NACHRUF WILHELM PIECK 3. I. 1876 - 7. IX. 1960
Elf Jahre lang bewahrte ihn die Sozialistische Einheitspartei im Berliner Schloß Niederschönhausen auf, als unfreiwilligen Beweis der Tatsache, daß der rabiate Ulbricht-Bolschewismus seine Vorstellung vom Gipfel staatlicher Repräsentation nach jenem Grad der Bonhomie orientiert, der auch das »Papa Heuss«-Idol geprägt hat, entgegen den Intentionen seines Verkörperers freilich.
Wilhelm Pieck war zeit seines Lebens - so grimmig er sich auch als Proletarier gebärdete - ein Kleinbürger. Das schönere Leben des Sozialismus - für ihn bestand es aus Spitzendeckchen und schnörkeligen Möbeln, und als mit steigendem Parteiruhm auch die Einkünfte wuchsen, staffierte er sogleich seine Wohnung mit den Attributen spießigen Behagens aus.
Der Klassenkämpfer und Musterschüler des wissenschaftsgläubigen
Bolschewismus sah in dieser Neigung zu plüschener Kulisse keinen Widerspruch, konnte es nicht weil er frühzeitig gelernt hatte, daß es deutschen Kommunisten stets zum Wohle gereichte, wenn sie sich nach den Anführern der großen sozialistischen Oktober-Revolution zu richten wußten, die nicht nur ihre Ideologie, sondern auch ihren Geschmack aus dem 19. Jahrhundert herübergerettet hatten.
Er war ein alter Mann, mit einer Vorliebe für Gemütlichkeit, geistige Getränke und gute Zigarren, und erinnerte sich seiner frühen Taten als Kriegsdienstverweigerer und Spartakuskämpfer mit jener gedämpften Leidenschaft, mit der sein verewigter Vater zu Guben in der Niederlausitz weiland des Krieges 70/71 gedacht hatte.
Der Nepotismus, so alt wie die menschliche Gesellschaft, erwies sich als resistent auch gegen bolschewistische Prinzipien der Kaderauslese: Kinder und Schwiegerkinder des ergrauten Klassenkämpfers erhielten Amt und Pfründe.
Wilhelm Pieck war seines guten Rufes sicher. Da war niemand mehr, der sich rühmen konnte, Mitstreiter Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts gewesen zu sein, niemand, der so mannhaft wie er gegen die-Rechtsabweichler in der Vor-Weltkriegs-SPD zu Felde gezogen wäre.
Und, wenn sich auch manchmal unter den Genossen Zweifel regten, ob er nur seines Heldenmutes wegen den gewaltsamen Tod Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs überdauert hatte, so stand doch fest, daß der erste Chef der KPD nach dem Sieg über Hitler-Deutschland nur Wilhelm Pieck heißen konnte.
Er kam im Juni 1945 zurück nach Berlin. Der Reichstag, in dem er einst als KPD-Abgeordneter gesessen hatte, war zerstört. Eine Erinnerung, nichts weiter. Anderes war wichtiger: Es galt, eine neue Ordnung mit Rüschen und Plüsch auszustatten, darauf zu achten, daß zu seinem Geburtstag geflaggt wurde, und die Geschenke entgegenzunehmen.
Das war 1946: Wilhelm Pieck wurde 70 Jahre alt, und die von Grotewohl angeführte Ost-SPD legte sich ihm zu Füßen. Nach drei Jahren SED erfüllte sich der Traum des kleinbürgerlichen Revoluzzers: Er durfte, als Präsident, in ein veritables Schloß einziehen.
Er ließ sich photographieren: vor dem Schloß, in dem Schloß, mit Jungen Pionieren, mit den Maiden der Freien Deutschen Jugend. Die Wochenschau kam und filmte, und die Bürger der ersten deutschen Arbeiter- und Bauernmacht sahen: Wilhelm, den Landesvater, in und vor seiner überdimensionierten Gartenlaube als biedermännischen Repräsentanten des sowjetischsten aller Sowjet-Satelliten.
Aus einem der letzten Überlebenden der alten Rot-Front-Garde war ein Museumsstück des arrivierten Proletariats geworden. Jeder konnte es besichtigen.
Später sah man Wilhelm Pieck seltener und schließlich überhaupt nicht mehr. Noch saß er in seinem volkseigenen Schloß, die letzten drei Jahre seines Lebens aber huschten an ihm vorbei, ohne daß der Schlagflüssige Konturen wahrnahm oder zeigte.
Die Partei-Poeten drechselten derweil an der Legende vom großen, alten, weisen Proletarier, vom Hammer - und - Plüsch - Präsidenten, der dem unverschuldet in Not geratenen Bauern Gotthard Rehn aus Breitenau im sächsischen Kreis Dippoldiswalde tausend Mark Steuerschuld erließ.