»Wir bitten die Welt jetzt um Geduld«
SPIEGEL: Sir Arnold, in Großbritannien steigen die Preise derzeit mit einer Rate von etwa 30 Prozent, die Lohnforderungen schnellen auf 40 und 50 Prozent Zuwachsrate, die Arbeitslosigkeit nimmt zu, und der Kurs des Pfundes bricht zusammen. Kollabiert Englands Wirtschaft?
WEINSTOCK: Das war keine Frage, sondern eine Rede, mit der ich nicht übereinstimme. Sicher haben wir Inflation, sicher ist die Inflationsrate zu hoch, sicher beeinträchtigt das unsere Wettbewerbsfähigkeit, sicher fällt der Pfundkurs. So kann es nicht weitergehen. Aber noch ist der Punkt des Kollapses nicht erreicht.
SPIEGEL: Wann ist es soweit?
WEINSTOCK: Unter bestimmten Bedingungen ist es bis zu diesem Punkt nicht mehr weit, fürchte ich.
SPIEGEL: Geht England bankrott? WEINSTOCK: Länder gehen, anders als Individuen, nicht bankrott. Wir werden auch die bevorstehende Krise überleben. Wir bitten die Welt jetzt um etwas Geduld und Verständnis. Ich denke, wir können darum bitten, denn wir haben der Welt eine Menge gegeben: die Wertschätzung der Freiheit des einzelnen, hohe Standards individuellen Verhaltens und einer zivilisierten Gesellschaft, Gerechtigkeitsideale und moralische Werte.
SPIEGEL: Diese Kategorien dürften jetzt kaum verfangen.
WEINSTOCK: Am Ende werden sie uns helfen. Wir haben einige Schwierigkeiten. Ich will nicht sagen, daß sie nur marginal sind, sie sind aber weniger wirtschaftlich als politisch. Wir messen den demokratischen Rechten einen so hohen Wert zu, daß wir eine Effizienzminderung der Planung und Organisation der Regierung in Kauf nehmen. Unser politisches System besteht vor allem darin, daß die Politiker versuchen, den Wählern vor der jeweiligen nächsten Wahl zu gefallen -- in einem Maß, das für das Wohl der Bevölkerung überzogen ist. Deshalb ist die Wirtschafts- und Industriepolitik der Regierung nie hinreichend langfristig ausgerichtet worden. Laufend ist die Politik verändert worden, dabei fehlte das Verständnis dafür, wie die Industrie wirklich funktioniert.
SPIEGEL: In ihrem eigentlichen Job waren Englands Manager aber auch nicht gerade erfolgreich.
WEINSTOCK: Warum nur die englischen? Meines Wissens hat auch Volkswagen riesige Verluste gemacht. Offenbar gibt es auch in Deutschland erfolglose Manager.
SPIEGEL: Sicherlich. Aber immerhin passiert dort etwas: Der Konzern brachte in kurzer Zeit neue Modelle heraus, mühte sich um mehr Produktivität, anstatt -- wie British Leyland -- die Regierung um Staatszuschüsse zu bitten.
WEINSTOCK: Der letzte Punkt geht an Sie, das gebe ich zu. Aber, allgemein gesprochen, ist Ihre Kritik an den britischen Unternehmen unfair.
SPIEGEL: Wer ist dann schuld daran, daß die Industrie der kontinentalen Konkurrenz in manchen Branchen nicht gewachsen ist? Die Gewerkschaften?
WEINSTOCK: Nicht einzelne Gruppen oder Institutionen sind für unsere Probleme verantwortlich zu machen. Die Gewerkschaften sind nicht verrückt. Sie wissen sehr gut, welches die wichtigen Realitäten des Lebens sind. Die Gewerkschaftsführer haben bestimmte Präferenzen, aber sie sind intelligente Männer, man kann ihnen Zusammenhänge erklären, man kann mit ihnen argumentieren, und man kann eine Art von Konsens erreichen. In diesem Land gibt es ein sehr breites Meinungsspektrum. Aber in der Mitte hatte eine große Mehrheit annähernd gleiche Ziele. Diese Mitte ist in verschiedene Richtungen versprengt. SPIEGEL: Und die beiden Parteien? WEINSTOCK: Wir hatten früher ein Zweiparteien-System, aber das gibt es längst nicht mehr. Die Labour-Party ist jetzt eine Koalition von weit auseinanderstrebenden Interessen und Gruppen. Das gilt auch für die Konservativen. Auch ihre Ansichten über Wirtschafts- und Sozialentwicklung passen nicht mehr ineinander. Und das ergibt eine Konfusion in diesem Land, die wieder ausgeräumt werden muß.
SPIEGEL: Wann wird das gelingen. wann wird es den von Ihnen vermißten Konsens geben?
WEINSTOCK: Es ist sehr schwer zu sagen, welches Ereignis zum Katalysator wird, welches Ereignis die Situation umdrehen und zu dem notwendigen Konsens führen wird. Aber der Druck der wirtschaftlichen Fehlentwicklung, die dem Versagen der Politik folgte, wird in der näheren Zukunft dafür sorgen, daß die Menschen jene Entscheidungen treffen, die sie jetzt nicht treffen wollen.
SPIEGEL: Was wird -- oder muß -- passieren?
WEINSTOCK: Man kann sich eine Vielzahl höchst unangenehmer Situationen vorstellen. Die Menschen werden die Folgen dessen, was jetzt passiert. sehen, und sie werden sich der Tatsache bewußt, daß die ganze Entwicklung nicht mehr vernünftig verläuft. Die Briten werden sich bei irgendeinem Punkt ihrer natürlichen Neigung entsinnen, sich in einer zivilisierten Art und mit common sense zu benehmen. Das wird schon in den nächsten Monaten fällig werden.
SPIEGEL: Was sollte Ihrer Meinung nach die Regierung tun?
WEINSTOCK: Da fragen Sie den falschen Mann, ich bin Manager, nicht Minister. Die politische Situation muß sich soweit entwickeln, daß einschneidende Regierungsmaßnahmen in dieser Lage von der Bevölkerung getragen werden. Wir brauchen eine soziale Aussöhnung. Wir müssen wieder die Verpflichtung akzeptieren. unser Verhalten auf das Wohl der Gemeinschaft einzustellen.
SPIEGEL: Ist die Regierung schon so schwach?
WEINSTOCK: Wir haben in den letzten Jahren nie eine neue Regierung gewählt, sondern nur ein altes Kabinett abgewählt. Unsere jetzige Regierung wurde nur mit 39 Prozent der Stimmen gewählt, von der gesamten wahlberechtigten Bevölkerung stimmten gar nur 28 Prozent für sie. Obgleich sie im Unterhaus eine Mehrheit hat, ist sie eigentlich eine Minderheitenregierung.
SPIEGEL: Sind Regierung und politische Verhältnisse auch daran schuld, daß die englischen Unternehmen häufig im Vergleich zu französischen oder deutschen Firmen unproduktiv arbeiten?
WEINSTOCK: Ja. Das Fehlen eines verläßlichen Orientierungsrahmens ist dafür verantwortlich, daß zu wenig investiert wurde und, in einem gewissen Maß, auch für die industrielle und soziale Unruhe. Aber es ist mehr erreicht, als es nach der Propaganda jener, die Großbritanniens Industrie schlecht zu machen versuchen, aussehen mag. Unsere Krise ist vor allem eine politische Krise, eine Führungskrise.
SPIEGEL: Haben die Unternehmer nicht auch versagt, etwa indem sie ihren Arbeitnehmern Mitsprache, Mitbestimmung, Mitbeteiligung verweigerten?
WEINSTOCK: Diese Herausforderung, da gebe ich Ihnen recht, ist von der britischen Industrie nicht erkannt und angenommen worden. Zweifellos haben viele Manager ihre Pflichten und Aufgaben noch nicht voll begriffen. Deshalb ist auch manche Klage meiner Kollegen über den politischen Führungsmangel unsinnig. Sie selbst müssen die Zustimmung ihrer Mitarbeiter gewinnen, ihren Respekt und ihr Vertrauen. Diese Notwendigkeit haben viele von uns noch nicht begriffen.