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»Wie schrecklich das schwankt ...«

aus DER SPIEGEL 11/1972

»Die Erwägung der Frage, ob eine Entscheidung richtig sei ...«, klagt der Kanzler, »hat für jeden gewissenhaften und ehrliebenden Menschen etwas Aufreibendes; es wird verstärkt durch die Tatsache, daß lange Zeit vergeht, oft viele Jahre, bevor man in der Politik sich selbst überzeugt, ob das Gewollte und Geschehene das Richtige war oder nicht.«

Wer sagt das: Willy Brandt? Kurt Georg Kiesinger? Ludwig Erhard? Sie könnten es alle drei gesagt haben -- nur der vierte Kanzler im westdeutschen Bunde nicht: Konrad Adenauer. Der hat es auch nicht gesagt. Sondern Otto von Bismarck.

Es gibt in Wahrheit keine »eisernen Kanzler«. Bismarck war sowenig einer wie seine Bonner Nachfahren: der Patriarch, der »Gummilöwe«, der schwäbische Schöngeist -- und nun der Nobelpreisträger mit der gefährdeten Mehrheit, der auch angesichts der Krise noch vom »Ringen um den Konsensus« spricht.

»Die aktive Teilnahme an diesem Ringen um den Konsensus, den gemeinsamen Nenner«, sagte Willy Brandt letzten Dienstag, als er Ehrenbürger seiner Vaterstadt Lübeck wurde, »ist die vornehmste Bürgerpflicht in der Demokratie. Hierbei Wegdeuter zu sein ist die Pflicht eines Ehrenbürgers gerade dann, wenn er zugleich Bundeskanzler ist.«

Noch am nämlichen Abend freilich, zurückgekehrt vom Olymp des Ehrenbürgers ins Haus des Bonner Kanzlers auf dem Venusberg, präsidierte der »Chairman« Brandt, der »Wegdeuter« Willy, einem knallharten Koalitionsgespräch über die verschobene Steuerreform, sah mit an,

wie der sozialdemokratische Minister Schmidt den sozialdemokratischen Minister Schiller verbal in die Flucht schlug -- und schwieg.

Wo »Wegdeutung« allein nicht mehr zum Konsensus führt, da beginnt für Willy Brandt die Krise. Und ein Ende vermag er ihr erst dann zu machen, wenn eine dramatische Zuspitzung (ein Rücktritt zum Beispiel) ihn zum Handeln zwingt.

Das ist in Willy Brandts Werdegang bislang immer nur dann anders gewesen, wenn die dramatische Zuspitzung am Beginn der Krise stand -- also zum Beispiel am 13. August 1961, als die Mauer gebaut wurde. Da war er, weiland Berliner Bürgermeister, sofort voll »da« -- ganz im Gegensatz zum damaligen Bundeskanzler.

Für Konrad Adenauer nämlich war der 13. August 1961 eigentlich gar keine Krise. Die Tatsache, daß der östliche Teil Berlins von den westlichen Sektoren durch eine Mauer abgetrennt wurde, ließ Adenauers Politik der unbedingten West-Integration Bundesdeutschlands im Kern unberührt; der Alte hatte durchaus mit der Möglichkeit einer solchen Absperrung gerechnet.

Das einzige äußere Anzeichen von Unruhe an diesem Sonntagmorgen in Rhöndorf war der Umstand, daß Adenauer etwas früher als sonst angekleidet beim Kaffee saß. Hans Globke, sein Staatssekretär, hatte ihn schon vor sechs Uhr angerufen und referiert, daß Ost-Berlin seit Mitternacht mit Stacheldraht dicht gemacht werde.

Natürlich dachte er daran, sofort nach Berlin zu fliegen, schon des Bundestags-Wahlkampfes wegen, der hellauf loderte. Aber seine beherrschende Überlegung war: Nur jetzt keine falsche Bewegung -- sonst wird am Ende noch geschossen. Die beiden Vertrauten, mit denen er sich in den folgenden Stunden ohne Hast beriet, Hans Globke und der CDU-Fraktionschef Heinrich Krone, bestärkten ihn in solcher Zurückhaltung, besonders Krone. Adenauer blieb in Rhöndorf. Tags darauf, am Montag, dem 14. August, startete er wie geplant in den Wahlkampf nach Regensburg und apostrophierte dort in einer Rede den SPD-Spitzenkandidaten und Regierenden Bürgermeister von Berlin als den Herrn »Brandt alias Frahm«.

Hingegen der 30. August 1954, ein heute vergleichsweise belangloses Datum, der Tag, an dem die französische Nationalversammlung das Projekt einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) zum Scheitern brachte -- das war Konrad Adenauers schwerste Krise. Denn die EVG war damals, als er sich noch nicht so recht mit dem Gedanken befreundet hatte, daß auch »in Nato« ein guter Platz für die Westdeutschen zu finden sei, der Stützpfeiler aller Adenauerschen Politik.

Der Alte machte Urlaub auf Bühlerhöhe, während das Schicksal der EVG sich erfüllte. Aber der Urlaub wurde zum Martyrium. »Es waren qualvolle Tage«, schreibt er in seinen Memoiren. Und zu Anneliese Poppinga, der getreuen Sekretärin, hat er später gesagt, dies sei »seine bitterste Stunde gewesen«. Es war die Stunde der Anfechtung.

Konrad Adenauer ging um mit der Absicht zurückzutreten. Staatssekretär Hallstein, Botschafter Blankenhorn und der Pressechef Felix von Eckardt, die auf die Bühlerhöhe gekommen waren, fanden den Alten in abgründiger Stimmung. Nun habe es wohl keinen Sinn mehr weiterzumachen, sagte er zu wiederholten Malen.

Aber viel länger als eine bittere Stunde kann diese Resignation nicht gewährt haben. Während in Bonn pro forma das Kabinett unter Vizekanzler Blücher zusammentrat, raste Felix von Eckardt bereits in halsbrecherischer Autofahrt vom Schwarzwald an den Rhein, um daheim Adenauers persönliche Botschaft zu verkünden, die Lage sei »äußerst ernst«. Und das hat für den Alten noch immer bedeutet, daß er dringender gebraucht werde denn je.

Politik ist für den ehemaligen Kölner Oberbürgermeister zeit seines Lebens Ausdruck persönlicher Beziehungen gewesen; diese waren für ihn der Transmissionsriemen zur politischen Wirklichkeit. Was Adenauer anging, bestand die deutsche Diplomatie fast zehn Jahre lang aus Hallstein und Blankenhorn; seine Verständigungspolitik mit Frankreich stützte sich erst auf Robert Schuman, dann auf de Gaulle; die USA wurden zuerst durch John McCloy personifiziert, dann durch John Foster Dulles. Und so hat der Alte auch die Krisen personifiziert: indem er sie auf sich selber bezog.

Das heißt, er hat politische Krisen entweder gar nicht oder eben als persönliche Krisen empfunden, die er also auch nur persönlich lösen konnte.

Die Ärztin Adenauers, Dr. Ella Bebber-Buch, sagt, medizinisch habe sie solche Krisen allemal nachweisen können, auch wenn dem alten Herrn in seinem äußeren Auftreten überhaupt nichts anzumerken gewesen sei. Ordnung und Gleichmaß seines Tagesablaufs änderte er selbst in Krisenzeiten nicht, verlor nie die Contenance. brauchte auch keinen Tröster, weder den Alkohol noch etwa gar den Kardinal. Und von Enttäuschungen war er gleichfalls nicht bedroht, denn er hielt die Menschen ohnehin für schlecht.

Bei Ludwig Erhard, bei dem Mann, den Konrad Adenauer mit Recht nicht zum Nachfolger haben wollte, war das umgekehrt. Der »Volkskanzler« glaubte treulich an den gesunden Sinn, die moralische Kraft und den sittlichen Ernst des deutschen Volkes (das ihm darin von Herzen zustimmte); er war auch zutiefst davon durchdrungen, daß die Welt gut sei und daß über allem Geschehen eine vorgegebene. unzerstörbare Harmonie walte. Mit Religion hatte das verhältnismäßig wenig zu tun. Aber diese naive Gläubigkeit an die ordnende Kraft der rechten Gesinnung setzte Ludwig Erhard in den Stand, Niederlagen einzustecken, ohne an sich zu zweifeln, Unentschiedenes zu ertragen. ohne zu handeln -- und Krisen einfach nicht zur Kenntnis zu nehmen.

Da »der Dicke« sich, solange es ging (und auch wenn es nicht mehr ging). eher an moralischen denn an politischen Maßstäben orientierte, da er grundsätzliche Überlegungen als Meßlatte nahm und nicht sachliche Details, merkte er meist gar nicht, wenn eine politische Entwicklung kritisch wurde -- und reagierte also auch nicht. Erst wenn es gegen ihn persönlich ging, wehrte er sich; und auch dann meistens falsch und zu spät.

Schlafen war Erhards bevorzugter Eskapismus.

Typisch dafür ist die Kohlen-Krise an der Ruhr vom Sommer 1966, die, reichlich ein halbes Jahr nach Erhards triumphalem Sieg in der Bundestagswahl, zu einer schmerzhaften Niederlage der CDU in den nordrhein-westfälischen Landtagswahlen vom 10. Juli 1966 führte. Erhard begriff einfach nicht, was mit den Brüdern in Zechen und Gruben los war, wußte auch kein wirksames Mittel gegen deren Existenzangst und zog dennoch sendungsbewußt in den Wahlkampf. Warnungen rheinischer Parteifreunde, die Mißstimmung im Lande nicht zu unterschätzen, nahm er nicht ernst.

Aber als er auf einer Versammlung in Gelsenkirchen ausgebuht und von Protestchören niedergeschrien wurde, verlor er Halt und Haltung, hieß die Störer »Uhus« und »schamloses Gesindel« und »Lümmel«, die »in ihren Windeln verkommen« wären. »wenn ich nicht gewesen wäre und meine Politik«. Hernach saß er stumm im Auto, brütend, paffend, in lähmende Lethargie versunken. Viel später erst befand er: Die Leute, die ihn da ausgebuht hatten, »das waren nicht die deutschen Arbeiter«. Denn die tun so was nicht.

Die eigentliche Erhard-Krise begann mit der Wahlnacht vom 10. Juli 1966 im Bonner Bungalow. Der verunsicherte Volkskanzler las die Verluste seiner Partei wortlos vom Bildschirm ab, unerreichbar für Zuspruch, außerstande zu einem Kommentar. Kein Whisky konnte die Depression wegspülen« die Lähmung lindern, obwohl der Dicke damals eher regelmäßig als mäßig trank. Am liebsten wäre er schlafen gegangen, auf der Steile und bis auf weiteres. Schlafen war Erhards bevorzugter Eskapismus.

Wann immer die Macht, die er für »dumm«, und die Interessenpolitik, die er für geradezu unanständig hielt, sich zwischen ihn und das gesunde Volksempfinden schob, riß ihm der Faden. Er tat überhaupt nichts mehr, kämpfte nicht, aber trat auch nicht zurück, ließ die Diskussion laufen, mied Entscheidungen, beugte sich der Mehrheit und wich der jeweils stärksten Pression. Selbst seine eigene Krise wurde nicht von ihm, sondern von Rainer Barzel gemanagt.

Als ihn am 27. Oktober 1966 um 12.24 Uhr in einer Sitzung des CDU-Fraktionsvorstandes die Kunde ereilte, daß seine Regierung am Austritt der freidemokratischen Minister zerbrochen sei, reagierte er buchstäblich wie ein Schlafwandler. Als folge er unhörbaren Kommandos, ging er in sein Büro im Bundeshaus, erwartete dort den wider Willen zurückgetretenen Erich Mende, hörte Worte des Bedauerns, sprach selber welche und verließ das Zimmer wieder, mit Mende, dem Pressechef von Hase, ein paar Getreuen, vielen Journalisten.

»Ein Gespensterzug irrt durchs Bundeshaus.«

»Ein Gespensterzug irrt durchs Bundeshaus«, beschrieb Hans-Werner Graf von Finckenstein damals in der »Welt« diese Szene. »Ludwig Erhard, das Gesicht grau von übergroßer Erschöpfung, tappt ihm voran. Seine Augen scheinen wie erloschen ... Er hat die Brille abgenommen. Die Luft, die dicke Luft im buchstäblichen Sinne des Wortes, hat die Gläser beschlagen; er wischt mit verlegener Geste daran herum, er setzt sie wieder auf und wieder ab ... So kommt er, ein blinder König Lear, über die Hochmoore der Flure des Bundeshauses.«

Schließlich faßt Karl-Günther von Hase ihn zaghaft am Arm und fragt: »Wo wollen Sie hin, Herr Bundeskanzler?« Er muß zweimal fragen. Dann antwortet Erhard, kaum vernehmlich: »Zu Barzel.« Und findet sich, in die Irre gegangen, vor der Tür von Franz Josef Strauß wieder.

Kaum acht Tage später, und das erst ist wirklich typisch für Ludwig Erhards paradoxes Krisenmanagement, zog der moribunde Minderheitskanzler. der Verlierer der nordrhein-westfälischen Landtagswahlen, abermals in einen Landtagswahlkampf: ins rote Hessen. Er tat es nicht, um Stimmen zu gewinnen; in Hessen hätte er das selbst in besseren Tagen nicht gekonnt. Er tat es, um Bonn zu entgehen, das ihm nur noch Verwirrung bedeutete, um sich selbst wiederzufinden in der Berührung mit dem Volk -- mit der wahren, der einzigen Quelle seiner Kraft.

Kurt Georg Kiesinger, der Ludwig Erhard bald darauf ablöste, hat immer Wert auf die Feststellung gelegt, daß er die Kanzlerschaft in Konsequenz einer Krise (eben der Erhard-Krise) und nicht im Gefolge eines strahlenden Wahlsieges angetreten habe. Das heißt, er hat sich darüber beschwert, daß die Geschichte, der allein er doch größeren Ideenreichtum zugestand als sich selber, ausgerechnet ihn mit einem happigen Handikap ins Bonner Rennen geschickt habe; daß sie ihm nicht »eine ihrer Offerten« gemacht, sondern vielmehr »diese Plackerei« aufgeladen habe, in einer großen Koalition zweier gleich starker, aber unterschiedlich gesonnener Partner den Mittler zu machen.

Der Kanzler Kiesinger hatte zu politischen Krisen, wie überhaupt zur Politik, zuvörderst ein ästhetisches Verhältnis. Sie faszinierten ihn durch ihre facettenreiche Vielgestalt und deprimierten ihn zugleich, da sie ihn zur Einsicht in seine mangelnden Möglichkeiten und dennoch zur Aktion zwangen.

Dialoge, Denkpausen

und am Ende eine Art Hörspiel.

Die Aktion schob er denn auch in aller Regel auf, schon um seine Depressionen zu lindern. Angetreten wäre er am liebsten überhaupt nur da, wo er mit Sicherheit hätte gewinnen können. Für ihn war es einfach ein Gebot der Klugheit und des guten Geschmacks, »ein gelassenes Verhältnis zur Macht und zu den eigenen Möglichkeiten« zu haben. Und wer das für Schlappheit hielt, wer ständig auf neue Planungen und auf schnelle Entscheidungen drängte -- »der weiß eben nicht, was Politik ist«.

Kiesingers prinzipielle Abneigung gegen plötzliche, nicht erst am Ende langer dialogischer Ausforschung getroffene Entscheidungen verließ ihn auch in kritischen Situationen nicht. Wenn zum Beispiel bedrängte Minister von der Brüsseler-EWG-Front meldeten, da braue sich was zusammen, und um Weisung nachsuchten, brachten sie ihn in keinem einzigen Fall dazu, ad hoc und am Telephon eine Entscheidung zu treffen. Selbst den Streit um die Aufwertung der D-Mark löste er, ehe er ihn (falsch) entschied, wochenlang in Dialoge und Denkpausen auf, am Ende sogar in eine Art Hörspiel, inszeniert von ihm selber im nächtigen Bungalow, in den Hauptrollen die Bankiers Abs und Emminger; diese beiden stritten sich, der Kanzler hörte und sann.

Als die Russen in der Nacht zum 21. August 1968 in die Tschechoslowakei einfielen, klingelte auf Kiesingers Nachttisch um 2.32 Uhr das Telephon. Hans Neusel, sein persönlicher Referent, berichtete das Wenige, das er selber eine Viertelstunde vorher via Conrad Ahlers gehört hat. Der Kanzler fand den Kasus scheußlich, blieb jedoch gefaßt und heischte, wie stets, mehr Informationen. Die gab es aber noch nicht. Kiesinger wies Neusel an, die Lage weiter zu erkunden und auf acht Uhr früh den Verteidigungsrat und die politischen Spitzen der Koalition ins Palais Schaumburg einzuberufen. Den Rest der Nacht hindurch rotierten Regierungsgehilfen, um ihre zum Teil urlaubenden Chefs beizeiten heimzubringen.

Der Kanzler selber blieb im Bett, wennschon nicht ungestört. Um 4.29 Uhr rief Bundestagspräsident Gerstenmaier an und erkundigte sich einsatzfreudig nach der Lage an der Grenze, nach Krisensymptomen in Berlin. Kiesinger kalmierte: er habe keinerlei Grund zu der Befürchtung, daß die in den letzten Tagen immer wieder vorgetragene Einschätzung der militärischen Geheimdienste, ein russischer Einmarsch in der CSSR werde die Bundesrepublik nicht direkt in Mitleidenschaft ziehen, hinfällig geworden sei. Als Kiesinger morgens um halb sieben das nächstemal bei Neusel nach neuen Informationen fragte, hatte Gerstenmaier (kurz nach sechs) bereits sein erstes Krisen-Interview gegeben.

Das Podagra, das Bismarck plagte, hat den Kanzler Kiesinger in dessen kritischen Tagen wohl nie heimgesucht. hingegen häufig Anfälle von Selbstmitleid und natürlich das Heimweh nach dem Schönbuch, wo er (anders als in Bonn) jederzeit ohne Valium durchschlafen konnte. Im übrigen aber haben Krisen an ihm sowenig geändert wie er letztlich an ihnen.

Als aber Willy Brandt der Bonner Bundeskanzler wurde, da ging ihm aus seiner Zeit als Regierender Bürgermeister von Berlin der Ruf voran, daß er nie so sehr er selber sei wie in den Stunden der Bedrängnis -- ein Mann, der die beste Figur macht mit dem Rücken an der Wand.

Er hat, seit er Kanzler ist, freilich erst zweimal dringenden Anlaß gehabt, dies zu beweisen -- und in beiden Fällen lief es eher darauf hinaus, die dramatische Zuspitzung einer Krise abzubiegen, als deren Ursachen zu beseitigen. Das war zu Beginn dieses Jahres, als Brandt den resignierenden Wissenschaftsminister Leussink kurz entschlossen auswechselte; und das war im Mai 1971, als er den amtsmüden Finanzminister Möller ersetzte -- durch den Superminister Schiller. Bedenkt man die Folgen, dann ist gerade der letztgenannte Fall typisch.

Der Abschiedsbrief des Finanzministers wurde dem Kanzler am frühen Nachmittag in eine Sitzung des SPD-Präsidiums hineingereicht: und obwohl dies bereits Möllers viertes Rücktrittsgesuch war, traf es Brandt »zu diesem Zeitpunkt völlig unvorbereitet«. Er überflog den Brief, »merkte, daß da nichts mehr zu machen war«, und ließ gleichwohl »die Sitzung weiterlaufen«.

Während die Sitzung weiterlief, besprach er den Krisenfall mit Herbert Wehner und entdeckte dabei, daß »in zwei parallel geschalteten Köpfen dieselben Gedanken sind« (Wehner): Schiller soll es machen. Mit Helmut Schmidt, seinem anderen Stellvertreter im Parteivorsitz, der vielleicht nicht so parallel gedacht hätte, besprach sich Brandt vorerst nicht, weil Schmidt noch mindestens eine Stunde im Bundestag unabkömmlich war. Schiller selber war der nächste, mit dem der Kanzler sprach.

»Ich bin mir dann schlüssig geworden«, so Brandt, »a) ich nehme den Rücktritt an, b) ich mache die Zusammenlegung des Wirtschafts- und des Finanzministeriums.« Bald darauf am späten Nachmittag, schrieb er Möller seinerseits einen Abschiedsbrief.

Um Mitternacht erst, nach einem schon seit Wochen arrangierten Abendessen mit Industriellen und Gewerkschaftern (in dessen Verlauf Brandt gegenüber seinen Gästen eisern dichthielt), informierte er die Koalitionspartner Scheel und Genscher. Und am nächsten Morgen endlich beriet er sich »mit denjenigen meiner Präsiden, deren Rat ich brauchte« (nun also auch mit Georg Leber und mit Helmut Schmidt). Aber die Entscheidung war längst gefallen.

Dies war, wie gesagt, ein Notfall, zunächst günstig für Brandt: Die Krise brennt plötzlich lichterloh, und er ist zur Stelle wie die Feuerwehr. Aber solange das Feuer bloß glimmt, solange die Krisen nur schwelen, neigt auch der Kanzler Brandt in der Sache zum Aufschub und persönlich zum Rückzug hinter die sieben Schleier seiner Selbst Versunkenheit, aus der auch die engsten Freunde und die stallrüchigsten Genossen ihn allenfalls noch mit einer guten Anekdote zurückholen können.

Zu der Zeit, als eine Landtagswahl nach der anderen mit Stimmengewinnen der Opposition ausging, erwogen die Kanzlergehilfen, ob sie die morgendliche »Lage« nicht mit einem Witz eröffnen sollten, um ihrem depressiven Chef wenigstens den Fluchtweg ins Gelächter offenzuhalten.

Anderswohin, etwa in die Krankheit, zu fliehen ist nicht Brandts Art. Überhaupt ist Eskapismus ihm so gut wie verschlossen, seit er das Trinken aufgegeben hat. Und so wechseln, wenn sein politisches Geschäft einmal »nicht läuft«, in seinem Verhalten das normale, aber lustlose Funktionieren mit einer »die tiefe Empfindung des Problems widerspiegelnden Niedergeschlagenheit« (Conrad Ahlers).

Lieb' Vaterland, magst ruhig sein?

Sozialdemokrat, der er ist, versucht er, solchen Schwelbränden durch Planung vorzubauen. Für die Zeit der alliierten Berlin-Verhandlungen zum Beispiel hatte er mit den Genossen einen Plan gemacht, in dem der Tag des Abschlusses der Botschafter-Gespräche mit X und der Tag der Unterzeichnung des Berlin-Abkommens mit Y angenommen war und in dem die Termine aller folgenden Bonner Aktivitäten mit X plus eins, X plus zwei, Y plus eins (und so weiter) angegeben waren. So stellte sich dann also zum Beispiel die Frage, ob der Bundeskanzler »zwischen X und Y, öffentlich gar nichts oder vielleicht doch etwas sagen solle.

Kein Zweifel: Das Krisenmanagement steckt hierzulande noch in den Kinderschuhen, im Stadium des Experiments. Und so etwas wie psychisches Krisenmanagement, nämlich eine Methode, Kanzler in Krisen eisern zu machen, gibt es überhaupt nicht; hat es noch nie gegeben.

»Wenn man nun sieht«, klagt der Kanzler, »wie das Leben sein kann, wie wir eben alle in einer sehr begrenzten Zeit, in einer sehr problematischen Welt mit zweifellos unzureichenden Kräften handeln müssen, dann kann man doch nicht anders als entweder verzweifeln und resignieren oder eben versuchen, mit Gelassenheit das zu tun, was möglich ist.«

Otto von Bismarck? Nein: Kurt Georg Kiesinger. Aber Willy Brandt würde das heute, nicht so schwülstig und mit weniger Worten, so ähnlich sagen, hat es so ähnlich gesagt.

Einem Mann, der sowohl dem Kanzler Kiesinger wie dem Kanzler Brandt in kritischen Situationen über die Schulter geguckt hat, nämlich Conrad Ahlers, ist dabei immer wieder aufgefallen, »wie schrecklich das schwankt, von Stunde zu Stunde, zwischen dem Drang nach Aktion um der Aktion willen und dem Hang zum Treibenlassen, weil man plötzlich erkennt, daß man im Grunde gar nichts machen kann

Lieb' Vaterland, magst ruhig sein?

Hermann Schreiber
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