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Ukraine »Wieder Sklaven Rußlands«

aus DER SPIEGEL 29/1994

Zurück in die Sowjetunion und in die Planwirtschaft sehnen sich die meisten Bewohner der Ost-Ukraine und der Krim, darunter viele Russen, die den Raketenbauer Leonid Kutschma, 56, am vorletzten Sonntag zum Präsidenten wählten.

Der Mann, der 1979 für die Entwicklung der SS-20 den Lenin-Preis empfangen hatte, empfahl sich mit dem Plädoyer für einen »einheitlichen Wirtschaftsraum aller GUS-Länder« und Russisch als gleichberechtigter Staatssprache in der Ukraine. Nur eine rasche Annäherung an Rußland helfe dem Land wirtschaftlich wieder auf, behauptete er.

In der ganzen Ukraine gewann Kutschma eine 52-Prozent-Mehrheit; der Verlierer Krawtschuk holte seinen Stimmenanteil von nur 45 Prozent vor allem im erst 1939 sowjetisierten Galizien, das auf staatlicher Unabhängigkeit von Rußland beharrt. Der Nationalist Pawlytschko in Lwow (Lemberg) - wo 94 Prozent der Wähler Kutschmas Gegenkandidaten bevorzugten - prophezeite: »Mit Kutschmas Machtantritt werden wir wieder zu Sklaven Rußlands.«

Zurück zu einem engen Verbund mit Rußland drängen offenbar auch die Wähler in Belorußland, welche ebenfalls am 10. Juli zu über 80 Prozent den Kolchoschef Alexander Lukaschenko, 39, zum Präsidenten kürten. Früher Polit-Instrukteur der KGB-Grenztruppen, stimmte er als einziger belorussischer Abgeordneter 1991 gegen die Auflösung der UdSSR.

Der Doppelsieg der Rußlandfreunde in Moskaus westlichem Vorland, dessen Bewohner in Armut abgesunken sind, gibt jenen Auftrieb, die auf die Einheit aller Ostslawen hoffen, gar auf die Renaissance eines Großrussischen Reiches.

Der Wahlerfolg Lukaschenkos gründete sich hauptsächlich auf seine Rolle als Korruptionsjäger. Mit den angekündigten Preiskontrollen und Staatseigentum in Industrie und Landwirtschaft kann Lukaschenko allerdings nur scheitern. Die Anziehungskraft Rußlands beruht auf dessen höherem Lebensstandard: Die Inflationsrate ist im Juni auf 4,8 Prozent gesunken, etwa 70 Prozent des Industriepotentials befinden sich jetzt mehr oder weniger in Privathand.

In Belorußland wie in der Ukraine wurden Preisfreigabe und Privatisierung kaum begonnen, beide Länder stecken in einer dramatischen Wirtschaftskrise. Kaum beachtet blieb, daß in der Ukraine immerhin die monatliche Preissteigerungsrate von 80 Prozent im Dezember auf 5,2 Prozent im Mai sank: Die Landeswährung Karbowanez ist dem Rubel gegenüber beinahe wertlos. »44 Prozent versteckte Arbeitslosigkeit und fast 40 Prozent Produktionsrückgang in der ersten Jahreshälfte« beschrieb Kutschma den Ruin des Landes.

Doch der Raketenmann versicherte nach der Wahl: »Ich habe nie und nirgends von der Wiederherstellung der Sowjetunion gesprochen.« Sonst würde er auch die Abspaltung der West-Ukraine riskieren. »Ich bin Präsident des ganzen Landes und nicht einzelner Regionen«, versprach er vorige Woche, er werde für eine »einige, souveräne und unabhängige Ukraine« arbeiten.

Kutschma gibt sich als ein Reformer wie Moskaus Premier Tschernomyrdin, zum Start offerieren die G-7-Staaten vier Milliarden Dollar. Er will die Subventionen für marode Staatsbetriebe kürzen, die Betriebssteuern senken und Privateigentum an Grund und Boden schaffen. Das versuchte er bereits als Premier. Nach elf Monaten aber scheiterte er im September am Parlament und am Präsidenten Krawtschuk.

Kommunist Simonenko, Chef der stärksten Fraktion im Kiewer Parlament ("Rada"), gab schon einen Warnschuß ab: »Kutschma muß erkennen, daß er für alle Gesetze die Zustimmung des Parlaments braucht, und wir bevorzugen eine vom Staat regulierte Volkswirtschaft.«

Die Verfassung der Ukraine, die noch aus Sowjetzeiten stammt, grenzt die Kompetenzen von Präsident und Parlament nur unklar ab. Kutschma-Vorgänger Krawtschuk prophezeit einen »blutigen Zusammenstoß«, wie ihn Moskau im Oktober vergangenen Jahres zwischen Präsident Jelzin und dessen Oberstem Sowjet erlebte.

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_112_ Rußland/Ukraine/Belorußland: Wirtschaftsdaten u. Karte

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