Wie Onkel Gregor sterben wird
Auf der Säckinger Höhe, 20 km von Zweibrücken in der Pfalz, pflegt es zuweilen unheimlich zuzugehen. Einsamen Wanderern kann es passieren, daß sie auf dem Weg dunklen Gestalten begegnen. Die Einsamen nehmen dann wohl ihre Tabakspfeife wie einen Revolver in die Hand, und die dunklen Gestalten springen davor rechts und links in den Graben. Das sind dann Leute aus dem »Räuberdorf« Neumühle, das eine gute Stunde Wegs entfernt liegt.
Früher befleißigten sich die Leute aus dem abgelegenen, an einem kahlen Abhang klebenden Dorf im Speckbachtal Fremden gegenüber der erlesensten Höflichkeit. Aber seit in Zweibrücken 32 Neumühlener Mitbürger, zu dreien aneinandergefesselt, wegen Mordes, Mordversuchs, schweren Raubes und schweren und leichten Diebstahls in 126 Fällen auf der Anklagebank des Landgerichts im Kulturhaus sitzen, ist mit dem Zeremoniell der Höflichkeit auch nichts mehr zu retten.
Ein Staatsanwalt, neun Rechtsanwälte, pro Mann ein schußbereiter Polizist, etliche hundert Zuschauer und dazu die ganze Pfälzer Bevölkerung werden von den Gefesselten in Bewegung gehalten. »Achtung, Köppe weg« rufen die, wenn im Saal eine Kamera klickt. Als der Südwestfunk mit dem Mikrophon erschien, kostete es einige Mühe, sie zum Sprechen zu bringen. Frech, bald sich selbst beklagend, bald mit den Fäusten drohend, düstere, undurchsichtige Gestalten, die plötzlich wie ein Mann zusammenstehen und sich an nichts mehr erinnern können.
Mit 53 schweren Diebstählen, 3 Mordversuchen, 3 Vergehen gegen den Paragraphen über schweren Raub und 6 Diebstahlsversuchen hält der kleine 23jährige Engelbert Fleckinger den Rekord. Der ebenso alte Oswald Lehmann muß beweisen, daß er mit 2 Morden, 3 Mordversuchen, 26 vollendeten und 8 versuchten Diebstählen nichts zu tun hat.
Auf Richard Dehauts Konto stehen 2 Morde. 2 Mordversuche, 10 schwere Diebstähle und 8 schwere Einbruchsversuche. Zweimal sitzen Vater und Sohn im Kulturhaus, und Oswald Lehmann hat außer seinem Vater noch seinen Bruder mitgebracht. Mit Karabinern, Revolvern und Maschinenpistolen haben die Angeklagten vom Tage des Einmarsches der Amerikaner ab bis in den Sommer 1947 hinein die halbe Pfalz in Schrecken versetzt. »Ein moderner Schinderhannes« nennt es der Staatsanwalt.
Niemand weiß richtig, wie die Neumühler in die Pfalz gekommen sind. Am Ausgang des 18. Jahrhunderts sollen sich an einer einsamen Mühle ein paar Zigeuner niedergelassen haben. Sie hielten sich von den Bewohnern der Gegend fern, hausten in Höhlen, ernährten sich von gefallenem Vieh, Hunden und Katzen und nahmen nur selten fremdes Blut auf. So entstand die Siedlung Neumühle. Ihre 420 Einwohner, von denen allein 100 Fleckinger heißen, sprechen noch heute untereinander ihre eigene Sprache. »Jänisch«, ein ans Hebräische erinnerndes Zigeunerkauderwelsch.
Fortgesetzte Inzucht garantierte, daß die Kinder nicht aus der Art schlugen. Sie wußten nie, wofür sie zur Kommunion gingen, ihre Eltern wußten es auch nicht. Sie hielten ihre Kinder von der Schule fern und lehrten sie Stehlen und Lügen, nahmen sie mit, wenn sie des Nachts die Kartoffelfelder abernten gingen oder wenn sie in die Stadt fuhren, dort ihre Beeren, Besen und Körbe absetzten und dabei mitnahmen, was sie gerade greifen konnten.
1919 erdolchten die Neumühlener einen Gendarmen. Sieben Jahre später schlug der Gastwirtssohn Nikolaus Allein einen Flekkinger tot. Vier Neumühler wurden in jenem Jahr wegen Mordes zum Tode verurteilt, dann zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigt. Vierzehn andere kamen außerdem ins Zuchthaus.
Eigentlich wäre der ganze Ort unter die »rassische Bereinigung« des Dritten Reichs gefallen. Aber Hitler brauchte Soldaten. Er brauchte auch Arbeiter für den Bau der Siegfried-Linie, die sich an der Neumühle entlangzieht. Die Neumühler waren kräftige Burschen, die sich auch auf den Deutschen Gruß verstanden. »Heil Bürckel« sollen sie gerufen haben, als der Gauleiter einmal durch das Dorf fuhr. So wurden nur die Männer mit allzu zweifelhaften Sprößlingen sterilisiert.
Dann kamen die Amerikaner und später die Franzosen. Die deutsche Polizei war mattgesetzt. Bald mehrten sich die Felddiebstähle in der südwestlichen Pfalz. Den Schäfern verschwanden die Schafe auf dem Feld, in den Ställen fehlten morgens Schweine und Kühe. Die Bauern bildeten Bürgerwehren, holten sich die Luftschutzsirenen aus den Städten, stellten Posten auf und gaben nachts Räuber-Alarm.
Aber sie waren ebenso machtlos wie die später wieder eingerückten Landgendarmen. Die Bande trat schwer bewaffnet auf und hielt sich mit allem, was sich in den Weg stellte, nicht lange auf. Es lag genug Kriegszeug in den verlassenen Bunkern des Westwalls herum.
In der Nacht vor dem Heiligabend 1946 postierten sich fünf Räuber vor der Mittelbrunner Mühle. Mit Gewalt versuchten sie die Mühlentür einzuschlagen. »Was ist denn da schon wieder los«? rief Mühlenbesitzer Göttel - durch den Krach geweckt - aus seinem Schlafzimmerfenster. 13 Schüsse gingen durch das Fenster. Mit einem Herzschuß fiel der Müller tot zu Boden.
»Das sind die Polen«, mutmaßten die Leute. »Sie tragen Masken, Tarnkleider, oft auch polnische Uniformstücke und sprechen eine fremde Sprache«, meldeten die Bauern. 600 Anzeigen kamen mit der Zeit zusammen. In Landstuhl, zehn Kilometer von der Neumühle, war ein polnisches Arbeitercamp; da konnte auch die Polizei nichts machen.
Als eines Tages eine Reihe Neumühler Männer in französische Gefängnisse wanderte, weil bei ihnen Waffen gefunden worden waren, hakte die Kripo Ludwigshafen ein. Die »Sondermordkommission Neumühle« etablierte sich. Wen sie erwischte, dem half kein Leugnen mehr.
Einer verriet schließlich den anderen. Dafür sorgten die Kripo-Obersekretäre Friedmann und Keßler, zwei rheinpfälzische Verhör-Kapazitäten. Sie verteilten die Banditen auf alle Gefängnisse des Landes, damit sie sich nicht verständigen konnten. »Aber als uns in Ludwigshafen einer entwischte«, erzählt Keßler, »wußte das schon am nächsten Tage sein Kumpan im Zweibrückener Gefängnis.«
In der Hauptverhandlung streiten alle ab, was sie in den Einzelvernehmungen zugegeben haben. »Wir hatten damals Angst vor Schläge.« Keßler und Friedmann von der Kripo hatten sie beim ersten Verhör in Ludwigshafen an den Kragen gepackt und mit einem vielsagenden Blick in Richtung des Zimmers gewiesen, in dem die Franzosen wirken. Zu den Franzosen wollte niemand.
Das Gericht glaubt nicht an erpreßte Geständnisse. Es glaubt, daß sich die Neumühler, seit sie beisammensitzen, aus Angst vor späterer Blutrache gegenseitig nicht belasten wollen. Wer es doch tut, wird selbst belastet.
»Du warst ja selbst dabei«, fuhr Willy Fleckinger seinen Onkel Gregor an. Gregor Fleckinger ist seit Jahrzehnten der Vertrauensmann der Polizei. Von 26 bis 36 war er Feldhüter in Neumühle. Die Nationalsozialisten setzten ihn ab. Jetzt ist er Bürgermeister in dem Dorfe, das der Arm des Arbeitsamtes nicht erreicht, weil »die einfachsten Sicherheitsmaßnahmen nicht erfüllt« sind.
Nur unter dem Schutz seiner Anhänger konnte sich Onkel Gregor nachts im Hause Nr. 9 schlafen legen. »Ich wollte Ordnung in die Bande bringen«, erzählt er. Als er nach dem letzten Krieg von den bewaffneten Raubzügen in der Umgebung hörte wollte er zuerst gar nicht glauben, daß es seine eigenen Leute waren. Jetzt ist Gregor Fleckinger Hauptbelastungszeuge. »Diese Verbrecherbande schreckt vor nichts zurück«, sagt er aus. »Gregor wird keines natürlichen Todes sterben«, prophezeit Kommissar Keßler.
Zwei Wochen sollte der Prozeß in Zweibrücken dauern. Jetzt ist die dritte Woche vorüber. Die Verteidiger rechnen schon mit Ende März.