SOWJET- UNION / PAPST Wie zur Zarenzeit
Der Heilige Vater war tief bewegt. Mehrmals wischte er sich über die Augen. Dann vernahm die Schar der Gläubigen die schwache, tränenerstickte Stimme ihres geistlichen Oberhirten: »Just vom Osten Europas her haben wir eine tiefberührende Tröstung erfahren, für die wir dem Herrn demütig danken.«
Noch am selben Sonntagvormittag vorletzter Woche konnte Papst Johannes XXIII. den Mann in die Arme schließen, dessen Märtyrerschicksal die Beziehungen zwischen Kreml und Vatikan stärker belastet hat als weltanschauliche Gegensätze: Josyf Slipyj, 71, Erzbischof von Lemberg und Metropolit der ukrainischen unierten Kirche.
Die sowjetischen Behörden hatten den schwerkranken Kirchenfürsten - er zog sich wegen chronischer Unterernährung eine Lungentuberkulose zu - Ende Januar überraschend aus einem Straflager in Russisch-Asien entlassen, in dem er beinahe ununterbrochen achtzehn Jahre als Staatsgefangener des Kreml zubringen mußte. Slipyj, geistliches Oberhaupt der Zwei-Millionen -Gemeinde katholischer Christen in der Ukraine, hatte sich 1945 der von Stalin befohlenen Vereinigung mit der russisch-orthodoxen Kirche widersetzt.
Seine Freilassung ist ein unverkennbares Zeichen sowjetischer Bereitschaft, neue Gespräche mit dem Heiligen Stuhl anzuknüpfen. Das Ziel: Aufnahme voller diplomatischer Beziehungen, wie sie zur Zarenzeit bestanden.
Die ersten Versuche Moskaus, mit der römischen Kurie ins Gespräch zu kommen, rühren aus der Zeit her, als der Einfluß Nikita Chruschtschows auf die sowjetische Außenpolitik bestimmend wurde. Damals, im August 1956, hatte der Oberste Sowjet einen Abrüstungsappell an alle Regierungen der Welt gerichtet. Die Zustellung des Appells stieß im Falle des Heiligen Stuhls auf gewisse Schwierigkeiten - eben die fehlenden diplomatischen Beziehungen.
Die Moskauer Polit-Strategen betrauten deshalb ihren Geschäftsträger bei der Republik Italien, Poschidajew, mit der Mission, den Papst über die Friedenswünsche des Kreml ins Bild zu setzen.
Der Sowjetdiplomat ging freilich unbeholfen zu Werke. Seine wiederholten Bitten um eine Audienz bei seinem römischen Kollegen, dem Apostolischen Nuntius Monsignore Fietta, wurden zunächst abgelehnt. Die Sowjetbotschaft hatte nämlich versäumt, Fietta in seiner Eigenschaft als Doyen des Diplomatischen Korps von der Abreise des sowjetischen Botschafters Bogomolow und der Bestellung eines Geschäftsträgers zu benachrichtigen.
Poschidajew holte die unterlassene Notifizierung nach und konnte seine Post endlich loswerden. Radio Moskau triumphierte: »Der erste offizielle Kontakt ist hergestellt.«
Doch der damalige Papst, Pius XII., war nicht gesonnen, auf die östlichen
Koexistenz-Lockungen einzugehen. Sein Hausblatt, der »Osservatore Romano«, distanzierte sich von dem sowjetischen Anbiederungsversuch: »Jede Haltung, die die Wahrheit opfert, weil sie mit dem Irrtum 'koexistiert', verzweifelt an der wahren Hoffnung.«
Erst als mit Johannes XXIII. ein weniger streitbarer Papst in den Vatikan einzog und zudem der Katholik John F. Kennedy Präsident der Vereinigten Staaten wurde, schien dem Kreml eine erneute Annäherung an den Heiligen Stuhl geboten.
Im September 1961 begrüßte Chruschtschow in der »Prawda« einen Friedensappell des Papstes als ein »gutes Zeichen« - was zuvor nie geschehen war. Seitdem hat der Kreml keine Gelegenheit ausgelassen, dem Papst seinen guten Willen zu bekunden:
- Am 25. November 1961 gratulierte Chruschtschow im Namen der Sowjetregierung »Seiner Heiligkeit, dem römischen Papst« in herzlich gehaltenen Worten zum 80. Geburtstag.
- In der Kuba-Krise würdigte die sowjetische Propaganda ausführlich die Anstrengungen des Papstes zur Rettung des Friedens.
- Ebenso wohlwollend behandelte die sowjetische Presse das Zweite Vatikanische Konzil; der russisch-orthodoxen Kirche wurde sogar gestattet, zwei Konzilbeobachter zu entsenden.
Anläßlich des Fanfani-Besuchs in Moskau - im Sommer 1961 - erkundigte sich Chruschtschow bei dem italienischen Ministerpräsidenten sehr eingehend nach der Person des neuen Papstes. Den geplanten Gegenbesuch in Rom schob er immer wieder hinaus - offenkundig, weil er sich für einen späteren Zeitpunkt Chancen ausrechnet, von Johannes XXIII. in Privataudienz empfangen zu werden. Aus dem gleichen Grund ist die Sowjetbotschaft in Rom gehalten, sich laufend über den Gesundheitszustand des Papstes zu informieren.
Von welchen propagandistischen Hintergedanken sich der Kreml-Herrscher bei seinem Liebeswerben um den geistlichen Führer von 494 Millionen Katholiken leiten läßt, verriet eine Stelle in dem jüngsten Antwortschreiben Chruschtschows an Bundeskanzler Adenauer. »Ich bin Kommunist und Atheist«, hieß es da, »aber ich unterstütze und billige den Friedensappell des Papstes. Sie aber sind ein eifriger Katholik und sollten ein besonders aufmerksames Ohr für den Appell des Oberhauptes der katholischen Kirche haben.«
Indes, erst die Befreiung des Erzbischofs Slipyj verschaffte der Sowjetdiplomatie im Vatikan jene Resonanz, die sie braucht, um einiges von der Hypothek der Stalinschen Kirchenverfolgung in der Sowjet-Union und im übrigen Ostblock abtragen zu können.
Noch sind überdies der Prager Erzbischof Beran und der ungarische Kardinal Mindszenty ihrer Freiheit beraubt
- der eine sitzt in einem tschechischen
Gefängnis, der andere kann die Budapester US-Botschaft, in die er 1956 flüchtete, nicht verlassen, ohne seine Verhaftung befürchten zu müssen.
Über ihre Freilassung soll in Kürze ein Sendbote des Papstes - der Sekretär des christlichen Einheitssekretariats, der holländische Geistliche Willebrands
- in Moskau verhandeln.
Freigelassener Metropolit Slipyj (r.), Oberhirte: Tröstung aus dem Osten