OSTBLOCK WIE LIQUIDIERT MAN STALIN?
Die Vorsitzende der ungarischen Sozialdemokratischen Partei, Anna Kethly, hatte in Brüssel ein Gespräch mit dem Pariser SPIEGEL-Korrespondenten Lothar Ruehl. Frau Kethly ist vielleicht als einzige unter den politischen Führern des ungarischen Aufstandes heute in Freiheit. Sie ist ihrer politischen Herkunft nach Sozialistin. Für ihre demokratische Überzeugung mußte sie lange Jahre in den Gefängnissen des kommunistischen Ungarn büßen. Als Vorsitzende der am 31. Oktober neu gegründeten Sozialdemokratischen Partei wurde sie auf einer Reise nach Wien von ihrer Heimat abgeschnitten und blieb so im Westen. Sie nutzte ihr unfreiwilliges Exil, indem sie am Sitz der Uno in New York das Schicksal ihrer Landsleute schilderte und vertrat. Als aktive Mit-Führerin des ungarischen Aufstandes erscheint Frau Kethly - und darin liegt das Motiv der nachstehenden Aufzeichnungen - in besonderem Maße kompetent für die Frage, ob es für Ost und West in Osteuropa eine Möglichkeit des friedlichen Ausgleichs gibt. Als Arbeiterführerin betrachtet sie diese Frage, ebenso unübersehbar wie erklärlich, mit einer gewissen Einseitigkeit unter den Aspekten ihrer politischen Überzeugung, zu der nicht nur die Demokratie, sondern auch der Sozialismus gehört.
SPIEGEL: Wie hat der ungarische Volksaufstand begonnen? Ich meine: Was waren die Ursachen, die Triebkräfte? Was war der Anlaß des Ausbruchs?
KETHLY: Es ist nicht wahr, daß reaktionäre, konterrevolutionäre oder faschistische Gruppen ein Komplott gegen die ungarische Volksrepublik vorbereitet hätten oder daß der Volksaufstand sich zu einer antisozialistischen Konterrevolution entwickelt hätte.
SPIEGEL: Darf ich ...
KETHLY: Die Ursache des Aufstandes war in der Tat die vollkommene Trennung von Regime und Volk, von kommunistischer Partei und Arbeiterschaft. Die Wut im Volk wuchs von Tag zu Tag.
SPIEGEL: Man sollte aber doch denken, daß die Regierung, ich meine das Rakosi-Regime, davon hätte etwas merken müssen?
KETHLY: Ja, schon Monate vor dem 23. Oktober warnte ich im Gespräch einen kommunistischen Funktionär vor der Volkswut: »Je länger Sie die Reformen aufschieben, je größer wird die Gefahr einer blutigen Schlächterei.«
SPIEGEL: Und was sagte er dazu?
KETHLY: Er sagte mir, daß sie das Netzwerk des Regimes sehr schwer abbauen könnten, weil ... Es gibt beinahe 200 000 kleinere und wichtigere Funktionäre, AVO-Leute und so weiter, die mit ihrer Existenz an das Regime gebunden sind.
SPIEGEL: Dann war es also eine relativ kleine Funktionärskaste, die das Regime zwar hielt, aber letzten Endes auch an einer elastischen Politik hinderte? War es so?
KETHLY: Nun ja, es war allerdings für die Kommunisten unvermeidlich geworden, den Anspruch auf Alleinherrschaft aufzugeben. Eine kommunistische Vorherrschaft in einem reformierten, sozialistischen Staat war genauso unmöglich. Tatsächlich war das Beste, was die Kommunisten sich noch erhoffen konnten, eine unblutige Verdrängung von der Macht und die Zulassung zur Mitarbeit in einer demokratisch gewählten Regierung, die die sozialistischen Errungenschaften gewährleistet und den sozialistischen Staat erhalten haben würde.
SPIEGEL: Das war aber wohl für die Funktionäre schwer annehmbar.
KETHLY: Doch, es gab manche Kommunisten, vor allem kommunistische Intellektuelle und unter ihnen wieder die Schriftsteller und Dichter in Budapest, die Studenten, aber auch viele kommunistische Arbeiter, die das erkannt und akzeptiert hatten.
SPIEGEL: Immerhin erstaunlich, daß ...
KETHLY: Ja, aber die Parteiführung war nicht dazu bereit.
SPIEGEL: Darf ich noch genauer fragen? Es ist ja wichtig zu wissen, wie so ein Funktionärs-Regime im Innern funktioniert, ob es dort eine Art innerparteilicher Demokratie oder nur Kommandos der Parteiführung gibt. War die Mehrheit der Funktionäre am Vorabend der Revolution für oder gegen Konzessionen?
KETHLY: Das war so: In der kommunistischen Partei war eine sehr ernste Spaltung zwischen den Anhängern der alten Stalinisten und zwischen denen, die eine neue Linie befürworteten, entstanden. Die Reformwilligen gruppierten sich um Imre Nagy und hofften, daß es ihm möglich sein würde, das Land aus der verzweifelten Lage herauszuführen. Dabei war Rakosi im Wege. Aber er war auch den Stalinisten im Wege, denn mit seinem Namen war für das Volk die Schreckensherrschaft unlösbar verbunden.
SPIEGEL: Mit anderen Worten, es gab also bei den Kommunisten eine Abneigung gegen Rakosi aus Opportunismus. Man wollte den populären Nagy gewinnen. In diesem Zusammenhang eine Frage: Wie kam es, daß Nagy kurz nach Ausbruch der Revolution die Sowjets zur Hilfe rief?
KETHLY: Nagy hat die Sowjets niemals zu Hilfe gerufen. Er hatte auch keinen Grund dazu. Er war vom Volk an die Regierung gebracht worden, gegen den Widerstand von Gerö. Schließlich entschied sich selbst die Parteispitze für Nagy und gegen Gerö.
SPIEGEL: Und die Russen?
KETHLY: Auch die Russen waren bereit, mit Nagy zu verhandeln, wenigstens taten sie so.
SPIEGEL: Hatte Nagy wirklich die Mehrheit des Volkes hinter sich oder nur die Mehrheit der Kommunisten? Sie verstehen den Sinn der Frage. Der SPIEGEL-Korrespondent in Budapest hatte damals den Eindruck, daß die ungarische Revolution die nationalkommunistische Position Nagys im Zuge des immer heftiger werdenden Voranschreitens überrollen würde.
KETHLY: Alle Patrioten sahen in Nagy die einzige Chance, das Schlimmste zu verhüten, und alle Demokraten wußten, daß sie ihn gegen die Gerö-Clique stützen mußten, um ihm dabei zu helfen.
SPIEGEL: Sie - ich meine: die Demokraten - stützten also Nagy, indem sie Forderungen stellten, die aus der kommunistischen Partei nicht zu erwarten waren, die aber auf ihn einwirkten, seine Regierung so lange umzuformen, bis sie eine nationale und demokratische Regierung geworden war?
KETHLY: Ja, das konnte nur in einzelnen Schritten erreicht werden und jeder Schritt mußte unter dem Druck der nationalen demokratischen Revolution stehen. Das Volk hatte Nagy an die Regierung gebracht, das Volk allein konnte Nagy an der Regierung halten, das Volk ...
SPIEGEL: Verzeihung, daß ich Sie unterbreche. Um es ganz klar zu haben: Es gab also eine Art von Zusammenspiel zwischen Nagy und den Aufständischen.
KETHLY: Ja, das Volk allein konnte ihm Macht und gegenüber den Russen Verhandlungsgewicht schaffen.
SPIEGEL: Und zu diesem Zweck leisteten die Revolutionäre den Russen Widerstand und forderten ihren Abzug und immer neue Zugeständnisse von Nagy?
KETHLY: Ja, das war der Grund für die Haltung der Aufständischen in Budapest, die ja in ihrer Mehrheit Sozialisten waren. Der Widerstand des Volkes war unsere einzige Kraft. Das Volk mußte auf der Straße, auf den Barrikaden die Position der Regierung sichern.
SPIEGEL: Was dann freilich von der Regierung und den Revolutionsräten schwer zu kontrollieren war, nicht wahr?
KETHLY: Das ist nun einmal so. Die Stärke der Revolution war ihr spontaner und populärer Charakter. Ein organisierter Putsch war ja nicht möglich gewesen. Aber trotzdem war die Revolution diszipliniert, im großen und ganzen. Nur auf halbem Wege konnte sie nicht stehenbleiben. Das Volk wollte seine innere Freiheit und die Unabhängigkeit des Landes. Daran war nichts zu rütteln und nichts einzusparen.
SPIEGEL: Aber hatten Bürgertum und Bauernschaft nicht eine andere Vorstellung von Freiheit als etwa die Sozialisten?
KETHLY: Alle unterstützten die Revolution.
SPIEGEL: Unterstützten auch alle den Kommunisten Imre Nagy?
KETHLY: Die Mehrheit jedenfalls. Die Leute wollten Land, Brot und Freiheit. Das hatte Nagy versprochen. Dafür war er schon früher eingetreten. Das wollten auch die sozialistischen Arbeiter. Das, was man vielleicht »bürgerlich« nennen kann, war mit den Arbeitern, und auch die Bauern waren mit den Arbeitern.
SPIEGEL: Zeichneten sich bei den Bürgerlichen und den Bauern Führungskräfte ab? Traten sie hervor? Was forderten sie?
KETHLY: Die neuen Parteien, die sich wiederformten, auch die nicht-sozialistischen Parteien und Gruppen waren einig, die sozialistischen Errungenschaften von 1945 oder besser von 1947 anzuerkennen und zu gewährleisten.
SPIEGEL: Nur für den Augenblick, um erst mal anzufangen oder auch ohne Rücksicht auf den Ausgang freier Wahlen, die Nagy versprochen hatte?
KETHLY: Die Kommunisten wären in freien Wahlen ohne Zweifel von der Macht verdrängt worden und zu einer Minderheitspartei geworden. Das war allen klar. Aber die Sozialdemokraten waren da und die Partei der kleinen Landwirte, die die Mehrheitspartei gewesen war. Diese Parteien hatten sich eindeutig auf den sozialistischen Staat festgelegt. Die anderen Parteien, die Bauernpartei und die demokratischen und liberalen Gruppen, hatten sich ebenfalls für die Erhaltung der sozialistischen Errungenschaften erklärt, denn ...
SPIEGEL: Aber, entschuldigen Sie, aber...
KETHLY: Hören Sie: Allen war klar, daß die Bauern, die nach dem Krieg das Land der Großgrundbesitzer erhalten hatten, nur das Ende der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft wollten, nicht aber die Rückkehr der enteigneten Großgrundbesitzer. Der Fürst Esterhazy zum Beispiel, der jetzt nach seiner Freilassung auf seinen Gütern lebt, hatte den Bauern seiner ehemaligen ungarischen Ländereien Hilfssendungen geschickt. Trotz Not und Hunger haben die Bauern das zurückgeschickt und gegen die Einmischung des alten Grundherrn protestiert. Von ihm wollen sie nichts mehr. Dasselbe gilt für die Arbeiter gegenüber den enteigneten Fabrikbesitzern. Die Arbeiterschaft will eine gerechte sozialistische Ordnung in Freiheit und mit Demokratie, aber nicht die Rückkehr der Fabrikanten und Bankiers und der ausländischen Kapitalisten.
SPIEGEL: Da sahen Sie also keine ernsthafte Gegenbewegung gegen den sozialistischen Staat?
KETHLY: Niemals. Die Reaktion hat in Ungarn keine Chance, und selbst die bürgerlichen Parteien, die für das Privateigentum und den freien Handel eintreten, respektieren den sozialen Frieden und die sozialen Errungenschaften.
SPIEGEL: Was sind diese, wie Sie sagen, sozialen Errungenschaften außer der Enteignung des Großgrundbesitzes und der Fabriken?
KETHLY: Die Verstaatlichung der Fabriken, der Banken und der großen Transportdienste; die Eisenbahnen waren schon vor dem Kriege staatlich. Ja, und die Energieversorgung und natürlich alle Bodenschätze.
SPIEGEL: Wie stand denn der Kardinal Mindszenty dazu? Er wollte doch eine christlich-demokratische Partei gründen?
KETHLY: Der Kardinal wollte die christlich-demokratische Partei wiedergründen, die schon nach dem Kriege bestanden hatte, und diese Partei hatte wie die anderen nicht-sozialistischen Parteien die Verstaatlichung und die Landverteilung und die übrigen sozialen Errungenschaften anerkannt. Und das würde sie wie alle anderen auch wieder tun.
SPIEGEL: Welche Rolle spielte der Kardinal überhaupt während der Revolution?
KETHLY: Er war unfähig, an der Vorbereitung der Befreiung Ungarns und der Aufrichtung der Demokratie teilzunehmen - und aus gutem Grund: Er war von der Außenwelt abgeschlossen gewesen und konnte die politische Lage nicht korrekt beurteilen.
SPIEGEL: Hat ihn diese Unfähigkeit nicht zu ernsten Irrtümern verführt?
KETHLY: Er unterstützte die Revolution und er hat nie vorgehabt, ihr einen reaktionären Charakter zu geben. Er wollte Horthy und die Kapitalisten nicht zurückbringen. Er war loyal.
SPIEGEL: Hat er die Regierung Nagy unterstützt?
KETHLY: Als er vor amerikanischen Journalisten in der US-Gesandtschaft sprach, hat er ausdrücklich erklärt, daß er die Regierung Nagy unterstütze.
SPIEGEL: Das war aber doch, nachdem die Regierung Nagy schon am Ende war. Fand dieses Interview in der amerikanischen Gesandtschaft nicht erst statt als die Russen wieder in Budapest einrückten?
KETHLY: Ja, aber er hat nie gegen die demokratische Regierung Stellung genommen.
SPIEGEL: Kam die Unterstützung nicht zu spät, um der Regierung Nagy noch Autorität zu verschaffen?
KETHLY: Dazu kann ich nichts sagen. Ich war schon nicht mehr in Ungarn. Angeblich hat zwischen Nagy und Mindszenty eine Unterredung stattgefunden, aber ich kann das jetzt nicht genau feststellen.
SPIEGEL: Spiegelte das Zögern Mindszentys sich nicht in der Haltung der Aufständischen wider? Warum legten sie vor dem 31. Oktober trotz der Appelle Nagys die Waffen nicht nieder?
KETHLY: Sie wollten und konnten die Waffen nicht niederlegen, solange sie nicht die Gewißheit hatten, daß die Russen abzögen und ein stalinistischer Konterschlag unmöglich war.
SPIEGEL: Das war dann ja auch die Haltung der Sozialdemokraten. Wann traten Sie und Ihre Parteigenossen in die Regierung Nagy ein?
KETHLY: Am 31. Oktober, als alle unsere Forderungen erfüllt waren.
SPIEGEL: Und die waren gewesen?
KETHLY: Abzug der russischen Truppen aus Ungarn - der, wie es schien, im Gang war. Aufhebung des Ausnahmezustandes und des Belagerungsrechtes - was geschehen war. Verbindliche Zusage freier gleicher geheimer Wahlen - die gegeben war. Wiederzulassung der Sozialdemokratischen Partei - was genehmigt war.
SPIEGEL: Wie kam es dann, daß Nagy, als die Verhandlungen mit den Sowjets über die Räumung Ungarns durch ihre Truppen noch im Gange war, den Warschauer Pakt kündigte, die Neutralität Ungarns verkündete und das Land unter den Schutz der Vereinten Nationen stellte?
KETHLY: Das war eine Forderung des ganzen Volkes und auch ein Wunsch Nagys. Es war auch eine Forderung der Sozialdemokraten.
SPIEGEL: Stellten Sie diese Forderung als Bedingung für Ihren Eintritt in die Regierung?
KETHLY: Ja, das haben wir getan.
SPIEGEL: Glaubten Sie an die Erfüllbarkeit dieser Bedingung, das heißt, nahmen Sie an, daß die Russen das hinnehmen würden?
KETHLY: Wir glaubten an die Ehrlichkeit der russischen Versprechungen, daß Ungarn wie jedes andere Land seinen eigenen Weg zum Sozialismus gehen und unabhängig sein dürfe. Wir rechneten nicht mit dem Eingreifen russischer Truppen, um das ungarische Volk erneut zu unterdrücken.
SPIEGEL: Wie stellten Sie sich die Regelung des internationalen Status Ungarns vor?
KETHLY: So wie Österreich, also ohne Bündnis, aber mit Garantie der Großmächte.