EL SALVADOR Wie in Vietnam
Die meisten Offiziere der 3. Infanteriebrigade von San Miguel weilten bei ihren Familien in der Hauptstadt San Salvador. Die Soldaten hatten Ausgang oder befanden sich auf Wochenendurlaub. Als dann aber die ersten Granaten in die Kaserne einschlugen, riß der Beschuß nicht nur die verbliebenen Offiziere und Soldaten aus ihren Wochenendträumen. Auch die Armeeführung El Salvadors wurde aufgeschreckt.
Seit April, als der ehemalige Chef der berüchtigten Nationalgarde, Vides Casanova, das Verteidigungsministerium des Bürgerkriegslandes El Salvador übernahm, wiegten sich die Strategen der Armee in der Illusion, daß sie endgültig die Oberhand über die Guerillabewegung FMLN (Nationale Befreiungsfront Farabundo Marti) gewinnen könnten.
Unter dem Motto »Wohlfahrt für San Vicente« besetzte das Militär die Provinz San Vicente, die drei Jahre lang unter der Kontrolle der Guerilla gestanden hatte. Die Bauern, die vor den ständigen Kämpfen in die Städte geflohen waren, kehrten zurück, um das ausgetrocknete Land wieder zu bebauen.
Drei Monate währte der erzwungene »taktische Rückzug« der Untergrundkämpfer - dann hatten sie sich neu gesammelt.
Unter der Leitung der Guerilla-»Comandantes« Ana Guadalupe Martinez und Juan Ramon Medrano schlichen im Schutz der Dunkelheit unbemerkt rund 700 Kämpfer in die Stadt San Miguel und besetzten ihre Positionen. Daß die von den Soldaten so gefürchteten »muchachos«, wie die Guerrilleros im Volksmund heißen, praktisch vor ihrer Haustür standen, merkten die Truppen erst, als die Granaten in die Schlafquartiere einschlugen.
Das Chaos in den Kasernen, die bis zu 2000 Mann beherbergen, war komplett. Soldaten stürzten in Unterhosen und Socken aus den Betten in die Schützengräben.
Nach Angaben der FMLN erlitt die Armee bei diesem ersten Angriff rund 200 Mann Verluste. Oberst Flores, Chef der Brigade, soll leicht verletzt worden sein. Der Offizier rechtfertigte sich zwei Tage nach dem Angriff wortkarg im Fernsehen: »Wir wurden überrascht.«
Die US-Berater im Land staunten nicht weniger. Nur einige Stunden vor dem Angriff waren 350 Soldaten aus der San-Miguel-Garnison zur Verstärkung ins umkämpfte Morazan abgerückt, gaben die Militärs inzwischen zu. Darüber müssen die Guerilla-Strategen bestens informiert gewesen sein. »Junge, haben die ein Nachrichtensystem«, wunderte sich ein US-Offizier, »das ist um Klassen besser als das der Regierungstruppen.«
Nach eigenen Angaben schossen die FMLN-Kämpfer rund 150 Granaten in die Kasernen. Stundenlang zogen sich in der ganzen Stadt die Straßenkämpfe hin. Drei zur Verstärkung entsandte Hubschrauber wurden vom Abwehrfeuer aus der Kathedrale auf Distanz gehalten.
Asdrubal Aguilar, Parlamentarier der rechtsextremen Arena-Partei, der sich zum Zeitpunkt des Überfalls mit vier
weiteren Mitgliedern der verfassunggebenden Versammlung in San Miguel aufhielt, hatte dergleichen noch nie erlebt. »Es kam mir vor wie Vietnam«, sagte er später.
Bei der FMLN herrschte nach dem Angriff auf San Miguel Siegesstimmung, obschon sie militärische Einrichtungen weder erobern noch zerstören konnte. Aber die Bevölkerung hatte den Muchachos offensichtlich mehr geholfen, als erwartet worden war. Zum anderen konnten sich die Guerrilleros mit der spektakulären Aktion aus der militärischen und politischen Defensive befreien.
Ana Guadalupe Martinez, Guerilla-Führerin und ehemalige Medizinstudentin aus Santa Ana, kündigte schon an: »Das war der Beginn einer neuen Offensive. Unsere Streitkräfte haben in den letzten drei Monaten genug Kampfkraft gewonnen, um eine neue Phase einzuleiten.«
Die Armee dagegen mußte wieder einmal erfahren, daß ihre nun schon seit vier Monaten geführten Offensiven im ganzen Land die FMLN nicht getroffen hatten. Bombardements, Patrouillentätigkeit und Großoperationen in Bataillonsstärke schadeten allenfalls der Zivilbevölkerung, die in den von der FMLN kontrollierten Gebieten lebt. Die Gegner hingegen wichen aus.
Sie scheinen zudem besser trainiert und bewaffnet denn je. Die Brigade »Rafael Arce Zablah« der FMLN, die San Miguel angriff, ist eine jener Eliteeinheiten, welche die Rebellen als Antwort auf die von US-Beratern ausgebildeten Elitebataillone der Regierung aufgebaut haben. Die Kampfkraft der Guerilla-Spezialeinheiten verblüfft selbst vietnamerfahrene US-Marines.
In der Nordprovinz Chalatenango überrannten diese »Unidades de Vanguardia« zahlreiche Posten der Sicherheitskräfte. In dem Dorf La Reina buddelten sie sich unter Hauswänden hindurch und standen im Hauptquartier der Polizei, bevor die überhaupt wußte, daß die FMLN angriff.
Die Guerilla-Taktik wird von einer weithin organisierten konventionellen Revolutions-Armee geübt. Die Brigade »Rafael Arce Zablah«, die meist im Osten El Salvadors, in Morazan, operiert, ist aufgeteilt in sieben Bataillone: fünf Infanterieeinheiten, ein Bataillon leichte Artillerie und eine Einheit für Sonderaufgaben.
Bislang größter Coup der Sondereinheit: Im Januar 1982 schlichen die Guerrilleros unbemerkt auf das Gelände des scharf bewachten Militärflughafens Ilopango und zerstörten damals praktisch die gesamte Luftwaffe des Landes. Die Vereinigten Staaten lieferten in einem Notprogramm sofort Ersatz: Hubschrauber und A-37-Dragonfly-Kampfflugzeuge.
Die neue Gliederung ihrer Verbände ermöglicht den Guerrilleros zusätzliche taktische Flexibilität. Je nach Bedarf führen die Rebellen mal Buschkrieg, mal lassen sie ihre Truppen wie reguläre Verbände aufmarschieren. So liefern sich Regierungstruppen und FMLN-Einheiten seit Monaten am Guazapa-Vulkan, nur 20 Kilometer von der Hauptstadt entfernt, regelrechte Stellungskämpfe. Am Chichontepec-Vulkan, der sich über San Vicente erhebt, gelang es Vides Casanovas Bataillonen nicht, die Rebellen zu vertreiben. Selbst im Artilleriefeuer und Bombenhagel hielten sie ihre Stellungen.
Die Brigade »Rafael Arce Zablah« führte den Angriff auf das Armee-Nachrichtenzentrum Cacahuatique in Morazan. Danach kommentierte ein salvadorianischer Offizier erschrocken: »Sie greifen an wie die Chinesen, in Sturmwellen.« Und ein US-Militärberater - damals vor Ort - warnte: »Das ist durchdacht.
Ihr kämpft hier nicht gegen einen Haufen Anfänger.«
Joaquin Villalobos, Kommandeur der FMLN-Streitkräfte im Osten El Salvadors, beantwortete den Angriff auf San Miguel mit der Ankündigung neuer Offensiven: »San Miguel war der Anfang eines Abnutzungskrieges gegen die Armee. Wir haben alle unsere Einheiten angewiesen, keinem Kampf mehr aus dem Weg zu gehen.«
Daß Villalobos von Abnutzungskrieg spricht, ist neu. Die Bedeutung: Die FMLN scheint die Hoffnung aufgegeben zu haben, das Regime durch einen Volksaufstand stürzen zu können. Die Guerilla hat sich offensichtlich auf einen Krieg eingestellt, der noch Jahre dauern kann.