis ist die Wahl dann vorbei. Bekommt keine Partei die 51 Prozent, wird in einem zweiten Wahlgang nur noch zwischen den beiden stärksten Einzelparteien gewählt.
SPIEGEL: Das reduziert die künftige Zahl linker und rechter Parteien, die den beiden großen Parteien des Landes das Regieren schwermachen. Aber ist das nicht eine Einschränkung des pluralistischen Prinzips?
YALCIN: Überhaupt nicht. Die demokratische Willensäußerung bleibt gewährleistet und die Arbeitsfähigkeit des Parlaments dennoch garantiert. Übrigens sind die Parteien, die von dem neuen Parteiengesetz betroffen würden, Sammelbecken von Extremisten, die unsere Demokratie bedrohen.
SPIEGEL: Meinen Sie den religiösen Extremisten Erbakan, der Sie wegen Verleumdung verklagt hat?
YALCIN: Ich meine all jene, die unsere Demokratie bekämpfen wollen, die das Volk verhetzen, die den demokratischen freien Raum mißbrauchen. Herr Erbakan wird übrigens kaum Gelegenheit haben, gegen mich gerichtlich vorzugehen. Er wird sich selbst vor Gericht verantworten müssen für die lange Reihe von Verbrechen, derer er sich schuldig gemacht hat.
SPIEGEL: Sie wollen also praktisch ein Zweiparteiensystem einführen. Ecevit und Demirel, die Vorsitzenden der beiden größten türkischen Parteien, werden dann künftig das politische Leben Ihres Landes bestimmen ...
YALCIN: Kann sein, kann auch nicht sein. Die Parteien müssen sich erst von Korruption befreien.
SPIEGEL: Sie wollen auch noch eine Art Ehrenkodex?
YALCIN: Demirel, der ein Opportunist ist ...
SPIEGEL: Daß Sie ein Feind Demirels sind, ist verständlich. Er hat Sie aus seiner konservativen Gerechtigkeitspartei ausgeschlossen.
YALCIN: Aber hören Sie] Es pfeifen doch die Spatzen von den Dächern, daß Demirel nichts geschafft hat. Es war absolut berechtigt, daß ich eine parteiinterne Untersuchung gegen seine der Korruption verdächtigten Spezis verlangte. Mir geht es ums Prinzip. Sowohl Demirel wie Ecevit stießen alle Politiker aus ihren Parteien, die ihnen aus oft fadenscheinigen Gründen nicht genehm waren.
SPIEGEL: Wie wollen Sie das künftig ändern?
YALCIN: Durch ein Parteiengesetz, das jedem Parteimitglied das Recht gibt, im Verdachtsfall eine innerparteiliche Untersuchung auf sauberes politisches Verhalten zu verlangen.
SPIEGEL: Was soll mit dem Verfassungsgericht geschehen?
YALCIN: Es sollte künftig nur noch beratende Funktion haben. Denn das letzte Verfassungsgericht war ein Hemmschuh für die Demokratie. Ecevit wurde von den machtbesessenen Richtern gezwungen, alle politischen Terroristen freizulassen, Demirel durfte sein Wahlgesetz nicht durchbringen. Und dann müßte auch der Senat noch einige Aufgaben abgeben. Eine Beraterfunktion im Stil des englischen House of Lords wäre ausreichend.
SPIEGEL: Glauben Sie, daß diese Verfassungsänderungen helfen werden, den Terrorismus zu bekämpfen?
YALCIN: Nun ja, nach einer Weile wird diese oder jene Gruppe sicher wieder Bomben werfen.
SPIEGEL: Die größte marxistische Studentenvereinigung Dev-Sol kündigte an, besonders hart zuschlagen zu wollen.
YALCIN: Ja, leider. Wenn wir die von uns diskutierte Verfassung früher gehabt hätten, wäre es mit dem Terrorismus nie so schlimm geworden.
S.145Bei einer Kranzniederlegung am Morgen nach dem Putsch.*