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»Wir alle sind gewaltbereit«

Die Genozid-Forscherin Birthe Kundrus, 44, über die Frage, unter welchen Bedingungen treusorgende Familienväter zu Massenmördern werden können
aus DER SPIEGEL 11/2008

SPIEGEL: Ist derzeit irgendwo in der Welt ein Völkermord im Gange?

Kundrus: Das Morden in Darfur kommt dem wohl am nächsten. Dabei ist dort nicht mehr klar, wer gegen wen kämpft. Zunächst waren dort arabische Reitermilizen über die afrikanische Zivilbevölkerung hergefallen. Daraus hat sich ein ganzes Konglomerat von Konflikten entwickelt. Entgrenzte Gewalt ist dort zu einer Lebensform geworden.

SPIEGEL: Landläufig zählen die Massenverbrechen an den Armeniern in der Türkei 1915 oder die Gemetzel in Ruanda zu den Völkermorden. Was hebt den Holocaust aus dieser Reihe heraus?

Kundrus: Er ist singulär. Die Zahl der Opfer ist gewaltig. Sie wurden zum Teil mit industriellen Methoden umgebracht und über ihren Tod hinaus verwertet. Zu diesem Zweck wurde ein ganzer Staatsapparat mobilisiert. Diese Faktoren zusammengenommen machen die Shoah einmalig.

SPIEGEL: Was ist der gemeinsame Nenner, der in der Geschichte jedes Völkermordes wieder auftaucht?

Kundrus: Es gibt eine Gruppe von Leuten, die eine andere Gruppe als Problem sieht. Sie soll verschwinden. Man darf sich aber nicht vorstellen, dass dort eine kleine Elite der Mächtigen sich so etwas ausdenkt und das Volk dann nur noch die Befehle ausführt. Die Täter vor Ort ergreifen die Initiative. Im Nationalsozialismus bemühten sich viele, »dem Führer entgegenzuarbeiten«.

SPIEGEL: Ist die Voraussetzung zum Morden nicht vor allem eine menschenverachtende Ideologie?

Kundrus: Das ist ein zentraler Faktor. Die ideologische Mobilisierung gelingt vor allem dort, wo sie bestehende Ressentiments - wie den deutschen Antisemitismus in der Vorkriegsgesellschaft - anspricht. Die Täter erklären eine Gruppe von Menschen zum Sündenbock. Es findet eine Täter-Opfer-Umkehr statt: Nicht wir sind die Schuldigen, sondern die dort, die uns schaden. Das Massaker wird zu einem Akt der Verteidigung.

SPIEGEL: Können Sie das am Beispiel Ruanda erklären?

Kundrus: Viele Hutu fühlten sich dort durch Tutsi bedroht. Tatsächlich gab es ja jahrelang einen schwärenden Bürgerkrieg. Frieden könne es nur geben, wenn die Tutsi verschwunden seien, ließ die Hutu-dominierte Regierung verbreiten. »Tötet die Tutsi-Kakerlaken«, schallte es aus dem Radio. Erlösung durch Reinheit - das versprechen völkermörderische Ideologien immer.

SPIEGEL: Und was führt dazu, dass ganz normale Männer zur Waffe greifen und unschuldige Nachbarn umbringen?

Kundrus: Sie gehen davon aus, dass ganz normale Männer das eigentlich nicht machen. Aber wer sollte das sonst tun?

SPIEGEL: Psychopathen.

Kundrus: Hunderttausende Psychopathen? Gewaltbereitschaft ist eine anthropologische Konstante. Wir alle haben sie. Sie kann unter bestimmten Bedingungen hervorbrechen. Das Problem von Littell ist: Auf der einen Seite will er das mit seiner Figur Max Aue zeigen. Aber gleichzeitig weicht dieser Mensch sehr von der Norm ab. Er unterhält ein inzestuöses Verhältnis zu seiner Schwester und hat seine Mutter umgebracht.

SPIEGEL: Was geht denn während eines Massakers in der Gruppe der Täter vor?

Kundrus: An dem Massaker von My Lai, als amerikanische Soldaten 1968 in Vietnam 500 unbewaffnete Zivilisten auslöschten, lassen sich einige Mechanismen ablesen: Die GIs gingen mit großer Angst in dieses Dorf, sie mussten damit rechnen, auf Guerillas zu treffen. Es war nicht ihr erster Einsatz, sie waren wahrscheinlich abgestumpft. Dazu kommt, dass die mittlere Führungsebene getötete Vietnamesen bei solchen Einsätzen erwartete - als eine Art Erfolgsbilanz. Sicher erlebten die jungen Leute auch eine Art Selbsterhöhung, als Herren über Leben und Tod.

SPIEGEL: Spielt der Druck der Gruppe eine Rolle?

Kundrus: Das ist ein ganz entscheidender Faktor. Niemand wollte sich zum Außenseiter machen, indem er nicht an dem Gemetzel teilnahm. Es gab einen einzigen Hubschrauberpiloten, der Vietnamesen sogar rettete.

SPIEGEL: Können Einzelne, die sich verweigern, das Gemetzel aufhalten?

Kundrus: Die gesamte Aktion ist durch Einzelne kaum aufzuhalten, wenn sie erst mal in Gang gekommen ist. 1942 hätte vielleicht nur noch Adolf Hitler den Holocaust beenden können.

SPIEGEL: Littell legt ja in seinem Buch nahe, dass sich solche Ereignisse jederzeit wiederholen können. Kann es noch einmal einen Holocaust geben?

Kundrus: Die Geschichte wiederholt sich nicht. Auf der anderen Seite, sage ich: ja. Wenn die Bedingungen stimmen, kann es wieder zu einer extremen Entgrenzung von Gewalt kommen. Wir sind nicht besser als unsere Vorfahren.

SPIEGEL: Jeder kann zum Massenmörder werden - entlastet der Vergleich der Genozide die Deutschen?

Kundrus: Nein. Eher umgekehrt. Die Deutschen reihen sich ein, sie sind genauso schlecht wie alle anderen.

INTERVIEW: JAN PUHL, KLAUS WIEGREFE

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