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Verfassung Wie wir es wünschen

Christdemokraten wollen erreichen, daß deutsche Soldaten ohne Grundgesetzänderung außerhalb der Nato eingesetzt werden.
aus DER SPIEGEL 13/1991

Mit einer eher beiläufigen Bemerkung brachte Außenminister Hans-Dietrich Genscher in der geheimen Sitzung des Auswärtigen Ausschusses seine christdemokratischen Koalitionspartner auf die Palme. Seine sowjetischen Gesprächspartner hätten ihm klargemacht, berichtete der gerade aus Moskau Heimgekehrte am Mittwoch letzter Woche, daß der »Zwei plus Vier«-Vertrag über die volle Souveränität Deutschlands vom Obersten Sowjet wohl kaum ratifiziert worden wäre, wenn sich die Deutschen im Golfkrieg »anders verhalten« hätten.

Da erregte sich der sonst so gelassene außenpolitische Sprecher der CDU/ CSU-Fraktion, Karl Lamers: In Wirklichkeit könne doch niemand wissen, ob die Sowjets anders reagiert hätten, wenn sich die Deutschen mit Truppen gegen Saddam Hussein engagiert hätten. Süffisant entgegnete der AA-Vorsteher, er fühle sich verpflichtet, einen ehrlichen Eindruck wiederzugeben.

Die Stimmung im Lager der christliberalen Partner ist gereizt. Seit dem Kriegsende am Golf wird der Streit über den Einsatz deutscher Soldaten außerhalb des Nato-Vertragsgebietes immer lauter. Manche Unionschristen würden am liebsten schon morgen wieder »Germans to the front« schicken, so groß ist ihr Bedürfnis nach einem angeblich nur so möglichen »aufrechten Gang« (CDU-Generalsekretär Volker Rühe) der gerade souverän gewordenen Deutschen.

Vorletzten Donnerstag hockten sich die führenden Außen- und Verteidigungspolitiker der CDU/CSU zusammen und machten ihrem Unmut über Genschers lauen Kurs Luft. Das Wort führten Verteidigungsminister Gerhard Stoltenberg, Kanzleramtsminister Lutz Stavenhagen, CSU-Entwicklungsminister Carl-Dieter Spranger, Fraktionssprecher Lamers und der CDU-Wehrexperte Bernd Wilz.

Über die künftige militärische Rolle der Deutschen waren sich die christlichen Troupiers rasch einig: Sie soll weltweit sein und keinen Beschränkungen, etwa durch die Charta der Vereinten Nationen, unterliegen.

Das aber ist weder mit Genschers FDP noch gar mit der SPD-Opposition zu machen, auf deren Stimmen die Union bei der in der Koalition bislang verabredeten Änderung des Grundgesetzes angewiesen ist.

Bei ihrem Geheimtreff in der vorletzten Woche legten die Außen- und Wehrpolitiker ihre Strategie neu fest: Eine Verfassungsänderung soll es nicht geben. Der Kanzler müsse davon überzeugt und die SPD - wie Helmut Kohl selbst gesagt habe - »gestellt« werden.

Begründung: Das Grundgesetz erlaube schon jetzt den unbeschränkten Einsatz der Bundeswehr im Rahmen kollektiver Sicherheitssysteme; mit einer verfassungsmäßigen Festlegung auf Aktionen »im Rahmen der Uno«, wie Genscher sie befürwortet, lege sich das neue Deutschland nur unnötig Fesseln an. »Die Regierung«, gibt ein Teilnehmer der Runde die Richtung vor, »muß das Grundgesetz eben so interpretieren, wie wir es wünschen.«

Verkehrte Welt: Vier Jahrzehnte lang hatten konservative wie sozial-liberale Bonner Regierungen ihren Verbündeten gegenüber behauptet, das Grundgesetz verbiete einen Einsatz deutscher Streitkräfte außerhalb des Nato-Gebietes. Diese Ausrede möchten die wehrfreudigen Unionschristen ganz schnell vergessen machen. Ein Kabinettsmitglied: »Wir müssen aus der Hosenscheißer-Position raus.«

Am liebsten wäre es den Schwarzen, die Sozis zögen vor das Bundesverfassungsgericht nach Karlsruhe und holten sich dort eine blutige Nase. Denn Kohls Spähtrupp in Sachen Fronteinsatz gibt sich siegessicher, daß die höchsten deutschen Richter, jetzt auf einmal, das Grundgesetz in ihrem Sinne auslegen und den weltweiten Einsatz der Stoltenberg-Truppe auch ohne Verfassungsänderung gutheißen würden.

Von »verfassungspolitischen Konsequenzen« aus der neuen Rolle der Deutschen, wie sie Kohl noch vorletzte Woche ankündigte, wollen seine Parteifreunde in der CDU/CSU-Fraktion auch deshalb nichts wissen, weil sie die SPD schlicht für unzuverlässig und unberechenbar halten. Der Streit im sozialdemokratischen Lager bestätigt sie nur.

Letzten Montag konnte sich der SPD-Vorstand nur mühsam auf Blauhelm-Missionen für die Bundeswehr einigen. Dabei ist noch nicht einmal sicher, ob die SPD-Basis auf dem Parteitag im Mai ihrer Führung folgt. Der designierte Parteivorsitzende Björn Engholm: »Da ist mit scharfen Kontroversen zu rechnen« (siehe SPIEGEL-Gespräch Seite 22).

Dabei möchten etliche Parteivorständler und die Mehrheit der SPD-Bundestagsfraktion eigentlich weitergehen. Denn es ist in der Tat problematisch, daß die Bundesrepublik sich als einziges Uno-Mitglied möglichen Kampfeinsätzen unter Uno-Oberkommando verweigert und gleichzeitig eigene Blauhelme quasi nur mit Nelken im Gewehrlauf zur Paßkontrolle zwischen feindlichen Fronten bereitstellt.

Verhindert die Basis der SPD eine Kursänderung der Opposition, sind der Fraktion im Bundestag die Hände gebunden. Eine Verfassungsänderung wäre damit erst einmal unmöglich. Für Willy Brandt wäre dies ein Beleg, daß seine Partei bis auf weiteres nicht regierungsfähig ist: Die Gegner uneingeschränkter Einsätze der Bundeswehr spielten damit denjenigen in der Union die Bälle zu, die es gar nicht abwarten können, das Grundgesetz neu zu interpretieren und eine deutsche Eingreiftruppe aufstellen wollen (siehe Seite 82).

Der nationale Disput um die Rolle deutscher Soldaten in Übersee, fürchtet der SPD-Abgeordnete Günter Verheugen, wird immer mehr zu einem »Gesinnungstest« wie einst die Debatten um die Wiederbewaffnung der Deutschen und die »Nachrüstung« mit atomaren Mittelstreckenraketen. Auf der Strecke blieben da nicht nur der sicherheitspolitische Konsens, sondern auch die Reputation der geeinten Deutschen im Ausland.

So wunderten sich vergangene Woche die Vertreter aus den Nato-Partnerländern, in welch rüder Weise der CSU-Landesgruppenvorsitzende Wolfgang Bötsch in Brüssel über das »Versagen« der eigenen Regierung in der Golfkrise vom Leder zog und Besserung gelobte - notfalls mit Hilfe einer Verfassungsänderung. Ein US-Diplomat zum Bonner Blauhelm-Theater: »Wir empfinden die ganze Diskussion als lächerlich.« o

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