Greifswald Wieder Blindflug
Festakte, zum Ruhm und Preis des Sozialismus, hat die Kernkraftzentrale Greifswald, seit Jahrzehnten größte Baustelle der DDR, schon viele erlebt. Diesmal, zum ersten feierlichen Akt im Jahre eins nach Honecker, bearbeitete der neue DDR-Umweltminister Karl-Hermann Steinberg (CDU) drei Backsteine in einem Betonfundament mit zaghaften Hammerschlägen.
Der Grundstein wurde, Ende Juli, für ein vergleichsweise bescheidenes Bauwerk gelegt: Das »Ersatzwärmekraftwerk Greifswald«, gleich neben den großen Reaktorhallen, soll schon im Dezember in Betrieb gehen, um die Wärmeversorgung der Stadt unabhängig vom Atomkraftwerk sicherzustellen. Auch der letzte der vier 440-Megawatt-Reaktoren kann dann endgültig abgeschaltet werden, mehrere tausend Kernkraftwerker werden ihren Job verlieren.
Über beängstigende Sicherheitsmängel in den Altreaktoren (SPIEGEL-Titel 5/1990), die den Neubau erst erzwungen hatten, verlor der DDR-Minister jedoch kein Wort. Statt dessen versprach er den rund 300 versammelten Arbeitern und Ingenieuren eine helle Zukunft: Der Bau des Heizwerkes sei »erst der Beginn des Umbaus für den ganzen Komplex«. Alsbald werde man ihn in eine »moderne kerntechnische Anlage« verwandeln. Steinberg: »Der Kernkraftwerksstandort Greifswald und die Arbeitsplätze bleiben erhalten.«
Das Versprechen wird Steinberg nicht halten können. Denn es beruht auf einem Plan, dessen Verwirklichung die deutschen Steuerzahler Milliarden kosten würde und der neuen Zündstoff in den deutsch-deutschen Einigungsprozeß trägt. Mit Hilfe direkter staatlicher Investitionen sollen ausgerechnet die ehrgeizigen Ausbaupläne des SED-Staates für die DDR-Atomwirtschaft fortgeführt werden.
Insgesamt 13 Atomkraftwerksblöcke, so stand es in den Plänen der alten Staatsführung, sollten bis Mitte der neunziger Jahre auf dem Gebiet der DDR am Netz sein. Gleich neben den vier jetzt in Verruf geratenen Meilern vom sowjetischen Typ WWER 440 sind vier weitere einer leicht modernisierten Version desselben Typs seit über zehn Jahren im Bau. Seit fast 13 Jahren sind auch in Stendal im Bezirk Magdeburg Dutzende von Unternehmen mit der Errichtung von zwei 1000-Megawatt-Leichtwasserreaktoren (WWER 1000) nach sowjetischem Vorbild beschäftigt. Zwei weitere Reaktoren sollten folgen.
Mit der Wende, so schien es, stand das sozialistische Nuklearprogramm vor dem Ende. Um nur möglichst schnell den auch für Fernwärmeversorgung benötigten ersten Greifswalder Block vom Netz nehmen zu lassen, mobilisierte Bonns Reaktorminister Klaus Töpfer aus seinem mageren Etat 30 Millionen Mark für den Bau des Ölheizwerkes.
Die Wiederaufnahme des Betriebs der Blöcke eins bis vier in Greifswald, urteilte eine gemeinsame Kommission der bundesdeutschen »Gesellschaft für Reaktorsicherheit« (GRS) und des Ost-Berliner »Amtes für Atomsicherheit und Strahlenschutz« (SAAS), sei allenfalls nach umfangreichen und vor allem kostspieligen Nachrüstungsmaßnahmen zu verantworten. Die schlechten Erfahrungen mit den alten sowjetischen Reaktoren beeindruckten Steinberg und seine Energieplaner jedoch offensichtlich wenig. Weil man »auf absehbare Zeit auf die Kernenergie nicht verzichten« könne, schloß er, sollten der Bau und die Inbetriebnahme der zusätzlichen sechs Reaktoren fortgesetzt werden.
Der Plan birgt unkalkulierbare Risiken, technisch wie finanziell. So gilt, zumindest formal, seit Anfang Juli auch in der DDR das bundesdeutsche Atomgesetz mit allen zugehörigen Regelwerken. Jeder Antrag auf weitere Bau- und Betriebsgenehmigungen muß fortan diesen Kriterien gerecht werden.
Wie das gelingen soll, wissen zwar auch Steinberg und seine aus dem alten Energieministerium übernommene Atom-Crew noch nicht so recht, aber mit Hilfe westlicher Hersteller, so glaubt der zuständige Abteilungsleiter Jürgen Ziegenhagen, »können wir diese Reaktoren genehmigungsfähig machen«.
Um das durchzusetzen, müßten die vereinten westöstlichen Reaktorbauer jedoch wahre Wunder vollbringen. So fehlen auch den Blöcken fünf bis acht in Greifswald wesentliche Sicherheitseinrichtungen, die für westdeutsche Reaktoren seit Anfang der achtziger Jahre zum Standard zählen: *___Statt eines Volldruck-Containments für die gesamte ____Anlage verfügen die Reaktoren nur über sogenannte ____Druckraumsysteme, in welche die einzelnen Komponenten ____des radioaktiven Primärkreislaufes eingebaut sind. ____Welchen Druck sie im Falle eines großen Lecks wirklich ____aushalten, ist völlig ungeklärt. *___Die gesamte Meß- und Regeltechnik gilt unter ____Reaktorsicherheitsexperten als unzuverlässig und ____entspricht dem Standard der sechziger Jahre. *___Für größere Störfälle sind keine Instrumente vorhanden, ____mit denen der Reaktor auch von außerhalb der Blockwarte ____noch kontrolliert werden könnte.
Von den über hundert Nachrüstungsmaßnahmen, die die gemeinsame Kommission von GRS und SAAS für einen Weiterbetrieb der Blöcke eins bis vier gefordert hatte, so schätzt Michael Sailer, Reaktorexperte des Darmstädter Öko-Instituts, »müßten etwa 80 Prozent genauso bei den neuen vier Blöcken durchgeführt werden«. Das aber »wäre schon wirtschaftlich völlig unsinnig«.
Ähnliches gilt für die beiden 1000-Megawatt-Blöcke in Stendal. Deren Sicherheitsniveau, so stellte selbst das Ost-Berliner Aufsichtsamt in einem zur »vertraulichen Verschlußsache« deklarierten Bericht vom Herbst 1989 fest, _(* Bei der Grundsteinlegung für das ) _("Ersatzwärmekraftwerk« Greifswald. ) entspreche allenfalls »dem internationalen Stand vom Ende der siebziger Jahre«. Demnach fehlen insbesondere eine »moderne Automatisierungs- und Prozeßleittechnik zur effektiven Beherrschung von Störfällen« sowie »umfangreiche Maßnahmen des Störfallmanagements zur Folgenbegrenzung von schweren nuklearen Störfällen«.
Vor allem aber leiden alle WWER-1000-Reaktoren an einem grundlegenden Konstruktionsfehler. Weil die Druckbehälter auf sowjetischen Eisenbahn-Waggons transportiert werden mußten, wurden sie im Verhältnis zur Leistung extrem klein konstruiert. Folge: Die Brennelemente sind im Kern so dicht angeordnet, daß die Kettenreaktion nur noch schwer steuerbar ist. Beim derart »instabilen Betrieb«, so schloß die tschechische Aufsichtsbehörde für alle Reaktoren dieses Typs, sei man deshalb vor allem »auf die gute Ausbildung und psychische Widerstandskraft des Personals« angewiesen.
Zu den veralteten Konstruktionsprinzipien kommen die vielen Qualitäts- und Baumängel, die durch jahrelange Mißwirtschaft in den bestehenden Bauwerken stecken. Allein im Block fünf nahmen die Erbauer an den ursprünglichen Plänen 50 000 Änderungen vor, die bis heute nicht vollständig dokumentiert sind. Zugleich fehlen vielfach die Qualitätsnachweise.
Angesichts dieser Probleme erscheint es auch Manfred Mertins, Direktor des für die Genehmigungen verantwortlichen SAAS-Instituts für Kerntechnik, unwahrscheinlich, daß durch den Einbau westlicher Regeltechnik die im Atomrecht geforderten Sicherheiten erreicht werden. Mertins: »Man kann schlechte Hardware nicht durch gute Software ersetzen.«
Trotzdem versuchen die jüngst gegründeten (DDR-)"Energiewerke Nord AG« und deren Auftragnehmer, die (Ost-)Berliner »Kraftwerks- und Anlagenbau AG« (KAW), mit Unterstützung des Ministeriums die Bauarbeiten soweit wie möglich voranzutreiben - auf Kosten des Staatshaushalts.
Schon zur Währungsunion Anfang Juli standen die beiden Firmen, trotz Erlaß der Altschulden in Höhe von zwölf Milliarden DDR-Mark bei der Staatsbank der DDR, mit zusammen 850 Millionen West-Mark in der Kreide. Mangels Eigenkapital gehen auch alle seitdem erbrachten Leistungen zu Lasten des Vermögens der Treuhandanstalt - Millionensummen, die in anderen Betrieben oder zur Finanzierung von Energiespartechniken gebraucht würden.
Unterstützung für ihr gewagtes Vorhaben bekamen die DDR-Atomwerker vor allem vom bundesdeutschen Kraftwerksbauer Siemens-KWU. »In engster Kooperation«, so KAW-Projektleiter Volker Eidamm, arbeite man derzeit an den notwendigen Anträgen für die Um- und Nachrüstung der Sowjetmeiler. Hätten die Anträge Erfolg, würde sich für Siemens ein Milliardengeschäft auftun: Alle osteuropäischen Länder planen eine Nachrüstung ihrer Sowjetreaktoren mit westlicher Sicherheitstechnik.
Wohl in der Hoffnung auf diesen Beistand erarbeitete die Energieabteilung aus Steinbergs Ministerium einen anspruchsvollen Finanzierungsantrag, mit dem, würde er genehmigt, die Energiewerke Nord bis Ende nächsten Jahres rund drei Milliarden Mark aus den Mitteln der Treuhand und dem Staatshaushalt für die Fortsetzung der Bauarbeiten zugewiesen bekämen.
Hätte das Vorhaben Erfolg, stünde die zukünftige gesamtdeutsche Regierung plötzlich als Erbauer kommerzieller Kernkraftwerke da. Denn die bundesdeutschen Stromerzeuger, wohl wissend um das hohe Risiko, lehnen bisher die Übernahme der Reaktorbaustellen ab. »Wir können«, stellte ein Sprecher des norddeutschen Stromkonzerns Preag klar, »die Verantwortung erst übernehmen, wenn eine bestandskräftige Genehmigung vorliegt.«
Die aber steht in den Sternen. Für die Kernkraftwerke in der DDR, versicherte Töpfers Staatssekretär Clemens Stroetmann, werde es im vereinten Deutschland »keinen sicherheitstechnischen Rabatt« geben.
Um trotzdem schnell selbst Geld verdienen zu können, wollen die Betreiberfirmen deshalb versuchen, mit dem seit einem Jahr fertiggestellten Block fünf in Greifswald möglichst bald wieder im »Probebetrieb« Strom ans Netz zu liefern, um ihn dann, so ein Sprecher, »ein paar Jahre später nachzurüsten«.
Doch auch daraus wird wohl nichts. Ausgerechnet die sicherheitstechnisch unverzichtbaren Instrumente für die Druckmessung erwiesen sich bisher als untauglich, wodurch, so ein SAAS-Bericht, »die zuverlässige Auslösung der Sicherheitsfunktionen beeinträchtigt werden kann«. Weil auf die Daten aus den insgesamt 760 Meßkanälen kein Verlaß ist, müssen die Geräte ständig neu justiert werde. Aber damit, so meint SAAS-Direktor Mertins, »hängt die Sicherheit nur noch von der Zuverlässigkeit der Betriebsmannschaft ab, das können wir nicht genehmigen«.
Wie berechtigt das Mißtrauen ist, demonstrierten die Greifswalder Atomwerker, wie vorletzte Woche bekannt wurde, gleich noch einmal selbst.
Als im Kern von Block fünf Anfang August die Meßkammern für den Neutronenfluß ausfielen, blieb dies von der Mannschaft einen ganzen Tag unbemerkt, eine spätere Meldung an die Aufsichtsbehörde vergaß man gleich ganz.
Zwar sorgte neutronenfangende Borsäure im Druckbehälter für die Unterbrechung der Kernspaltung, der Reaktor war kalt. Wäre jedoch die Borsäurezufuhr ausgefallen, hätte die Kettenreaktion teilweise wieder einsetzen können, ohne daß dies sofort aufgefallen wäre.
»In Greifswald«, kommentierte Atomkraftkritiker Sailer den Vorgang, »wurde wohl wieder im Blindflug geübt.« Minister Steinberg fliegt mit.
* Bei der Grundsteinlegung für das »Ersatzwärmekraftwerk"Greifswald.