Wie leben nun die Russen?
Mit Verstand ist Rußland nicht zu begreifen,
mit dem üblichen Maß nicht zu messen;
es hat eine besondere Gestalt --
an Rußland kann man nur glauben.
Dieser Vierzeiler ist von Fjodor Tjuttschew**, einem Menschen, der sein Land kannte und sein Volk verehrte und liebte. Inspiriert wurde er wohl durch »Kenner« Rußlands, die nicht selten die Wege des Dichters auf seinen Auslandsreisen gekreuzt hatten.
Die Worte, die über 100 Jahre alt sind, haben auch heute ihre Aktualität nicht verloren. Denn die »Russophilen« sind nicht ausgestorben -- jene Leute, deren Vorstellung über das »typisch Russische« vom Samowar und dem Halbliter Wodka, von der Balalaika und Ikone nicht zu trennen ist, jene »Kenner«, die nicht begreifen können, daß dieses Land, das die »heiligen Gesetze« des Kapitalismus mißachtete, entgegen allen Prophezeiungen nicht den Bach hinunterging, sondern sogar in den Klub der Weltmächte eintrat.
So ist nun einmal mancher Mensch geschaffen: Wenn etwas nicht zu begreifen ist, dann ist es des Teufels! Wenn etwas nicht gefällt, dann ist es falsch. Aber ob es gefällt oder nicht: Das Leben geht weiter. Sein Weg ist nicht unbedingt mit den Touristen-Routen identisch und nicht von vorprogrammierten Drehbüchern bestimmt, mit denen man oft zu uns kommt, um »Sowjet-Rußland zu entdecken«. Wir wollen nicht verallgemeinern. Es gibt verschiedene Gäste: wissende und unwissende; wohlwollende und voreingenommene; dankbare und undankbare.
Im übrigen, warum sollte man sich lange darüber auslassen -- so viele Menschen, so viele Charaktere, davon wollen wir gar nicht reden. Interessanter ist es zu verfolgen, wie ein Ausländer, der eine Reise »östlich der Zivilisation« riskiert, in ein ihm unbekanntes Milieu vordringt. In der Regel beginnt er den Vergleich mit seinem Land nach den Äußerlichkeiten. Er vermerkt, wie die Russen angezogen sind, wie der Service im Hotel ist. Er prüft die Schaufenster, rechnet die Preise in Mark, Franc, Dollar um.
Aus der Ferne, aus den Zeitungen und Filmen, sah der Sowjetmensch irgendwie anders aus. Begegnet man ihm in den Straßen von Leningrad oder Kiew, so unterscheidet er sich kaum von einem Hamburger oder Münchner. Nur eilen die Moskauer ständig irgendwohin, als ob sie das Gefühl haben, ständig zu spät anzukommen. Im allgemeinen aber sind es Menschen wie anderswo: Die einen schauen sorgenvoll, die anderen lustig drein; zumeist sind sie aufgeschlossen. Vielen Ausländern imponiert die Fähigkeit des Sowjetmenschen, sich kritisch von der Seite betrachten zu können, sein Talent, den Ärger durch einen Scherz zu entspannen: »Hör mal, wie konntest du an nur einem Tag soviel Dummes anstellen?« -- »Ich stehe eben früh auf.«
Anderen, die besonders darauf gedrillt sind, ihre Interessen und eigenen Vorteile voranzustellen, ihr individuelles Wohlbefinden über alles zu stellen, fällt die seelische Großmut der Russen auf, das Großzügige in ihrem Naturell, die Bereitschaft, eine Kränkung zu vergessen, einen Streit rasch beizulegen.
Diese Dinge in uns sind keine Pose, sondern jenes Wesentliche, das eine jahrhundertealte Erfahrung einer ganzen Nation ausdrückt. Natur und Geschichte haben es Rußland und der Sowjet-Union nie leichtgemacht.
Auf sich allein gestellt, konnte ein Mensch solche Schwierigkeiten nicht bewältigen. Nur gemeinsam, mit der Gemeinde, mit den Nachbarn. So entstand allmählich jener Geist des Kollektivismus, der alle Fasern unseres Lebens durchdringt. Wenn man das nicht begreift, begreift man nichts bei uns.
Die Sowjet-Union ist kein Land, es ist ein Kontinent. Nehmen wir zum Beispiel den letzten 1. Mai: 25 Grad Wärme im Kaukasus, 25 Grad Frost auf Taimyr. Ein Sommer, in dem in einer Gegend die Erde unter der Hitze leidet, in der anderen Gegend vom Regen nicht trocken wird.
Wie soll man einen Staat regieren, in dem die Menschen in einer Region
* Staatliches Pjatnizki-Ensemble.
** Russischer Lyriker des 19. Jahrhunderts.
eben gerade ausgeschlafen haben, in der anderen aber schon ihren Arbeitstag beenden? Ein Land, in dem das Lehren in den Schulen und die Führung der Geschäfte in den Ämtern in mehr als 100 Sprachen geschieht? Wenn es in den westeuropäischen Ländern, bei all der Überschaubarkeit ihrer Räume, einen Sack voll Schwierigkeiten, ungelöster, unentschiedener Probleme gibt, warum soll es sie denn in der UdSSR nicht geben, und wenn es infolge des strengen Klimas ist?
Ja, unser Alltag ist vielgesichtig, angespannt, auf seine Art widersprüchlich. Um unsere Gegenwart zu verstehen, reicht ein Blick in die Schaufenster und auf die Preistafeln nicht aus. Wissenschaftlich ausgedrückt: Statisch ist die Sowjet-Union nicht zu begreifen. das heißt, es ist unmöglich, unseren gegenwärtigen Standort objektiv einzuschätzen, ohne zu ahnen, was am Anfang der Sowjetmacht war.
Keiner von uns pflegt irgendwelche Illusionen. Die Mängel sind nicht deshalb da, weil wir sie nicht sehen oder weil der Wunsch fehlt, es besser zu machen. Es ist einfach so. daß nicht alles auf einmal gemacht werden kann. Die Mängel entstehen nicht aus der Anwendung von Grundsätzen des sozialistischen Wirtschaftens, sondern als Abweichungen von diesen Grundsätzen.
Nach der Oktoberrevolution hat die Sowjet-Union einen gigantischen Weg zurückgelegt -- in nicht ganz 60 Jahren brach sie aus dem Mittelalter ins 21. Jahrhundert durch. Die UdSSR mußte es um jeden Preis erreichen, denn zahlreiche »Freunde« des Sozialismus beschränken sich, gewiß, nicht nur auf bloße Rhetorik in ihrem Kampf gegen die Sowjetrepublik. Angesichts der stets heraufziehenden Gewitterstürme -- wovon es mehr als genug gab -- wurde nicht jenen Problemen der Vorrang gegeben, die in einer außerhalb der Wirklichkeit stehenden Abstraktion logisch schienen, sondern jenen, von denen die Antwort auf die immer gleiche Frage abhing: Sein oder Nichtsein.
Danach mußte man das rasch aufholen, was die Umstände -- gegen unseren eigenen Willen -- gezwungen hatten, bis zu den besseren Zeiten zurückzustellen. Auf einigen Gebieten sind die aufgezwungenen Mängel der vergangenen Jahre, nebst anderer Faktoren, auch heute noch sichtbar. Kurz gesagt, die Errichtung der Sowjet-Union als eine sozialistische Großmacht ist uns nicht plötzlich und nicht einfach in den Schoß gefallen; eine ungeheure Anstrengung aller Kräfte war notwendig. Jeder Anstrengung aber, auch jeder wirtschaftlichen, entsprechen Risse in der Harmonie der Entwicklung einzelner Branchen, Unterbrechungen in der Versorgung mit Waren und Dienstleistungen.
Die eigentlich wichtigsten Ungereimtheiten unseres Alltags, die Unregelmäßigkeiten im Handel und in der
Dienstleistungssphäre sind fast unumgängliche Überreste der außerordentlich schnellen Bewegung nach vorn unter ungünstigen äußeren Bedingungen, wie sie die Sowjet-Union mindestens in den ersten vier Jahrzehnten ihrer Existenz begleiteten.
Unsere Opponenten behaupten immer wieder: die Rüstungsbürde sei die erste Ursache der »Engpässe« in der Konsumsphäre.
Es ist unbestreitbar, daß wir, bei Kürzung der Rüstungsausgaben, viele unserer Wirtschaftsprobleme schneller lösen könnten. Nun, wir rüsten nicht aus Habgier zu Megatonnen. Wir dürfen nun einmal fremde Megatonnen nicht aus der Sicht verlieren.
Was das Argument angeht, daß der Umfang der sowjetischen Bewaffnung die Verteidigungsbedürfnisse der UdSSR übertreffe, so haben wir etwas Ähnliches schon 1941 gehört. Vom Standpunkt der Nato-Stäbe wäre gewiß alles o. k., wenn die sowjetischen Verteidigungsmittel in allen Sparten einen oder zwei Schritte hinter den Angriffsmitteln der USA herhinken würden.
Doch die Produktion der materiellen und geistigen Güter wächst ständig; dies wiederum ist die Grundlage für ein Wachstum der Realeinkommen. Die Wirtschaft des Landes kennt keine Krisen. Im letzten Vierteljahrhundert hat sich die Industrieproduktion der UdSSR verzehnfacht, voriges Jahr betrug sie neun Zehntel der Industrieproduktion der USA, wahrend sie 1950 gerade ein Drittel davon erreichte*.
Für Hedrick Smith wie auch für viele andere, die über die Sowjet-Union schreiben, ist die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse fast ein Synonym für das Leben, ein Kriterium der Vorzüge oder der Mängel eines Gesellschafts-Systems. Darüber gibt es auch ohne uns im Westen genügend Streit. Folgen wir H. Smith interessehalber.
Wie »leben nun die Russen«, wie schaut nun die Sache mit der Befriedigung ihrer Bedürfnisse aus, woraus bestehen sie, die Bedürfnisse?
Vor dem Ersten Weltkrieg, 1913, betrug das Nationaleinkommen Rußlands pro Kopf der Bevölkerung (in den Preisen von damals) 43 Dollar gegen 154 Dollar in Deutschland und 351 Dollar in den USA. Es ist eine ziemliche Kunst zu überleben, wenn man weniger als vier Dollar Einkommen im Monat hat, zumal im strengen russischen Klima. Es mußte an allem gespart werden. Fleisch gab es nur an Feiertagen und während der Erntezeit, damit man bei Kräften blieb. Eine Schirmmütze und eine Jacke fürs ganze Leben gab es, und auch nicht für jeden.
1975 betrug das Nationaleinkommen der UdSSR 362 Milliarden Rubel, das sind 1,2 Billionen Mark. Das Durchschnittseinkommen eines sowjetischen Werktätigen erreicht 146 Rubel im Monat. das sind 489 Mark **.
* Die sowjetische Statistik bezieht die Dienstleistungen nicht ein. Einwohner der UdSSR: 254 Millionen, der USA: 214 Millionen.
** Nationaleinkommen in der Bundesrepublik Deutschland (62 Millionen Einwohner): 1,04 Billionen Mark. Durchschnittsverdienst: 1441 Mark.
Natürlich ernähren sich die Sowjetmenschen heute weitgehend besser -- dies in erster Linie. Sie essen heute doppelt soviel Fleisch und Butter, dreimal soviel Fische, Eier und Margarine wie 1950: Je Kopf zum Beispiel 57 Kilo Fleisch (Bundesrepublik Deutschland: 80 Kilo).
Nach Kalorien (über 3000 Kalorien pro Tag) hat die Ernährung der Bevölkerung in der UdSSR längst das Optimum erreicht, spürbar ist aber noch das Defizit an tierischem Eiweiß. Die Aufgabe, in den nächsten Jahren die Vergrößerung des gegenwärtigen Angebots an Fleisch, Eiern und Milchprodukten um ein Drittel zu sichern, ist gestellt. Die gleiche Wachstumsrate ist für das Obst vorgesehen.
Im Lebensmittelkonsum pro Kopf der Bevölkerung steht die UdSSR (außer in Fleisch und Obst) nicht mehr hinter den entwickelten Ländern Westeuropas zurück, im Verbrauch von Fisch, Milch, Gemüse und einigen anderen Produkten hat die UdSSR sie überholt. Schlechter steht es mit der Wegwerf-Verpackung. Wie oft aber wird bei Euch die mangelhafte Qualität der Waren durch ein schönes Etikett verdeckt?
Der Verbrauch an Kleidern (Stoffen) und Schuhwerk in den Ländern des »Gemeinsamen Marktes« erreichte vom Beginn der 60er Jahre an einen bestimmten Sättigungsgrad und pendelte sich praktisch auf der Ebene von 29 bis 32 Quadratmetern Stoff und 3,3 Paar Schuhen im Durchschnitt pro Kopf der Bevölkerung im Jahr ein. Die Sowjet-Union, unlängst noch im Konsum dieser Waren im Vergleich zu den westeuropäischen Ländern merklich zurückliegend, vergrößerte die Ressourcen dieser Waren in den letzten 10 bis 15 Jahren rapide, sowohl durch Eigenproduktion als auch durch den Import. Sie hat den EG-Standard erreicht (Verbrauch pro Kopf in der Sowjet-Union 1975: 32,4 Quadratmeter Stoff und 3,1 Paar Lederschuhwerk).
Natürlich zwingen uns die Naturbedingungen dazu, einen zusätzlichen Wintermantel in unserer Garderobe zu besitzen. Wir gehen mehr zu Fuß und benötigen deshalb mehr Schuhe. Im allgemeinen geht es aber jetzt doch in erster Linie um die Mode, um das Sortiment, um die Form.
Eine schnelle Zunahme der Elektrogeräte in jeder Familie zeugt dafür, daß auch auf diesem ziemlich wichtigen Gebiet der Konsum der Sowjetmenschen eine hohe Ebene erreicht hat. Auch hier vollzieht sieh die Angleichung an die westeuropäischen Länder: Von 100 Familien haben 76 ein Fernsehgerät, 66 einen Kühlschrank, 65 eine Waschmaschine.
Ein bemerkenswertes Detail: 1950 wurden in der UdSSR insgesamt 1200 Kühlschränke produziert. Das Erstaunlichste war, daß die Kühlschränke damals in den Kaufhäusern herumstanden: Es gab keine Nachfrage. 1970 wurden 4,1 Millionen Kühlschränke produziert -- es war immer noch zuwenig. 1975 wurden 5,6 Millionen Kühlschränke produziert -- da zeigte der Markt die ersten Anzeichen der Sättigung.
Na ja, aber wie ist es nun mit den Autos? -- wird so mancher Leser. von der Überlegenheit der westlichen Länder überzeugt, jetzt fragen. Die Russen haben auch dafür einen entsprechenden Scherz in petto: »Dafür haben wir mehr Parkplätze!«
Aber im Ernst, dieses Problem ist nicht so einfach, wie es auf den ersten Blick aussieht: Soll der individuelle oder der kommunale Verkehr bevorzugt werden? Wer soll die Frage der Fußgängerzonen in den Städten regeln. und wieso spricht ein hoher Anteil des »Pro-Kopf-Verbrauchs« an Autos für die eine oder die andere Gesellschaftsform?
Müssen wir den Fehler der anderen wiederholen, die die Straßen ihrer Städte durch Autos verstopfen ließen und eine ganze Reihe von sozialen und anderen Problemen erzeugt oder vertieft haben, angefangen beim Umweltproblem, dem Parkplatzproblem bis zur riesigen und unrationellen Verschwendung der materiellen und der Kraftstoffressourcen?
Probleme des Individualverkehrs können nicht zu den Privatangelegenheiten gezählt werden. Wir haben nicht vor, das Auto zum »Lieblingskind des Russen« zu machen. Unsere Pkw-Produktion ist zwar in fünf Jahren ums Vierfache gewachsen, auf heute 1,2 Millionen Autos (Bundesrepublik Deutschland: 5,4 Millionen). Jedoch ist für die nächsten Jahre eine gemäßigte Steigerungsrate in der Autoproduktion geplant, die Investitionen in den Kommunalverkehr werden dagegen wesentlich vergrößert.
Lange Jahre war für uns das Wohnungsproblem der Engpaß. Das hing mit dem stürmischen Anwachsen der Stadtbevölkerung nach der Revolution und mit den ungeheuren Verlusten im Zweiten Weltkrieg zusammen.
Möglicherweise ist der Krieg für den Herrn Kaiser* ein abstrakter Begriff; für das Sowjetland war dies jedoch mitnichten ein abstraktes Ereignis. Mehr als 20 Millionen Tote gab es
im wesentlichen Menschen jüngerer Jahrgänge, in denen die Energie eines Volkes konzentriert ist. Und es gab noch mehr Verwundete, von denen nicht wenige (etwa 25 Prozent) voll arbeitsunfähig wurden und vom Staat versorgt werden mußten.
Auf dem von den Hitler-Truppen okkupierten Sowjet-Territorium wurden 40 000 Krankenhäuser, 84 000 Lehr- und Forschungsanstalten, 31 850 Industriebetriebe, mehr als 100 000 landwirtschaftliche Betriebe und 65 000 Kilometer Eisenbahngeleise zerstört. Über sechs Millionen Gebäude wurden zu Ruinen. Dutzende Millionen Menschen verloren das Dach über dem Kopf.
Die Bauindustrie konnte keine Wunder vollbringen. Es ist auch nicht überflüssig zu sagen, daß wir oft, wiederum des Klimas wegen, 1,5- bis 2mal mehr Material für die Errichtung von Häusern, Straßen, Brücken benötigen als die Bundesrepublik oder die USA. In den letzten 20 Jahren sind mehr als zwei Milliarden Quadratmeter Wohnraum gebaut worden (Bundesrepublik Deutschland: eine Milliarde), pro Jahr werden im Durchschnitt 2,2 bis 2,3 Millionen Wohnungen gebaut.
Die Zuteilung von Separatwohnungen an Familien macht spürbare Fortschritte. Für die nächsten Jahre ist geplant, jedes Familienmitglied mit einem Zimmer zu versorgen und zusätzlich ein großes Zimmer pro Familie bereitzustellen. Und dann noch etwas nicht Unwichtiges: Das Wohnen ist bei uns für den Konsumenten am billigsten**.
Der Staat zieht keinen Profit aus den Häusern, er subventioniert im Gegenteil ihre Wartung -- zumal, nach unserer Ansicht, die Wohnungsfrage eine soziale Frage war und ist und nicht eine kommerzielle oder eine private.
Merklicher noch als in den Städten verändern sich Lebens- und Arbeitsbedingungen auf dem Dorf. Wenn 1960 auf eine in der Landwirtschaft beschäftigte Person 5,4 PS der Elektrizität fie-
* Mitautor der SPIEGEL-Serie.
** Ein Quadratmeter Neubau-Wohnfläche kostet den Gegenwert von zehn Arbeitsminuten. Bundesrepublik: etwa doppelt soviel.
len, so wuchs diese Zahl 1975 bis zu 17 PS. Noch umfangreichere Arbeit wird auf dem Gebiet der Melioration und Irrigation durchgeführt, um unsere Landwirtschaft von den Launen der Natur relativ unabhängig zu machen. Dies -- wie auch manches andere mehr -- ist aber im Westen kaum bekannt.
Für viele Leser im Westen wird es wohl eine Offenbarung sein, daß die sowjetische Baumwollzucht in der Produktion, der Erntebeständigkeit und anderen Faktoren an erster Stelle in der Welt steht. Äußerstenfalls nur ein enger Kreis von Fachleuten weiß es.
Ob viele wissen, daß es durch die Erhöhung der jährlichen Durchschnittstemperaturen und die Verringerung der Niederschläge im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einer wesentlichen Verschlechterung der klimatischen Bedingungen im europäischen Teil der UdSSR gekommen ist? Die »Forscher« vom Typ eines Smith interessiert das herzlich wenig. Die Dürrezone in Afrika ist von Gott, die häufiger auftretenden Dürren in der UdSSR aber sind vom Sozialismus -- das ist ungefähr die Methode, die zur Grundlage der Überlegungen gemacht wird.
Ferner werden die Ernten im Mittelwesten der USA mit denen im Dürreteil der Ukraine links vom Dnjepr verglichen. Das geht ja noch -- sicher wird man auch bereit sein, unser subpolares Gebiet mit den Subtropen zu vergleichen. um dann theatralisch die Hände über dem Kopf zusammenzuschlagen: Seht das, ihr Menschen, und lernt ... beim Privatkapitalisten.
Wie wird nun in Wirklichkeit das Vergleichbare verglichen? Nehmen wir den Weizen als Beispiel. Die Ernten in der Region Krasnodar sind in kaum einem Jahr niedriger als 50 bis 60 Zentner je Hektar. Gibt es nun in den USA viele Farmer, die Weizen ernten (und nebenbei gesagt, im breiten Maßstab Saatgut aus der Sowjetzucht verwenden), die solche Ergebnisse vorzeigen können?
Es ist kein Verdienst des privatkapitalistischen Systems, daß die natürlichen Klimabedingungen in den USA für die Landwirtschaft besonders günstig sind, eher das Gegenteil -- sie sind die Voraussetzung der stürmischen Expansion der USA-Landwirtschaft.
Was die Sowjet-Union betrifft, so kann man da fast das Umgekehrte sagen. Die schnelle Entwicklung unseres Landes nach der Revolution geschah im Gegensatz zu den schwierigen Naturgegebenheiten. Nur der Sozialismus mit seiner Fähigkeit, die Ressourcen auf die entscheidenden Schwerpunkte zu konzentrieren, war dazu imstande, sich solche Aufgaben zu stellen wie die Melioration der Nichtschwarzerde-Zone Rußlands, Projekte, die in der Geschichte der Menschheit einmalig sind.
Diese Aufgaben sind nicht einer ruhmreichen Epoche wegen gestellt worden, sie sind kein Produkt eines Phantasiespiels. Wenn wir uns nicht heute dazu entschließen, diese Probleme zu lösen, werden wir nicht imstande sein, den von der Natur vorbereiteten Schlag von den künftigen Generationen abzuwenden.
In den letzten 15 bis 20 Jahren erhöhte sich der Wohlstand der gesamten sowjetischen Bevölkerung zwei- bis dreimal. Sicher, wenn der Kritiker unsere Ernährung nur aus der Sicht einer Dose schwarzen Kaviars betrachtet, wird er unweigerlich vom Weltschmerz befallen sein.
Aber: Weder früher noch heute wanderten die Bären in unseren Städten herum. Die Verunglimpfung eines anderen Volkes, die Verachtung dem »Unmenschen« gegenüber, gepaart mit dem sozialen Auftrag, Mißtrauen zu säen, steigert die Gegnerschaft gegenüber allem, was durch fremde ideologische Töne gefärbt ist -- dies ist hier die eigentliche Motivation bei Smith und anderen. Sie heiligt die Mittel und bringt jeden Gewissensbiß zum Schweigen.
In der UdSSR werden die Ausgaben für die Entwicklung des Gesundheitswesens vom Staat getragen. Wir verstehen, daß die Erhaltung eines solchen Systems mühevoll und kostspielig ist. Es wäre für den Staat billiger gewesen, wenn er jedem Bürger gratis ein Auto geben würde, damit die Kranken aus eigenem Antrieb den Privatarzt erreichen könnten, den sie aus eigener Tasche bezahlen müßten. Der hohe Stand unserer medizinischen Versorgung wird durch Zahlen belegt: Auf 10 000 Einwohner kommen 31,5 Ärzte (Bundesrepublik Deutschland: 17,8), 116 Krankenhausbetten (Bundesrepublik Deutschland: 113).
Es gibt nur wenige Länder in der Welt, die ähnliche Zahlen wie die UdSSR auf diesem Gebiet vorweisen können. Es gibt noch weniger Staaten in der Welt, in denen die Medizin, die Pharmazeutik, die Gesundheitsindustrie so frei ist von dem Gedanken der Rentabilität, von der Reklame, von dem Herausholen von Gewinnen und Supergewinnen.
Die medizinische Betreuung ist nicht nur Heilen. Deswegen wuchs das Netz der Sanatorien und Erholungsheime in der UdSSR von 3700 auf 11 600 in den letzten 25 Jahren, die Zahl der Gäste dort stieg von 3,8 Millionen auf 27,5 Millionen jährlich an. Im ganzen bedienen alle stationären, vorbeugenden und Kur-Einrichtungen 48 Millionen Menschen pro Jahr, das heißt, fast die Hälfte der Arbeiter, Angestellten und Kolchosbauern (Ferieneinrichtungen für Kinder nicht mitgerechnet).
Wie steht es nun mit der Befriedigung von geistigen und sozialen Bedürfnissen, die für die allseitige Entwicklung der Persönlichkeit notwendig sind? Selbst in den Zeiten, in denen man mit allem sparen mußte, hat der Sowjet-Staat auf dem Gebiet der Entwicklung von Bildung und Kultur nie gespart.
In der Sowjet-Union lernen mehr als 90 Millionen Menschen oder jeder dritte Einwohner. Auf 10 000 Einwohner kommen in unserem Lande 180 Studenten* (Bundesrepublik Deutschland: 130). Was Wunder, daß das größte Ingenieurskorps der Welt in unserer Volkswirtschaft tätig ist -- 3,4 Millionen Diplom-Ingenieure. Ein Drittel aller Gelehrten und Forscher der Welt fällt auf die Sowjet-Union (über 1,2 Millionen Menschen). Und das in einem Land, in dem 60 Jahre zuvor 76 Prozent der erwachsenen Bevölkerung aus Analphabeten bestanden!
Zu Recht wird das Sowjetvolk als das belesenste Volk der Welt betrachtet. Es gibt heute in der UdSSR über 130 000 Bibliotheken, jährlich werden etwa 100 000 Bücher (Bundesrepublik Deutschland: 35 000) verschiedener Titel mit der Gesamtauflage von ungefähr zwei Milliarden Exemplaren herausgegeben**.
In keinem Land der Welt wird soviel übersetzte Literatur und soviel Kinder- und Jugendliteratur herausgegeben. Allein 1976 werden etwa 15 000 Werke ausländischer Schriftsteller mit einer Gesamtauflage von über 60 Millionen Exemplaren, übersetzt aus mehr als 40
* Annähernd die Hälfte davon im Fernstudium.
** Im Durchschnitt demnach 20 000 Stück von jedem Buchtitel oder jeweils eins für jede siebente öffentliche Bücherei. 40 Prozent sind Lehrbücher, acht Prozent schöngeistige Literatur einschließlich Kinderbüchern.
Sprachen, herausgegeben. Nebenbei gesagt, über Fremdsprachen: In der UdSSR lernen fast 15 Millionen Menschen in den allgemeinbildenden Schulen und auf den Hochschulen Deutsch; in der Bundesrepublik Deutschland lernen, wie es heißt, nicht mehr als 80 000 Leute Russisch.
Mancher Tourist fühlt sich betrogen, wenn er in der UdSSR kein Nachtlokal oder kein Etablissement findet, in dem das Viehische als eine Offenbarung der »freien Kunst« dargeboten wird. Auch wenn man riskiert, als altmodisch zu gelten: Unsere Gesellschaft wird auch weiterhin in Opposition zu all dem stehen, was unter der Tunke der Kunst das Gift serviert, jenes Gift, das den Glauben an das Edle im Menschen töten muß, das einen modernen Herostrates erziehen möchte, dem nichts heilig ist im Bestreben, sein eigenes Ich ins Zentrum der Weltschöpfung zu stellen.
In der Sowjet-Union sind die strengsten Gesetze gegen den Absatz und Verbrauch von Narkotika in Kraft. Zwangsheilung von Alkoholikern ist zugelassen. Es gibt auch andere gesetzliche Maßnahmen -- die keine Ausnahmen zulassen -- zur Überwachung der sittlichen, geistigen und physischen Gesundheit des Menschen.
Einige nennen eine solche Einschränkung der Freiheit von »Selbst-
* Swetlana Toma in »Die Zigeuner kommen in den Himmel, Moskauer Uraufführung im vorigen Monat.
verwirklichung« der Persönlichkeit einfach ein Diktat. Andere sind in ihrer Terminologie etwas wählerischer und stellen Betrachtungen an über den Puritanismus der Sowjetgesellschaft; sie erklären dabei, daß für einige in der UdSSR »Milde« in bezug auf Moralverhalten geübt wird.
Aber ich bitte Sie, meine Herrschaften! Eine Sau findet schon immer ihren Dreck. Auch bei uns gibt es solche, die im Pfuhl des Sex, des Playboy- und Playgirl-Unwesens sich wohl fühlen würden. Die einen aus Borniertheit, die anderen aus der inneren Leere, die dritten aus Imponiergehabe. Bei solchen Leuten kann es wohl als Modeerscheinung eine Doppelmoral geben.
In der Partei aber werdet Ihr sie vergeblich suchen. Jene, die Abweichungen von den Normen des Parteilebens zulassen, schließt die KPdSU aus ihren Reihen aus. Unter den 347 000 Leuten, die in der Zeit des unlängst vollzogenen Austauschs von Parteibüchern keine neuen bekamen, waren wohl auch solche, die zu verwechseln begannen, ob sie dem Volke oder ob das Volk ihnen dient. Die Partei zeigte ihnen, daß die Mitgliedschaft in der KPdSU kein Privileg, sondern eine Ehre ist, die hoch eingeschätzt werden muß.
Die Mär von den »Auserwählten« in der UdSSR wurde seinerzeit durch die smarten CIA-Boys in Umlauf gesetzt. Dies war in der Zeit des »Kalten Krieges«. Wer jetzt ein solches Gebräu zusammenkocht, entzieht sich meiner Kenntnis -- die Handschrift ist allerdings ähnlich.
Was will man beweisen? Daß es bei uns keine Gleichmacherei gibt? Das wissen doch alle. Daß der Minister mehr Gehalt bekommt als der Geschäftsführer -- das wissen die beiden doch: Sie stehen ja in ein und derselben Gehaltsliste.
Besser wäre es, wenn Herr Smith zusammengestellt hätte, wie die materielle Versorgung eines Sowjetministers und eines -- nein, nicht seines Kollegen im Westen, sondern, sagen wir, eines Inhabers einer mittleren Apotheke im Westen ist. Er hätte ohne Mühe entdecken können, daß unser Staat seinen Minister eher unterbezahlt.
Die Sowjetmenschen meinen nicht, daß bei uns alles in Ordnung, alles vollkommen ist. Die Sowjetmenschen haben sich eine stolze Aufgabe gestellt, deren Lösung im Idealfall störungsfreie Außenwelt sowie optimale Interdependenz zwischen Gesellschaft und Natur voraussetzt. Dies zu erreichen, insbesondere das Menschliche im Menschen freizulegen und zu verwurzeln, ist alles andere als leicht.
Die Tendenz zur Selbstbestätigung auf dem Weg des Vorweisens seiner besten Qualitäten und Eigenschaften in der Gesellschaft -- nicht mit materiellen Attributen des Reichtums an Sachen -- verstärkt sich. Jetzt sind es noch die Keime der Zukunft. Sie charakterisieren aber das Neue, das schon jetzt da ist und das in unserer Lebensweise in Perspektive am wichtigsten sein wird.
In den 50er Jahren war Herr Quaroni italienischer Botschafter in der Bundesrepublik Deutschland. Er erinnerte sich, daß ihn das Schicksal zu Beginn seiner diplomatischen Karriere mit dem damaligen deutschen Botschafter in Moskau, Graf Brockdorff-Rantzau, zusammengeführt hatte. Dieser gestandene Diplomat beantwortete Quaronis Fragen, womit man beim Kennenlernen Sowjet-Rußlands anfangen sollte, mit einem Gleichnis. Der deutsche Diplomat sagte sinngemäß:
Ein Journalist erklärte nach einer Woche Moskau: Ich schreibe ein Buch über Rußland. Nach einem Monat änderte er sein Vorhaben und beschloß, sich mit einem Artikel zu bescheiden. Das Jahr verging, und der Journalist bekannte, daß einiges von der sowjetischen Wirklichkeit für ihn etwas klarer zu scheinen beginne.
Dieser Journalist war mit Sicherheit nicht Smith und nicht Kaiser. Über die beiden kann man mit einem Goethe-Wort sagen: Viele mögen die Wahrheit nicht, weil sie verlieren werden, wenn sie die Wahrheit als eine solche anerkennen.