Wilsons Rücktritt: Ist England verhext?
Im Unterhaus rätselten die Abgeordneten vor ihrem Mißtrauensvotum zur Finanz- und Wirtschaftspolitik der Labour-Regierung: »Wo ist Harold?«
Britanniens Premier Harold Wilson, dieser »ungewöhnlichste gewöhnliche Mann« (so seine von der Queen ins Oberhaus beförderte Privatsekretärin Lady Falkender), zelebrierte während der Debatte im Londoner Luxusviertel Chelsea mit Verleger George Weidenfeld seinen 60. Geburtstag. Er war, so resumierte ein Gast, »so heiter und gelassen, als sei das nicht seine Regierung, die da zu stürzen drohte«.
Wohl votierte der Regierungschef um 22 Uhr mit seiner Fraktion für seine Regierung, doch an jenem Donnerstag wußten Queen und Privatsekretärin bereits, daß Harold Wilson fünf Tage später, nach 13 Jahren als Chef der Labour-Partei und nahezu acht Jahren in der Downing Street, »Platz machen wollte für einen anderen«.
In den Stunden nach den »dramatischen Nachrichten« (so die BBC in Sondermeldungen), die Berichte von IRA-Bombenanschlägen auf Londons U-Bahn-Züge verdrängten, notierte die Londoner Börse Aktienverluste um Hunderte Millionen Pfund, die Bank von England zudem eine zunehmende Schwächung der Währung, über die Liberalenführer Thorpe noch vor dem Wilson-Entscheid im Parlament erklärt hatte: »Wir müssen auch einen Kollaps bedenken.«
»Furchtbares scheint uns bevorzustehen«, orakelte der konservative Abgeordnete John Michael Gorst, der sich die »unwiderrufliche Entscheidung« des Regierungschefs nicht anders erklären konnte als mit einer bevorstehenden Wirtschaftskatastrophe« vor der Harald Wilson beizeiten Distanz gesucht habe. Nicht recht glauben mochten die Wilson-Gegner seine sieben Manuskriptseiten umfassende Erklärung, wonach er bereits im März 1974 den Entschluß gefaßt habe, nach zwei Amtsjahren zu demissionieren, damit der Nachfolger für »die verbleibenden Jahre des Parlaments seine oder ihre Strategie ausarbeiten kann«.
Nicht so sehr der Rücktritt des Premiers -- Ex-Minister Eric Heffer hatte Wilson bereits im Februar »eine gewisse Amtsmüdigkeit« nachgesagt und dessen Rücktritt »vielleicht schon bis Ende des Jahres« für möglich gehalten -- verwirrte das Kabinett, sondern der Zeitpunkt.
In der ersten April-Woche muß Schatzkanzler Denis Healey sein Budget vorlegen. Noch in diesem Sommer will die Labour-Regierung mit den Gewerkschaften ein neues Abkommen über die Lohn- und Preispolitik aushandeln. Im Unterhaus enthielten sich 37 Labour-Linke bei der Abstimmung über eine Reduzierung der öffentlichen Ausgaben der Stimme, bewirkten einen Sieg der Konservativen und belegten mit dieser »unheiligsten Allianz in der Geschichte des Parlaments« (Wilson) die Zerrissenheit der Partei.
Wilson geißelte die Rebellen als »Schoßhunde« der Konservativen. Schatzkanzler Denis Healey, in jungen Jahren Mitglied der kommunistischen Partei, wurde von Parteigenossen als »Stalinist« attackiert, er selbst beharrte: »Keine Regierung kann eine Regierung sein, wenn sie sich von einer Minderheit erpressen läßt -- wir werden nicht kapitulieren.« Damit verminderte er vermutlich seine Chancen bei der Nachfolge-Kandidatur.
Denn am Donnerstag dieser Woche entscheiden 317 Labour-Abgeordnete« wen sie zum vierten Labour-Premier in der englischen Geschichte benennen wollen:
* James Callaghan, 63, Außenminister, davor Steuerbeamter, unter Wilson nacheinander Schatzkanzler und Innenminister. Er kandidierte bereits 1963 gegen Harold Wilson um das Amt des Parteiführers.
* Roy Jenkins, 55, Innenminister und Polit-Autor. Er trat 1972 aus Protest gegen die anti-europäische Politik der Partei als Vizechef der Fraktion zurück.
* Michael Foot, 62, Arbeitsminister und das »sozialistische Gewissen« der Partei ("The Times"). Der Ex-Redakteur und Anti-Europäer gilt als bester Redner des Parlaments.
* Anthony Wedgwood Benn, 50, Energieminister, der 1960 seinen ererbten Adelstitel ablehnte, um im Unterhaus bleiben zu können. Er fordert Verstaatlichungen und Importrestriktionen.
* Anthony Crosland, 57, Umweltminister, Oxford-Absolvent und Verfasser von »The Future of Socialism«.
* Denis Healey. 58, Schatzkanzler und von 1964 bis 1970 Verteidigungsminister, der sich erst zur Kandidatur entschließen mochte, »weil mich eine wachsende Zahl meiner Freunde im Parlament dazu aufgefordert hat«.
Die Wilson-Vertraute, Lady Falkender (vormais Marcia Williams), erinnerte sich an den Kampf um die Nachfolge des 1963 verstorbenen Hugh Gaitskell und daran, »wie sich die Labour-Partei in jener Zeit benommen hat: Es war hart, brutal und unangenehm, wo nichts zurückgehalten wurde und viele Leute tief verletzt wurden«.
Nur über eine Stimme Mehrheit verfügt Labour derzeit im Parlament gegenüber allen anderen Kontrahenten. Bei zwei Nachwahlen in der vorletzten Woche gewannen die Konservativen rund zehn Prozent der Stimmen dazu. Weitere derartige Stimmenverluste würden Neuwahlen nahezu unumgänglich machen -- eine Abstimmung, die England in dieser kritischen Phase und nach zwei Parlamentswahlen 1974 »jetzt so dringend benötigt wie ein Loch im Kopf« ("Daily Mau").
Harold Wilson hatte 1966 noch 47,9 Prozent, acht Jahre später jedoch nur noch 39,3 Prozent der Stimmen gewinnen können -- ein Führer, mit dem sich das Volk in Liverpool« Leeds und Hull identifizieren konnte: Der ehemalige Oxford-Professor ißt Roastbeef und Yorkshire-Pudding am liebsten, verabscheut Fracks und die Côte d"Azur und wandert mit Paddy« seinem Hund, und Mary. seiner Gedichte schreibenden Ehefrau, auf den Scilly-Inseln.
Diese Wilson-Fans verübelten ihm nicht, daß er einmal nicht in die EG wollte und dann wieder doch. Ein cleverer Politiker, der es am besten verstand, so Zeitungsherausgeber Cecil King, »einen Mann gegen den anderen auszuspielen«.
Das genügte nicht. Vor zwei Jahren, als er zum dritten Male die Macht im Staat übernahm, gab es 618 000 Arbeitslose. heute sind es doppelt soviel. Das Pfund büßte ein Viertel der Kaufkraft ein. Statt 6,15 Mark erhalten die Briten auf dem internationalen Finanzmarkt jetzt lediglich 4,87 Mark für ihr Pfund. Die Inflationsrate beträgt noch immer um 23 Prozent, die verstaatlichten Betriebe wurden im vergangenen Jahr mit Zuschüssen in Höhe von rund 8000 Millionen Pfund vor dem Bankrott bewahrt.
»Wenige Premierminister«, urteilte die »Times«, »haben während derart deprimierender und elender Jahre regieren müssen wie Harald Wilson.« Die IRA-Terroristen wollen Irlands Wiedervereinigung durch Bomben erreichen, die protestantischen Extremisten sie durch Bomben verhindern. Die Labour-Regierung, die in der Opposition noch Friedenspläne offerierte, muß nun -- nach 600 Toten und 5000 Verletzten in den vergangenen zwei Jahren -- erklären: »Eine Sofort-Lösung existiert nicht.« Die Schotten drängen nach Eigenstaatlichkeit und größerem Anteil am Ölprofit.
Viele Briten, dem Aberglauben eh zugeneigt, halten ihre Insel jetzt wirklich für verhext. Die am Freitag beschlossene Trennung der Prinzessin Margaret von ihrem Tony nimmt den illusionären Glanz von der Krone, die angebliche Homosexuellenaffäre des Liberalenführers Jeremy Thorpe verwirrt auch die Liberalen.
Und mitten im Sturm ging Lotse Wilson von Bord. Er hielt das nicht für Flucht vor der Verantwortung; Gerüchte über Krankheit wies er zurück: »Ich bin heute so fit wie vor 20 Jahren.« Gegen Nigel Dempster, einen Kolumnisten der »Daily Mail«, will der Premier klagen, weil der Journalist einen Artikel über Rücktrittsspekulationen mit neun Worten über die Trinkgewohnheiten des Premiers angereichert hatte. Von der »Sunday Times« hatte Wilson nach seiner letzten Wahlniederlage 225 000 Pfund für den Abdruck seiner Erinnerungen der Jahre 1964 bis 1970 gefordert.
Die Wilson-Jahre waren der »große politische Balanceakt eines Mannes« ("The Times"), der seine Sozialisten von einer Partei des Protests zu einer Partei der Macht formierte -- seither sind die Konservativen nicht mehr die selbstverständliche Regierungspartei. Dabei allerdings wurden, befindet der Linke Heffer, »viele unserer sozialistischen Gedanken schlicht dem politischen Opportunismus geopfert«.