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»Wir ändern kein Wort, kein Komma«

Bonn hat einen neuen Fall von Geheimnisverrat. Rainer Barzel besitzt eine Kurzfassung jener geheimen Verhandlungs-Protokolle, die während der deutsch-sowjetischen Vertragsverhandlungen in Moskau aufgenommen wurden. Kanzler Brandt fürchtet, der Oppositionsführer könnte mit den Notizen politischen Mißbrauch treiben.
aus DER SPIEGEL 17/1972

Mitten im Gespräch griff Rainer Barzel in die Jackentasche. Unvermittelt zog der Oppositionsführer beim Spitzentreffen im Bonner Schaumburg-Bungalow, wo Kanzler Brandt seine Widersacher am vergangenen Mittwoch doch noch für ein Ja zu den Ostverträgen gewinnen wollte, ein unansehnliches Schriftstück hervor. »Wie ein Erpresser« (ein Teilnehmer) hantierte der Unionschrist mit dem Papier.

Der Kanzlerkandidat, sonst stets um gepflegt .staatsmännisches Auftreten bemüht, bediente sich eines billigen Tricks. Barzel, der seit Monaten -- und auch an jenem Abend -- mit Nachdruck Einblick in die Protokolle der Moskauer Verhandlungen verlangt hatte, drückte nun dem verblüfften Kanzler fünf mit Schreibmaschine engbeschriebene Seiten in die Hand. Überschrift: »Persönlich -- vertraulich. Aus den Protokollen zum. Moskauer Vertrag«.

Barzel erläuterte·. »Das haben wir anonym zugeschickt bekommen. Können Sie feststellen, ob das authentisch ist?« Der Christen-Führer scheinheilig: »Wir nehmen ja an, das ist ein Falsifikat.«

Willy Brandt nahm das Schriftstück konsterniert entgegen.

Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen um die Bonner Ostverträge anderthalb Wochen vor der Wahl in Baden-Württemberg -- hatte der in die Defensive gedrängte Rainer Barzel einen Überraschungscoup gelandet.

Außenminister Scheel, der gemeinsam mit dem Kanzler und dem Kanzleramtsminister Horst Ehmke die Oppositionsspitze empfangen hatte, glaubte schon beim ersten Blick auf Barzels Mitbringsel zu erkennen, daß es sich um Fragmente der Original-Niederschriften aus den Moskauer Verhandlungen handelt. Nachdem Barzel, CDU-Schatten-Außenminister Gerhard Schröder und CSU-Landesgruppenchef Richard Stücklen den Kanzleramts-Park verlassen hatten, glaubte der AA-Chef auf lange Nachforschungen nach der Authentizität des Papiers verzichten zu können.

Scheel ließ sich auch von der obskuren Aufmachung des Schriftstückes nicht täuschen: fünf DIN-A4-Seiten, unübersichtlich engbeschrieben und mit zahlreichen Tippfehlern. Statt eines Hinweises auf den Absender trägt die letzte Seite in Großbuchstaben die merkwürdige Mahnung-. »Bitte nachprüfen und verantwortlich handeln, ehe es zu spät ist.«

Die Berater von Kanzler und Außenminister gehen davon aus, daß der publizistische Komplice der CDU/CSU, Axel Springer, in seinen Blättern den Wortlaut des Papiers veröffentlichen wird. Damit würde die bisher unaufgeklärte Serie mysteriöser Verratsfälle in Bonn fortgesetzt, die mit der Veröffentlichung des Bahr-Papiers durch Springer-Zeitungen im Juni 1970 begonnen hatte. Wenig später wurden Texte des Moskauer Vertrages vorzeitig publiziert. Und auch die Berlin-Vereinbarung zwischen BRD und DDR wurde der Oppositionspresse zugespielt. Nach den Verrätern, die nun, so scheint es, wieder zugeschlagen haben, fahndet die Bundesregierung noch heute.

Am Freitag letzter Woche kündigte Bundeskanzler Brandt auf einer Wahlkundgebung in Stuttgart für die nächsten Tage »Sensationsmeldungen« an. Brandt zum SPIEGEL: »Die angeblichen Protokolle spielen »dabei auch eine Rolle.«

In der Tat hat die CDU das Barzel-Papier inzwischen oppositionsnahen Journalisten zugespielt. Die Protokollauszüge sind so zusammengeschnitten, daß dem uninformierten Leser der Eindruck suggeriert wird, ein unnachgiebiger Außenminister Gromyko habe den Bonner Unterhändlern Egon Bahr und Walter Scheel brutal seinen Willen aufgezwungen.

Barzels anonymer Informant montierte Gesprächsteile aus den Verhandlungen von Kanzleramts-Staatssekretär Egon Bahr, Außenamts-Staatssekretär Paul Frank und Bundeskanzler Willy Brandt mit Sowjet-Außenminister Andrej Gromyko und dem damaligen Leiter der III. Europäischen Abteilung im Moskauer Außenamt« Walentin Falin, heute Botschafter der UdSSR in Bonn.

Die Auszüge decken den gesamten Verhandlungszeitraum, von Bahrs Auftaktgespräch am 30. Januar 1970 bis zur Schlußunterhaltung zwischen Brandt und Kossygin am 12. August 1970, dem Tag der Unterzeichnung des Vertrages.

Gleich zu Beginn des Werkes wird Egon Bahr als Unterhändler vorgestellt, der seinem sowjetischen Gesprächspartner Gromyko augenzwinkernd einen Grenzvertrag zugesteht, obwohl offiziell immer nur von einem Gewaltverzichtsvertrag die Rede ist. Im übrigen erscheint der Kanzleramts-Staatssekretär als ein Mann, der bemüht ist, sich bei den Sowjets auf plumpe Weise anzubiedern.

Vor allem aber versteht der Protokoll-Monteur den Eindruck zu erwecken, bei den Schlußverhandlungen zwischen Scheel und Gromyko im Sommer 1970 habe »die deutsche Delegation versagt. Insbesondere sei es Scheel und seinen Helfern nicht gelungen, den Sowjets jene entscheidenden Konzessionen abzuringen, die das Bahr-Papier zu einem Vertrag machen sollten, ·der Aussicht auf Ratifizierung im Deutschen Bundestag hat.

Bonn wollte in die Präambel den Hinweis einfügen, daß ein Friedensvertrag nicht in Sicht sei, um damit die Notwendigkeit einer vorläufigen Grenzanerkennung im Vertrag zu rechtfertigen. Gromyko und Falin lehnten ab.

Hartnäckig plädierte Scheel dafür, aus dem Grenzartikel des Bahr-Papapie?s** jenen Halbsatz zu entfernen, in dem die Bundesrepublik ausdrücklich die Oder-Neiße-Linie und die Grenze zwischen BRD und DDR als unverletzlich anerkennt. Der Bonner Unterhändler hatte es mit der allgemeinen Respektierung aller Grenzen in Europa bewenden lassen wollen. Doch der sowjetische Außenminister sperrte sich.

Der Anonymus zitiert Scheel vom 4. August 1970: »Es wäre unehrlich und ich würde Sie irreführen, wenn ich nicht sagen würde, daß, ohne diesen Halbsatz zu entfernen, der Vertrag rechtlich in Gefahr käme.« Wenig später läßt er Gromyko antworten: »Wir ändern kein Wort, kein Komma.« Der Halbsatz blieb im vierten Absatz des Grenzartikels.

Ein Scheel-Berater heute: »Das war damals doch nur der Aufbau einer Verhandlungsposition.« Selbst die Opposi-

* Am 2. August 1970 in Moskau.

** »Sie betrachten heute. und künftig die Grenzen aller Staaten in Europa als unverletzlich, wie sie am Tage der Unterzeichnung dieses Vertrages verlaufen, einschließlich der Oder-Neiße-Linie. die die westgrenze der Volksrepublik Polen bildet, und der Grenze zwischen der BRD und der DDR.«

tion nahm bis zum Abend im Bungalow an diesem Halbsatz denn auch keinen Anstoß.

Einen Verhandlungserfolg Scheels konnte auch der unbekannte Verräter nicht kaschieren. Mit Zitaten vom 29. Juli 1970 weist er selber naoh, wie hartnäckig Scheel dafür stritt, die im Bahr-Papier zusammenhanglos nebeneinander stehenden Gewaltverzichts- und Grenzartikel miteinander zu verknüpfen, um klarzustellen, daß die Respektierung der Grenzen durch Bonn eine Folge des vorher ausgesprochenen Gewaltverzichts ist, eine einvernehmliche Änderung der Grenzen also vertragskonform sein muß. Nach langem Sträuben gab der Sowjetmensch schließlich nach.

Nach dem Abzug der Oppositionellen aus dem Regierungs-Bungalow rühmte sich Scheel seines -- selbst in Barzel"s Kurzfassung erkennbaren -- harten Moskauer Polit-Pokers: »War ich nicht gut?«

Gleichwohl registrierten die Spitzen der sozialliberalen Koalition bestürzt, daß intime Details der deutsch-russischen Vertragsdiskussion auch der Opposition bekannt sind, die nun vielleicht doch noch -- und sei es mit riskanten Kurzschlüssen -- zu den langentbehrten Anti-Vertrags- Argumenten kommen könnte.

Den ganzen Donnerstag über verglichen AA-Experten im Geheimarchiv des Amtes die in zwölf Aktenordnern gesammelten Niederschriften der Moskauer Verhandlungen mit der von Barzel überreichten Kurzfassung. Am Freitagvormittag teilten sie Scheel das vom AA-Chef bereits vermutete Ergebnis mit: Es handele sich um eine Montage von Original-Auszügen der Protokolle. die freilich aus dem Zusammenhang gerissen seien und den Verhandlungsablauf nur äußerst lückenhaft wiedergäben. An einigen Stellen seien auch »Füllsel« (ein AA-Beamter) hinzugeschrieben und der Sinn einiger Aussagen durch eine Veränderung ihrer Reihenfolge entstellt.

Die Beamten befanden, die Protokoll-Komposition gebe den Ablauf der Diskussion nicht korrekt wieder. Ebenso sicher sind sich die Prüfer aber auch darüber, daß der Komponist oder sein Informant Einblick in die streng geheimen Protokolle hatte. Ein Scheel-Berater: »Von Kennern fabriziert.«

Das von den AA-Kennern fabrizierte Urteil soll dem Oppositionsführer am Montag dieser Woche zugestellt werden. Noch am Freitagabend hofften die Koalitionspartner, ihre Expertise werde den Oppositionsführer davon abhalten, die amtlich als unzuverlässig abqualifizierten Darstellungen für die Veröffentlichung in Springers Oppositionspresse freizugeben.

Inzwischen machen sich Scheele Beamte wieder einmal auf die Suche nach einem Verräter im eigenen Hause. Doch auch diesmal haben sie wenig Hoffnung, den Täter überführen zu können.

Die erfolglosen Fahnder hegen lediglich einen vagen Verdacht:

An allen Verhandlungen nahm als politischer Beobachter ein Diplomat der westdeutschen Botschaft in Moskau teil, der zugleich häufig Protokoll zu führen hatte. Weil Botschaftsrat Joachim Peckert nie einen Hehl daraus gemacht hat, daß ihm die ganze Richtung der Ostpolitik nicht paßt, und er zudem als strammer CSU-Mann gilt, schöpften die Rechercheure nun neue Hoffnung.

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