SPIEGEL: Monsieur Bourdieu, Sie haben den Präsidenten der Deutschen Bundesbank, Hans Tietmeyer, scharf angegriffen. Er erscheint Ihnen als die Galionsfigur des antisozialen Neoliberalismus. Wollten Sie Bonn und seinen Europaplänen den ideologischen Krieg erklären?
Bourdieu: Nein, ich habe Herrn Tietmeyer nicht als Deutschen attackiert, sondern als Bankier, als dogmatischen Bankier überdies. Meine Polemik, die auch ironische Züge hatte, war nicht Ausdruck eines nationalen französischen Widerstands gegen Deutschland. Ich halte es vielmehr für dringend geboten, einen europäischen Staat zu errichten, der sich gegen die Zwangsvorstellungen und die Machtansprüche einer Zentralbank zur Wehr setzen kann.
SPIEGEL: Die Franzosen sprechen der Bundesbank wohl eine Autorität zu, wie sie früher der preußische Generalstab hatte.
Bourdieu: Es heißt, Preußen sei ein Staat gewesen, den sich das Militär aufgebaut hat. Man hat aber noch nie einen Staat rund um eine Bank aufgebaut. Für mich ist es ein außerordentlich schlechtes Zeichen, daß die geplante Europäische Union mit der Währungsunion - also mit einer Zentralbank als Grundstein - beginnen soll. Indem ich mich mit Tietmeyer anlegte, wollte ich eine europäische Debatte hierüber auslösen.
SPIEGEL: Hat er Ihnen geantwortet?
Bourdieu: Nein, Helmut Schmidt hat, wie Sie wissen, einen Aufsatz in der Zeit geschrieben ...
SPIEGEL: ... und Tietmeyers monomanische Deflationspolitik angeprangert.
Bourdieu: Das hat mich mit großer Genugtuung erfüllt. Helmut Schmidt hat sehr präzise Argumente angeführt.
SPIEGEL: Ein eher linker französischer Soziologe und ein eher rechter deutscher Sozialdemokrat - ist das nicht eine seltsame Allianz?
Bourdieu: Die Wahrheit kennt keine Heimat und keine Partei. Es gibt gegenwärtig so etwas wie eine kollektive Blindheit. Alles, was die Währung, die Weltbank, den Internationalen Währungsfonds oder die Deutsche Bundesbank umgibt, ist zu einem fast schon religiösen Phänomen geworden. Die Losungen, die so frenetisch ausgegeben werden - Globalisierung, Flexibilität: Man weiß doch gar nicht, was das bedeutet; es sind nur vage, unscharfe Begriffe in Umlauf, wie bei einem religiösen Bekenntnis.
SPIEGEL: Diese angebliche Religion ist aber nicht rein deutsch.
Bourdieu: Sie hat überall auf der Welt Anhänger, auch in Frankreich, wo Jean-Claude Trichet, der Chef der Banque de France, als ihr Herold auftritt, ein Mann, der zu allem Überfluß auch noch dichterische Ambitionen hegt. Aber man muß schon sagen, daß Herr Tietmeyer in gewisser Weise der Hohepriester ist.
SPIEGEL: Überhöhen Sie seine Bedeutung nicht gewaltig?
Bourdieu: Nein. Wichtig erscheint mir seine dogmatische und rituelle Sprache. Das Schlimme an diesen Glaubenssätzen ist, daß sie wie selbstverständliche Wahrheiten verkündet werden. Niemand wundert sich, niemand stellt Fragen, alles erscheint offensichtlich. Die meisten, die diese religiöse Litanei nachbeten, haben von Wirtschaftstheorie keine Ahnung. Der Neoliberalismus ist heute das, was für die Theologen des Mittelalters die »communis doctorum opinio« war, die gemeinsame Überzeugung der Gelehrten.
SPIEGEL: Ein Lehrgebäude, das im Gewand der Wissenschaft daherkommt - glauben Sie demnach an eine ideologische Verirrung?
Bourdieu: Genau, wir haben es mit einem konservativen Dogmatismus zu tun, der sich zu Unrecht auf wissenschaftliche Autorität stützt.
SPIEGEL: Ist es nicht einfach so, daß die Bundesbank derzeit zum Sündenbock für alle möglichen wirtschaftlichen Gebrechen Frankreichs gemacht wird?
Bourdieu: Keineswegs. Ich wundere mich, wie wenig deutschfeindlich die Franzosen sind. Sicher, Herr Tietmeyer, der überall redet und überall auftritt, verkörpert die beträchtliche Macht der Bundesbank. Sein Ungeschick und seine unbestreitbare Brutalität können einen zur Verzweiflung treiben. Aber das Ziel des Widerstands ist der Neoliberalismus.
SPIEGEL: Was ist denn so falsch daran, mit einer Währungsunion zu beginnen?
Bourdieu: Das ist ein sehr eindimensionales Unterfangen. Warum redet niemand über die Vereinheitlichung des europäischen Sozialrechts? Es käme darauf an, eine rechtsstaatliche Macht in Europa zu schaffen, welche die Wirtschaft mit juristischen Regeln in den Dienst bestimmter Zwecke stellen könnte. Das Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern müßte neu geordnet werden. Vor allem müßte man das soziale Dumping, das Arbeitslosigkeit erzeugt, kontrollieren. Es käme ebenso darauf an, einen europäischen Wachstums- und Beschäftigungspakt zu schließen.
SPIEGEL: Ist das alles derzeit nicht ziemlich unrealistisch?
Bourdieu: Man darf sich keinem geistigen Terrorismus beugen. In Tietmeyers Denken sehe ich eine Analogie zu Maos kleinem roten Buch: Ideen als Waffe. Mao vertrat ein autoritäres Gedankengebäude, mit dem er seinem Volk jede Absurdität abverlangen konnte, etwa den Großen Sprung nach vorn. Tietmeyer verkündet einen ähnlichen Glaubenstypus, gegründet auf den ökonomischen Fatalismus. Die berüchtigten »Finanzmärkte« wollen uns ihre Macht als schicksalhaft aufdrängen. Die ökonomistische Sicht der Dinge tötet jede Utopie: Es scheint nichts anderes möglich, als sich zu fügen.
SPIEGEL: Aber es droht doch wirklich keine Wirtschaftsdiktatur, nur weil die Europäische Zentralbank unabhängig von politischer Einflußnahme sein soll.
Bourdieu: Tietmeyers Philosophie besteht darin zu sagen: Gegen die Finanzmärkte ist kein Kraut gewachsen, jeder Widerstand ist zwecklos. Und diese Leute erdreisten sich, von Freiheit, von Liberalismus zu sprechen, als wären Freiheit und Laisser-faire dasselbe. Der Neoliberalismus propagiert ein schlichtes Gewährenlassen wirtschaftlicher Kräfte - mithin Fatalismus.
SPIEGEL: Sie dagegen verlangen eine Rückkehr zum staatlichen Dirigismus.
Bourdieu: Eine europäische Bank ist sinnvoll als Instrument eines europäischen Staats, der, wie jeder Staat, natürlich ökonomischen Zwängen unterliegt, aber innerhalb dieser Beschränkungen politische und wirtschaftliche Ziele verfolgt: das Glück, die Gleichheit, die Freiheit, das Recht seiner Bürger auf Arbeit. Eine Bank, die demgegenüber die ungeteilte Herrschaft des Marktes durchsetzen will, ist eine öffentliche Gefahr.
SPIEGEL: Nur daß die Macht der Finanzmärkte eine Realität ist, die Sie nicht ignorieren können.
Bourdieu: Ja, dagegen müssen wir staatliche Strukturen auf europäischer Ebene entwickeln. Die Globalisierung der Finanzmärkte, die Kapital vermehren, ohne industrielle Investitionen zu tätigen, hat eine neue, ungeheure Macht geschaffen, die sich gegen die Regierungen der Nationalstaaten durchsetzen kann.
SPIEGEL: Was können die Staaten tun, wenn ihr Handlungsspielraum ohnehin schon durch enorme Haushaltsdefizite und eine steigende Verschuldung eingeengt ist?
Bourdieu: Sie zwingen mich, über meine Kompetenzen als Soziologe hinauszugehen. Ich tue es, weil das Schweigen der Intellektuellen mich erschreckt. Auf Ihren Einwand könnte man erwidern, daß die Deregulierung der Finanzmärkte zu einer gewaltigen Steuerflucht geführt hat, über die nie gesprochen wird. Deshalb meine Gegenfrage: Wie hoch ist der Anteil an den Haushaltsdefiziten, der von der Steuervermeidung herrührt, die möglich geworden ist, weil die Finanzmärkte staatlicher Kontrolle entglitten sind?
SPIEGEL: Mag sein, aber warum sagen Sie nichts über die Ausgaben? Der Sozialstaat ist überall zu teuer geworden.
Bourdieu: Nun reden Sie wie Tietmeyer.
SPIEGEL: Sie glauben nicht daran?
Bourdieu: Nein. Sehen Sie sich an, wie gerechnet wird. Die Ökonomen stellen fehlerhafte Bilanzen auf: Sie vergessen systematisch die wirtschaftlichen und sozialen Kosten, die ihre Sparmaßnahmen bewirken, zum Beispiel die Ausgaben, die nötig werden, um die Folgen von Arbeitslosigkeit und Elend zu bekämpfen. Dazu gehören natürlich auch Ausgaben im Gesundheitswesen.
SPIEGEL: Welche Kosten sonst noch?
Bourdieu: Nehmen Sie die Gewalt. Die kostet sehr viel. Wie die Energie verliert sich die Gewalt nie, sie ändert nur ihre Erscheinung. Arbeitslosigkeit, Armut, Obdachlosigkeit sind Formen der Gewalt, und diese wirtschaftliche Gewalt kehrt in anderer Form und an anderem Ort wieder - auch als Gewalt der Menschen gegen sich selbst, Kriminalität, Alkohol, Drogen ...
SPIEGEL: ... Probleme, die es immer gegeben hat. Sie können doch dem Neoliberalismus nicht alle Übel anlasten.
Bourdieu: Ihnen mag es vorkommen, als würde ich maßlos überzeichnen, weil der Neoliberalismus die Köpfe so durchdrungen hat, daß normales Denken paradox anmutet. Ich sage Ihnen: Wir erleben derzeit eine konservative Revolution, die den wilden, ursprünglichen Kapitalismus in neuem Gewand wiederaufleben lassen will.
SPIEGEL: Das würde Tietmeyer entschieden bestreiten, er würde sagen, daß Sie Gespenster an die Wand malen.
Bourdieu: O ja, das Eigentümliche an dieser Revolution sind die weichen, leisen Pfoten, auf denen sie sich bewegt, sie tut so, als wäre sie unpolitisch. Herr Tietmeyer denkt nicht eine Minute daran, daß er Politik macht; dabei ist alles, was er sagt, Politik von A bis Z. Die Logik daraus ist, daß die Armen nur bekommen, was sie verdienen, sie können krepieren. SPIEGEL: Wenn er das sagte, wäre er keinen Tag länger im Amt.
Bourdieu: Entziffern Sie doch seine Rhetorik! Es wäre ja auch zu schön, wenn er derlei offen sagte. Er unterstreicht nur, daß die Finanzmärkte alles beherrschen, daß sie Flexibilität und Deregulierung brauchen. Im Klartext: mehr Entlassungen, weniger Sozialstaat. Paradoxerweise redet Tietmeyer wie jene Austromarxisten, die um die Jahrhundertwende die Ära des Finanzkapitalismus verkündeten.
SPIEGEL: Die Macht der Banken ist auch eine Folge der Schwäche des Staats, der nun einmal vor den ökonomischen und sozialen Problemen versagt hat.
Bourdieu: Ja, aber deswegen in Staatspessimismus zu verfallen wäre verfehlt. Versagt haben die Staatsdiener. Insbesondere der französische Staatsadel hat sich als autoritär, starrsinnig und hochmütig erwiesen, als hätte er die Wissenschaft gepachtet. Aber ich kann mir einen europäischen Staat vorstellen, der feinsinniger, aufgeklärter, hegelianischer wäre ...
SPIEGEL: ... der Staat als Sachwalter des Weltgeistes. Sie erliegen den Verlockungen des Deutschen Idealismus.
Bourdieu: Ach wissen Sie, wer von Trauer erfüllt ist, wird leicht utopisch. Schon Max Weber hat die Professoren verurteilt, die sich als kleine, vom Staat ausgehaltene Propheten aufspielen. Doch im Ernst: Das Interessanteste am Aufbau Europas ist das am wenigsten Sichtbare - die Arbeit all dieser Beamten und Juristen in Brüssel, die Tag für Tag kleine Regeln entwerfen, um Europa zu vereinheitlichen und damit zu stärken.
SPIEGEL: Gerade die Brüsseler Bürokratie ist zum Symbol einer gesichts- und herzlosen Technokratenkaste geworden.
Bourdieu: Sie ist der falsche Gegner, die Brüsseler Technokraten sind Verbündete, die man bei aller Kontrolle ermutigen sollte. Sie können dem europäischen Staat die Mittel geben, mit denen er sich gegen den Ansturm des ungezähmten Neoliberalismus verteidigen kann.
SPIEGEL: Eine schöne Hoffnung. Selbst Schweden, der soziale Modellstaat in Europa, hat das nicht geschafft.
Bourdieu: Ja, die schwedischen Sozialdemokraten haben den Sozialstaat teilweise zerstört, so wie die französischen Sozialisten eine Entwicklung in Gang gesetzt haben, die uns dem Ende des Sozialstaats hierzulande näherbringt. François Mitterrand war der große Totengräber des Sozialismus, in dessen Namen er regierte.
SPIEGEL: Und Sie glauben, daß sich gegen die konservative Revolution so etwas wie eine progressive Gegenrevolution organisieren ließe?
Bourdieu: Das ist die große Frage. Man muß mit einer Revolution in den Köpfen beginnen. Deshalb fühle ich mich verpflichtet, etwas heftig und radikal zu argumentieren, sonst hört niemand hin. Tietmeyers Ideologie sitzt in allen Gehirnen, auch in denen der Journalisten, rechten wie linken.
SPIEGEL: Wo sind die Gegenkräfte? Die Sozialdemokraten haben den Sozialstaat preisgegeben, wie Sie sagen, die Macht der Gewerkschaften bröckelt ...
Bourdieu: ... auf Dauer wird Tietmeyer selbst die Gegenkräfte erzeugen. Menschen wie er, angefangen bei Margaret Thatcher und Ronald Reagan, führen durch ihre rabiate Politik Krisen solchen Ausmaßes herbei, daß das soziale Europa zur Notwendigkeit werden wird. Nehmen Sie den Streik der Lastwagenfahrer ...
SPIEGEL: ... eine Mehrheit der Franzosen bekundete ihnen Sympathie.
Bourdieu: Die Lastwagenfahrer werden auf eine unerhörte Weise ausgebeutet, sie arbeiten manchmal über 60 Stunden pro Woche, ihre Unfallquote ist außerordentlich hoch. Warum? Weil die Deregulierung, für die Herr Tietmeyer eintritt, die kleinen Unternehmen zwingt, das letzte herauszuholen. Was als Rationalisierung daherkommt, ist der Triumph eines ungebremsten, zynischen Kapitalismus. Man ist dabei, die europäische Staatszivilisation, die mehrere Jahrhunderte gebraucht hat, um sich zu entwickeln, zu zerstören - und das im Namen des dümmsten Gesetzes der Welt, nämlich der Gewinnmaximierung.
SPIEGEL: Rufen Sie zu einem neuen Klassenkampf auf, Arbeit gegen Kapital?
Bourdieu: Die ideologischen Kräfte sind sehr wichtig. Der Zusammenbruch dieser Karikatur des Sozialismus, die in den osteuropäischen Staaten herrschte, hat jede Opposition ausgelöscht. Die Menschen haben den Eindruck, daß es jenseits des Horizonts nichts gibt, daß die Geschichte ihr Ende erreicht hat. Diese Lähmung ist verhängnisvoll.
SPIEGEL: Was wären die Folgen dieser Zerstörung der europäischen Zivilisation?
Bourdieu: Zunächst eine allgemeine Gefährdung, das Gefühl, daß immer weniger Menschen sichere Berufe haben, und die Demoralisierung, die daraus folgt. Ich denke vor allem an die Selbstzensur, die in alle intellektuellen Tätigkeiten Einzug hält. Darüber hinaus treibt mich eine Sorge um: Ich glaube, daß die neonationalistische Bewegung in Frankreich nicht ohne Zusammenhang mit dieser Entwicklung ist. Und auch die Gefahr des Fundamentalismus in der Welt hat damit zu tun.
SPIEGEL: Le Pen wird wohl nie die Mehrheit in Frankreich gewinnen.
Bourdieu: Le Pens Front national kann im sozialen Organismus wuchern wie ein Krebs. Le Pen hat in gewisser Weise schon gesiegt. Seine Sicht der Welt liegt wie eine dunkle Wolke über dem Land. Bei der Einwanderung und in vielen anderen Fragen hat die Linke bereits nachgegeben.
SPIEGEL: Sie fürchten aber nicht, daß eine faschistische Revolution bevorsteht?
Bourdieu: Ich sagte vorhin etwas launig, daß Herr Tietmeyer selbst die Kräfte der Subversion schaffen wird. Nun, diese Kräfte können sich in jede Richtung entwickeln, sie müssen nicht fortschrittlich sein, sie können auch nihilistisch sein. In den USA geht der Verfall des fürsorglichen Staats - einen wirklichen Wohlfahrtsstaat gab es dort ja nie - mit dem Entstehen eines Polizeistaats einher. Kalifornien wendet seit zwei Jahren mehr für Gefängnisse auf als für das Bildungswesen. Das gibt zu denken.
SPIEGEL: Es gibt auch Licht im amerikanischen Modell - zum Beispiel die Schaffung von über zehn Millionen neuen Arbeitsplätzen.
Bourdieu: Waren Sie mal im Ghetto von Chicago? Ich schon. Es ist einer der barbarischsten Orte der Menschheit. Außer den Konzentrationslagern gibt es zweifellos nichts Schlimmeres.
SPIEGEL: Wenn Sie die Zustände in den Vororten der großen französischen Städte untersuchen, sehen Sie da denn noch viele Unterschiede zu Chicago?
Bourdieu: O ja, bei uns hat der Staat noch nicht völlig abgedankt.
SPIEGEL: Verbrechen, Jugendarbeitslosigkeit, Rassismus, alle Elemente sind vorhanden.
Bourdieu: In den USA werden jeden Tag sieben Kinder ermordet. Ich stehe wirklich nicht im Verdacht, mich aus nationalistischen Gründen zum Komplizen des französischen Elends zu machen. Aber in unseren Vorstädten funktionieren die Schulen, die Lehrer und die Sozialarbeiter noch; sie haben ein schweres Leben, aber der Verfall ist nicht total. Unglücklicherweise, wenn man den Premierminister Alain Juppé noch fünf Jahre gewähren läßt, könnten wir Chicago oder Harlem auch hier bekommen.
SPIEGEL: Der große europäische Sozialstaat, den Sie ersehnen, wäre kein geschlossener Handelsstaat, keine Insel der Seligen. Müßte er nicht Zuflucht in einem rigiden Protektionismus suchen, um an seinen sozialen Errungenschaften gegen die Konkurrenz aus Amerika und Asien festhalten zu können?
Bourdieu: Ich sage darauf weder ja noch nein. Aber die Frage muß gestellt werden, und wir brauchen die Mittel, um die Mythologien, die herumwabern, durch gesicherte Erkenntnisse zu ersetzen.
SPIEGEL: Sie weichen aus.
Bourdieu: Eines der vielen Hindernisse für die harmonische Entwicklung eines europäischen Bundesstaats ist die zwiespältige Haltung der USA. Amerika wünschte ein autonomes Europa, jetzt beobachtet es die Europäische Union voller Mißtrauen. Die USA sind durchaus protektionistisch, manchmal versteckt, manchmal offen und brutal. Diese großen Propheten des Liberalismus, der Deregulierung, der absoluten Freiheit sind immer bereit, die Keule des Handelsembargos zu schwingen. Eine Aufgabe des europäischen Staats bestünde darin, stark genug zu werden, um dem Druck der Finanzmärkte zu widerstehen, die oft nur Wünsche der USA widerspiegeln.
SPIEGEL: Die Linke hat bislang kein Rezept gegen den Neoliberalismus gefunden. Ist der Sozialismus in Europa tot?
Bourdieu: Das hängt davon ab, ob man den realen oder den idealen Sozialismus meint. Der real existierende Sozialismus Osteuropas ist Gott sei Dank mausetot. Die schwedische und die deutsche Sozialdemokratie haben bleierne Füße. Der französische Sozialismus ist meiner Meinung nach dahingeschieden. Wir brauchen eine neue Sicht der Welt, eine kollektive Vision jenseits traditioneller Vorstellungen. Eine echte Demokratie ist nicht möglich ohne ein Minimum an wirtschaftlicher Demokratie.
SPIEGEL: Frankreich, dieses alte Land der Menschenrechte und der republikanischen Gleichheit, scheint derzeit die Speerspitze des Widerstands gegen die Politik des Sparens und der Notopfer zu bilden. Zufall oder historische Mission?
Bourdieu: Aus historischen Gründen hat Frankreich eine besondere Position inne. Dieses Land ist ein Spezialist der Revo- lution. Aber ich sehe, daß überall Bewegung entsteht. Die Menschen ertragen es nicht mehr. In Spanien steuert der Öffentliche Dienst auf einen riesigen Konflikt zu. Selbst in Deutschland wächst die Bereitschaft zu streiken. Im Augenblick erleben wir eine Wende. Es könnte sein, daß die Globalisierung des wirtschaftlichen Drucks eine Internationalisierung des Widerstands fördert.
SPIEGEL: Monsieur Bourdieu, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
* Mit Redakteuren Dieter Wild und Romain Leick im Collège deFrance in Paris.