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»WIE WENN MAN IN EIS EIN BRICHT«

aus DER SPIEGEL 53/1970

Man wollte besonders korrekt sein. Hoch am gestirnten Himmel über der Sitzung des Schöffengerichts zu Schleswig an der Schlei sollte Artikel drei Ziffer eins des Grundgesetzes leuchtend aufgehen ("Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich"), der Welt zum Zeichen, daß droben im deutschen Norden ein Exempel souveräner Wahrheitsfindung beschert worden Ist.

Man wollte besonders korrekt sein, doch jetzt liegt die Justiz so platt wie eine Flunder auf dem Rollfeld des Rechtslebens. Und der Zeitgenosse hat sich zu fragen, wie es mit der normalen Korrektheit der Justiz bestellt sein mag, wenn es sogar gelegentlich der Mühe um besondere Korrektheit zu einer schmetternden Bauchlandung wie dieser kommen kann, noch dazu unter dem Vorsitz des Herrn Amtsgerichtsrats Lilienthal, 41. Das hatte zur Bilanz des Jahres 1970 gerade noch gefehlt: ein Justizgreuel, dessen Opfer -- ein Staatsanwalt ist.

Vor dem Schöffengericht In Schleswig, vor dem Amtsgerichtsrat Lilienthal und zwei Schöffen also, hat sich der Erste Staatsanwalt Christian Johannesen Roth, 47, zu verantworten. Herr Roth wohnt in Flensburg und ist heute dort tätig. Früher hat er in Schleswig gearbeitet. Da ist es denn besonders korrekt, daß die Anklage gegen Herrn Roth vom Oberstaatsanwalt Bauer aus Kiel vertreten wird.

Der Oberstaatsanwalt Bauer klagt den Ersten Staatsanwalt Roth an, den Tod von zwei Menschen dadurch verschuldet zu haben, daß er gegen die Straßenverkehrsordnung verstoßen und »dem Gegenverkehr nicht die genügende Aufmerksamkeit gewidmet« hat. Herr Roth äußert sich zu diesem Vorwurf.

Am 26. November 1969 gegen Mittag brach Herr Roth in Schleswig auf, um nach Hause, nach Flensburg zu fahren. Das Wetter war für den November »ausgezeichnet«, die Bundesstraße 76 in einwandfreiem Zustand. Herr Roth überholte einen Lastzug, sein Fahrzeug, ein Ro 80, »hatte ja eine sehr gute Beschleunigung«. Herr Roth hielt das Überholmanöver »so kurz wie es eben ging, meiner defensiven Fahrweise gemäß«.

Anschließend fuhr ein weiterer Lastzug vor Herrn Roth, der jedoch noch nicht dazu angesetzt haben will, auch diesen zu überholen -- als es einen Knall gab und .sich die Frontscheibe des Ro 80 vor Herrn Roths Augen in ein blindes Spinnwebenfeld verwandelte. Herr Roth hat von diesem Augenblick an keine genaue Erinnerung, ein »Schreck, ja Schock« war über ihn gekommen. Allein was die Frontscheibe angeht, weiß Herr Roth noch etwas: dem Knall und dem Blindwerden der Scheibe habe sich ein »Knistern«, wie wenn man in Eis einbricht«, angeschlossen.

»Und dann gab es wieder einen Knall ... Es war also alles sehr verworren.,. Ich wußte gar nicht, daß Ich irgend etwas damit zu tun habe . . . Mir war hundeübel ... Ich habe unvorstellbar gefroren.« Herr Roth war auf der Bundesstraße 76 bei Kilometer 144,4 mit seinem Ro 80 auf die linke Fahrbahn geraten und dort mit einem entgegenkommenden Citroen 2 CV zusammengestoßen, in dem die Ingenieur-Studenten Iwersen und Ingwersen getötet wurden.

Man hört Herrn Roth und zweifelt an ihm, nicht weil sein Ton oder sein Auftreten bedenklich machen, sondern weil er Staatsanwalt ist. Die Frontscheibe des Ro 80 soll total blind geworden und in blindem Zustand nicht unverzüglich eingestürzt, sondern bis zum Zusammenprall blind stehengeblieben sein. Zielt da nicht ein Mann, der sich von Berufs wegen mit Ausreden auskennt, auf die perfekte Ausrede?

Ein Staatsanwalt, der sich einen Ro 80 aus der ersten Serie kaufte, zwar einen Vorführwagen, doch immerhin ein Modell, dem Skepsis seiner technischen Neuerungen wegen Intensiver entgegenschlug als jeder anderen ersten Serie: So ein Staatsanwalt muß doch wohl ein heimlicher Rallyefahrer sein, der forsch überholt.

Es Ist verhext, man wird zornig auf Herrn Roth. Er ist an jenem Mittwoch im November 1969 beträchtlich verletzt worden, er wurde vom Unfallort ins Krankenhaus geschafft. Er war ansprechbar, äußerte sich nicht anders als sonst, nur eben bedrückt, weil er nicht wußte, wie es zu dem Unglück gekommen war. Als ihn am Montag nach dem Unfall die Polizei im Krankenhaus befragte, wußte er nichts über den Hergang zu sagen.

Da hat er dann aber auch gefragt, was denn mit der Frontscheibe seines Wagens geschehen sei, ob ·die noch stehe. Und der Polizeibeamte ist hingegangen, hat das Fahrzeug besichtigt und den Herrn Ersten Staatsanwalt angerufen, die Frontscheibe sei eingestürzt. Danach erst hat Herr Roth seinem Anwalt die Geschichte von der blindgewordenen Scheibe erzählt, die stehenblieb.

Herr Roth hatte auch eine Gehirnerschütterung erlitten, und so mag es sein, daß sich seine Erinnerung erst nach und nach wiederhergestellt hat. Herr Roth sagt, er habe sich nach dem Zustand der Frontscheibe erkundigt, weil er in Hinblick auf die Werbung für den 110 80 gemeint hat, dessen Frontscheibe sel aus Verbundglas, und seine aufdämmernde Erinnerung müsse daher falsch sein.

Doch die Frontscheiben der ersten zirka 1000 Ro 80 bestanden aus Sekurit-Glas, und hier nun, unerwartet, kippt der Prozeß um. Zwei Gutachter werden gehört, Unfallsachverständiger und der Dr.-Ing. Siemonsen als Glassachverständiger. Der Herr Siemonsen arbeitet nicht für Sekurit, aber er hat eine bedeutende Position In einem anderen Unternehmen -- ausgerechnet in der Herstellung von Einschichtenglas, einem Glas also, das dem Sekurit-Glas entspricht. Herr Siemonsen sagt: »Die Physik läßt es nicht zu.« Er ist überzeugt davon und beschwört es, daß die Frontscheibe, wäre sie vor dem Zusammenprall gesprungen, unverzüglich eingestürzt wäre.

Wir können uns nicht mit Herrn Siemonsen auseinandersetzen, nicht heute schon Einwände vorbringen, denen er sich irgendwann im nächsten Jahr wird stellen müssen. Jedenfalls hat Rechtsanwalt Thiele, Flensburg, der klug verteidigt, durchaus Grund, Herrn Siemonsen wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen. Das Schöffengericht verwirft den Antrag, nicht zuletzt deshalb, weil Herr Roth »als forensisch geschulter Jurist die Besorgnis der Befangenheit nicht haben kann ...«

Herr Thiele stellt einen weiteren Antrag. Es soll einen Oberamtsrichter geben, der Herrn Roth erzählt hat, ihm sei dasselbe, nur ohne die unseligen Folgen, mit einem Ford passiert. Dieser Ford hat, erfuhr man von Herrn Siemonsen, eine Scheibe, die der des Ro 80 überaus ähnlich ist. Aus Versuchen mit dieser Ford-Frontscheibe hat Herr Siemonsen seine Meinung zum Fall Roth hergeleitet. Das Gericht entspricht dem Antrag mürrisch.

Man vertagt, will in der nächsten Wache wieder zusammenkommen, die Frist wahren und in der übernächsten Woche den beantragten Zeugen hören. Die Zeitungen berichten, einige scheußlich falsch. Sie faseln vom »rasenden staatsanwalt«, machen Herrn Siemonsen zum »Konstrukteur der Ro-80-Scheibe« und lassen ihn »überraschend« im Prozeß auftreten. Das »Hamburger Abendblatt« aber teilt mit, daß Herr Thiele Zeugen sucht, denen ähnliches wie Herrn Roth passiert ist, und es melden sich fast fünfzig.

Herr Thiele wählt einige von ihnen aus, auch einen Zeugen, der in einem Ro 80 erlebt haben will, was Herrn Roth widerfahren sein soll. Doch als das Gericht zusammentritt, um nur die Frist zu wahren -- vertagt es sich nicht auf die darauffolgende Woche zur Anhörung dieser von der Verteidigung erkämpften, aus dem Gang der Sitzung heraus beschafften Zeugen, sondern regt die Aussetzung des Verfahrens an und beschließt diese mit Zustimmung der Anklage gegen den Protest Herrn Thieles.

Das ist ein Greuel, das ist ein Abbruch mitten im wieder völlig offenen Gefecht, der bitterste Folgen für die Verteidigung haben kann, denn nun wird zunächst einmal die Staatsanwaltschaft die neuen Zeugen hören. Selbst wenn sie, statt nur besonders korrekt zu sein, auch besonders fair ist und die Verteidigung an diesen Vernehmungen beteiligt: Nie mehr wird man den Faden der Auseinandersetzung mit Herrn Siemonsen dort aufnehmen können, wo das Gericht ihn zerriß.

Der Streit um die Vor- und Nachteile von Verbund- beziehungsweise Einschichtenglas ist in einer Hinsicht heute kein Weltanschauungskonflikt mehr: Verbundglas bietet, so es beschädigt wird, genügend Sicht, um mit Sicht das Fahrzeug anzuhalten, ja sogar, um es weiterzufahren. Doch ob bei Einschichtenglas -- wie in Herrn Roths Ro 80 -- immer eine Sichtinsel bleibt, wann die Scheibe einstürzt (totale Sicht auf schockierende Weise bereitend) und wann sie blind wird, nicht einstürzt und auch keine Sichtinsel bietet: In diesen Punkten hat der Angeklagte Roth einen Anspruch auf Erörterung, und inzwischen hat er den sogar weil, und nicht obwohl er Staatsanwalt ist.

»Höchst fatal«, bemerkt da Schlich, »aber diesmal auch für mich.« Auf einen Justizgreuel an einem Staatsanwalt war er nicht gefaßt. Und Gerhard Palmström steht an einer Straßenbeuge und meditiert zum Jahresende. Näheres ist bei Morgenstern nachzulesen.

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