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»WIR FORDERN DIE ENTEIGNUNG AXEL SPRINGERS«

aus DER SPIEGEL 29/1967

SPIEGEL: Herr Dutschke, Sie studieren an der Freien Universität und gelten als einer der intellektuellen Urheber der Studentenunruhen in Berlin.

DUTSCHKE: Ich denke, daß Personen gesellschaftliche Konflikte aktualisieren, aber nicht produzieren können. Ich bin in dieser Auseinandersetzung zwischen der Obrigkeit und den antiautoritären Studenten von West-Berlin einer der Studentenführer, wenn Sie so wollen. Aber ich könnte diese Rolle nicht spielen, wenn es die vielfältigen Konfliktsituationen studentischen Lebens nicht gäbe.

SPIEGEL: Es ist die Rolle eines Revolutionärs, die Sie spielen?

DUTSCHKE: Ich denke, daß sich heute - die Bezeichnung Kommunist, Sozialist oder was auch immer besagt dabei nichts mehr - derjenige als Revolutionär begreifen muß, der durch intellektuelle Arbeit und sinnliche Erfahrungen zu der Erkenntnis kommt, diese Gesellschaft kann und soll verändert werden. Diese Gesellschaft ist unfähig, sich aus sich heraus qualitativ zu verändern.

SPIEGEL: Warum gehen Sie nicht in eine Partei, um Veränderungen zu bewirken?

DUTSCHKE: Die Parteien lassen sich nur noch als Instrumente der Exekutive benutzen. Wie steht es um die innerparteiliche Demokratie bei CDU und SPD? Wo ist da noch Selbsttätigkeit der Parteimitglieder? Worin drückt sich die aus? Was geschieht auf den Parteitagen? Die Parteitage von CDU und SPD entsprechen den stalinistischen Parteitagen der KPdSU der dreißiger Jahre: keine Selbsttätigkeit von unten, nur noch Manipulation von oben; Führer, die keinen Dialog mit ihrer Basis führen; verselbständigte Führungselite, die es gar nicht mehr will, daß eine Diskussion stattfindet - weil nämlich die praktisch-kritische Diskussion Ausgangspunkt der Infragestellung der bürokratischen Institutionen wäre. Und das will man nicht. Die Parteien sind nur noch Plattformen für Karrieristen.

SPIEGEL: Die ganze Richtung paßt Ihnen nicht?

DUTSCHKE: Ich denke, daß die Parteien und das Parlament nicht mehr die Wünsche, Interessen und Bedürfnisse von vielen Menschen repräsentieren. Wir haben eine Interessendemokratie. Eine Vielfalt von Interessengruppen trifft sich an der politischen Börse und macht in der Anerkennung des bestehenden Staates nur noch einen Scheinkampf um den Anteil am Brutto-Sozialprodukt.

SPIEGEL: Sie möchten an der Börse mitspielen?

DUTSCHKE: Die Studentenschaft war in der Geschichte der Bundesrepublik an dieser Börse von Anfang an nicht beteiligt, kann darum am Ende des Wirtschaftswunders erst recht von der Börse als gleichberechtigter Partner - gleichberechtigter Partner in Anführungsstrichen - nicht akzeptiert werden. Denn die Krise in den Staatsfinanzen - Ausdruck der ökonomischen Krise im Subventionsstaat - macht es heute weniger denn je möglich, eine studentische Interessen-Lobby, die ja auch Geld haben möchte, zur Börse zuzulassen.

SPIEGEL: Sie wollen also gar nicht an die Börse?

DUTSCHKE: Wir können es nicht und wollen es nicht mehr.

SPIEGEL: Sie sind für die Abschaffung des Parlamentarismus, so wie er in der Bundesrepublik heute existiert?

DUTSCHKE: Ja. Ich denke, daß wir uns nicht zu Unrecht als außerparlamentarische Opposition begreifen, im Gegensatz zum Beispiel zu Habermas ...

SPIEGEL: ... dem Frankfurter Philosophie-Professor Habermas ...

DUTSCHKE: ... der von der präparlamentarischen Opposition spricht. Wenn wir sagen außerparlamentarisch, soll das heißen, daß wir ein System von direkter Demokratie anzielen - und zwar von Rätedemokratie, die es den Menschen erlaubt, ihre zeitweiligen Vertreter direkt zu wählen und abzuwählen, wie sie es auf der Grundlage eines gegen jedwede Form von Herrschaft kritischen Bewußtseins für erforderlich halten. Dann würde sich die Herrschaft von Menschen über Menschen auf das kleinstmögliche Maß reduzieren.

SPIEGEL: Das ist eine uralte Utopie.

DUTSCHKE: Ich denke, wir können gegenwärtig sicherlich nicht davon ausgehen, daß die Herrschaft von Menschen über Menschen insgesamt in absehbarer Zeit verschwinden wird. Aber ich denke, daß diese Gesellschaft im Laufe eines langen Prozesses der Bewußtwerdung von vielen und immer mehr werdenden Menschen tatsächlich das Stadium erreicht, da die Menschen das Schicksal in die eigene Hand nehmen können, nicht mehr bewußtlos als unpolitische Objekte von oben durch die Bürokratie, durch das Parlament oder durch was auch immer manipuliert werden.

SPIEGEL: Auch Räteherrschaft ist Herrschaft. Wenn wir einmal unterstellen, daß es sie gäbe: Was geschähe dann mit den Minderheiten, die sich dagegen auflehnen, wie Sie und manche Ihrer Mitstudenten sich jetzt gegen die etablierte Ordnung aufbäumen?

DUTSCHKE: Dann wäre etwas mit der Führung nicht in Ordnung. Dann stimmt etwas nicht mit den Räten. Dann ist es ein Zeichen, daß sich wieder eine Herrschaft etabliert hat, die gestürzt werden muß. Sie wird nur gestürzt von bewußten Menschen.

SPIEGEL: Permanente Revolution?

DUTSCHKE: Ununterbrochene Fortführung der Revolution in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Es ist falsch verstandener Marx, zu behaupten, daß die klassenlose Gesellschaft einen geschichtlichen Endzustand darstellt.

SPIEGEL: Wie würden Sie es sagen?

DUTSCHKE: Der fortwährende Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur in Form des Arbeitsprozesses auf der einen Seite und die jeweils erreichte Stufe kritischer Unruhe menschlichen Geistes gegen jede jeweils erreichte Form menschlichen Zusammenlebens läßt eine Beruhigung und Endgültigkeit menschlicher Geschichte nicht zu. Die Menschen müssen sich dauernd ihrer selbst verunsichern, damit sie fähig werden, alle sich neu ergebenden Möglichkeiten - Reduktion von Arbeit, Entwicklung sinnlicher Phantasie, Abschaffung von Elend und Krieg - zu verwirklichen. Das mögen für Sie große Worte sein ...

SPIEGEL: Sind es auch. Was Sie da ausmalen - ist das nicht der alte, biblische Garten Eden?

DUTSCHKE: Ja, der biblische Garten Eden ist die phantastische Erfüllung des uralten Traums der Menschheit. Aber noch nie in der Geschichte war die Möglichkeit der Realisierung so groß.

SPIEGEL: In der Überflußgesellschaft, meinen Sie?

DUTSCHKE: In der Vergeudungsgesellschaft, würde ich sagen. Denn die für profit- und herrschaftsorientierte Gesellschaftsordnungen typischen Konsumtionsexzesse - Kriege sowie die ungeheuren toten Kosten; Rüstung, unnütze Verwaltung und Bürokratie, unausgenutzte Industriekapazitäten, Reklame - bedeuten eine systematische Kapitalvernichtung. Die wiederum macht es unmöglich, den Garten Eden historisch zu verwirklichen.

SPIEGEL: Wegen dieser schönen, neuen Welt einer dereinst emanzipierten Menschheit kämpfen Sie gegen die etablierte Ordnung?

DUTSCHKE: Ja. Aber die ganze Emanzipationsbewegung krankt zur Zeit daran, daß sie eine konkrete Utopie noch nicht ausgemalt hat. Das zu tun, ist die wichtigste Aufgabe der kritischen Theorie - gerade jetzt in der Zeit der sehr, sehr langen und komplizierten Übergangsperiode, die bestimmt wird durch den Kampf gegen die bestehende Ordnung.

SPIEGEL: Kommen wir auf diesen Kampf zu sprechen. Sie führen ihn mit Ihren Mitstudenten, indem Sie Professoren lächerlich machen, Sit-ins und Happenings mit roter Grütze veranstalten, Tomaten werfen ...

DUTSCHKE: ... Es kommt darauf an, irrationale Autoritäten auszuhöhlen ...

SPIEGEL: ... indem Sie gegen den Schah, gegen Notstandsgesetze oder auch für den Vietcong demonstrieren. Das sind, wenn man Ihr Endziel einer gesellschaftlichen Umwälzung in Betracht zieht, offenbar nur Vorgeplänkel?

DUTSCHKE: Demonstrationen und Proteste sind Vorstufen der Bewußtwerdung von Menschen. Wir müssen immer mehr Menschen bewußt machen, politisch mobilisieren, das heißt: in das antiautoritäre Lager - das jetzt erst aus nur ein paar tausend Studenten besteht - herüberziehen. Und wir müssen mehr tun als protestieren. Wir müssen zu direkten Aktionen übergehen.

SPIEGEL: Was sind direkte Aktionen?

DUTSCHKE: Da muß ich zuerst die spezifische Berliner Situation schildern.

SPIEGEL: Bitte.

DUTSCHKE: Da haben wir zunächst die Situation der Freien Universität - Massen-Seminare, absackendes Ausbildungsniveau, durch Bürokratie überforderte Professoren, drohende Studienzeitverkürzung und Zwangsexmatrikulation, Restriktionspolitik der Universitätsverwaltung, nicht zuletzt Studiengelderhöhung. Das bewirkte bei vielen Studenten eine stark antiautoritäre psychische Disposition.

SPIEGEL: Aber das bewirkte es nicht allein. Sie und eine ganze Reihe von radikal denkenden Studenten haben diese Grundstimmung populär gemacht.

DUTSCHKE: Ja. Wir haben versucht, durch systematische Aufklärung die Studenten politisch über ihre Situation aufzuklären - durch Informationsveranstaltungen, durch verschiedene Formen von Demonstrationen. Aber hinzu kommt die allgemeine Situation von West-Berlin. Sie ist spätestens seit dem Tod von Benno Ohnesorg klar: kopfloser Senat, entdemokratisierte Polizei - ein Resultat der jahrzehntelangen Ausbildung für den Kalten Krieg. Weiter: Die Berliner Parteien haben, wie in der Bundesrepublik, den Kontakt zur Bevölkerung verloren; Berlin ist eine politisch tote Stadt. Ihre historische Chance, Mittler zwischen Ost und West zu sein, hat sie nicht wahrgenommen.

SPIEGEL: Und die fehlende Politik wollen jetzt Studenten machen?

DUTSCHKE: Warum nicht? Wir Studenten haben eine Chance, die den Massen der Gesellschaft systematisch verweigert wird: Wir können die spezifisch menschliche Verstandeskraft in kritische Vernunft umsetzen. Das bedeutet: Politisierung der Universität - als Ausgangspunkt der Politisierung und damit der Veränderung der Gesellschaft.

SPIEGEL: Die Gesellschaft, schon gar die von Berlin, hat aber - um es euphemistisch auszudrücken - bislang nicht viel Bereitschaft gezeigt, sich von Ihnen politisieren zu lassen.

DUTSCHKE: Das ist richtig, aber das kann sich ändern, gerade unter Berliner Bedingungen. Die Mobilisierung des antiautoritären Lagers der Studentenschaft ging jenseits ökonomischer Schwierigkeiten vor sich. Die angespannte Arbeitskräftelage in Berlin, die veraltete Industriestruktur, die Überalterung der Bevölkerung, die Subventionsabhängigkeit der Stadt - das alles sind für uns Ausgangspunkte dafür, daß auch außerhalb der Universität die Politisierung gewisser Teile der Bevölkerung möglich wird.

SPIEGEL: Der Arbeiterschaft?

DUTSCHKE: Die von uns begonnene Auseinandersetzung könnte in Betriebe hineingetragen werden ...

SPIEGEL: Wollen Sie Streiks organisieren?

DUTSCHKE: Das ist eine Sache, die nicht von außen hineingetragen werden kann. Wir können nicht zu den Arbeitern in den Betrieben gehen und sagen, nun macht mal einen Streik. Die Möglichkeit des Streiks bietet sich allein auf der Grundlage der bestehenden Widersprüchlichkeit in der Ökonomie und Politik West-Berlins.

SPIEGEL: Aber Sie wollen doch, wie Sie eben sagten, die Auseinandersetzung in die Betriebe hineintragen.

DUTSCHKE: Ich meine damit, daß wir durch die Zusammenarbeit den mittleren und unteren Gewerkschaftsvertretern - die Führungsspitze in Person des DGB-Vorsitzenden und Berliner Parlamentspräsidenten Sickert ist sozialfaschistisch - die Interessenidentität von Arbeitern und Studenten bewußt machen können.

SPIEGEL: Wir möchten die Frage wiederholen, was für Sie direkte Aktionen sind.

DUTSCHKE: Sollten die Arbeiter eine spontane Abwehraktion gegen unternehmerische Übergriffe beginnen, wird es eine große Solidarisierungswelle seitens der bewußten Studentenschaft geben.

SPIEGEL: Was heißt das, bitte - spontane Abwehraktion, Solidarisierungswelle?

DUTSCHKE: Abwehraktion gleich Streik, Solidarisierung gleich Beteiligung am Streik.

SPIEGEL: Sie würden den Streik mit organisieren?

DUTSCHKE: Die Führung des Streiks liegt in den Händen der selbsttätigen Betriebsräte, Vertrauensleute und wirklich die Interessen der Arbeiter vertretenden Gewerkschaftler. Wir werden auf Wunsch alle Hilfsfunktionen übernehmen - etwa Unterstützung des Streiks durch Geldsammlungen, Aufklärung in der Bevölkerung über Voraussetzungen und Bedingungen des Streiks, Einrichtungen von Kindergärten und Großküchen.

SPIEGEL: Das wäre in diesem Fall direkte Aktion?

DUTSCHKE: Genau - und mit erheblichen politischen Konsequenzen. Berlin kennt seit Jahren keine Arbeiterstreiks. Es könnte dazu kommen, daß die Vereinigung von Arbeitern und Studenten in der organisatorischen Form von Räten die Frage der Doppelherrschaft aufwirft.

SPIEGEL: Machtergreifung?

DUTSCHKE: Die Verbreiterung einer Streikaktion durch Solidarisierungsstreiks in anderen Betrieben würde, ergänzt durch die angedeutete Solidarisierungswelle der Studentenschaft, in der Tat eine radikale Herausforderung für die gesellschaftliche Struktur West-Berlins bedeuten, gleichermaßen für Ost-Berlin; könnte doch ein von unten demokratisiertes West-Berlin ein Beispiel für die Arbeiter und Studenten in der DDR sein.

SPIEGEL: Planen Sie andere direkte Aktionen?

DUTSCHKE: Ja. Wir fordern - auf der Grundlage der in der Berliner Verfassung gegebenen Enteignungsmöglichkeit - die Enteignung des Springer-Konzerns.

SPIEGEL: Und die entsprechende direkte Aktion?

DUTSCHKE: Ich denke, daß die Enteignung des Springer-Konzerns auch von größeren Teilen der Bevölkerung unterstützt werden wird. Für uns ist dieser Punkt ein strategischer Transmissionsriemen zwischen Studenten und anderen Bevölkerungsteilen. Die während der letzten Wochen entstandenen studentischen Aktionszentren an der Freien Universität werden im Laufe des nächsten Semesters direkte Aktionen gegen die Auslieferung von Springer-Zeitungen in West-Berlin unternehmen.

SPIEGEL: Welche?

DUTSCHKE: Wir wollen zu Tausenden vor dem Springer-Druckhaus durch passive Formen des Widerstandes die Auslieferungsprozedur verhindern. Am Tage dieser Aktion, die wir zuvor durch Flugblätter ankündigen werden, wollen wir selber kritische und informative Zeitungen für alle Teile der Bevölkerung herausbringen.

SPIEGEL: Gehört zum Arsenal der direkten Aktionen auch der Versuch, eine Gegen-Universität zu errichten - wovon seit kurzem in Studentenzirkeln die Rede ist?

DUTSCHKE: Ja, da gibt es zwei Konzeptionen. Die eine Form der Gegen-Universität ist begriffen als Appendix, als Anhängsel der bestehenden Universität. Das heißt: Wir versuchen, im nächsten Semester Vorlesungskurse zu initiieren von Doktoranden, von Studenten mit guter Ausbildung, von Assistenten und Professoren. Inhalt des Programms sind Diskussionen, Referate und Seminare über Themen, die bisher innerhalb der Universität nicht diskutiert wurden.

SPIEGEL: Zum Beispiel?

DUTSCHKE: Zum Beispiel die chinesische Revolution und ihre Konsequenzen für die gegenwärtige Auseinandersetzung.

SPIEGEL: Also ein marxistischer Appendix der Universität?

DUTSCHKE: Ein kritischer Appendix der Universität, nicht unbedingt marxistisch. Sagen wir es so: Die politische Durchdringung des Stoffes wäre die revolutionäre Wissenschaft, als Wissenschaft, die gegenwärtige Konfliktsituationen in der ganzen Welt zum Ausgangspunkt der Analyse macht.

SPIEGEL: Wieviel Studenten, Assistenten, Doktoranden würden Sie für ein solches Vorhaben gewinnen können?

DUTSCHKE: Ich denke, es sind gegenwärtig schon genug Kräfte vorhanden und gut genug ausgebildet, um dieses Anhängselmodell praktizieren und unsere antiautoritären Studenten, also jenes Lager von 4000 bis 5000, aufklären zu können über die bestehenden Herrschaftsmechanismen und über die Emanzipationsbewegung.

SPIEGEL: Und das zweite Konzept einer Gegen-Universität?

DUTSCHKE: Das wäre der Aufbau einer Universität außerhalb von Dahlem - in einem Gebiet zwischen Fabrikarbeitern, etwa in der Spandauer Gegend oder in der Nähe der AEG, und Bürgerbezirken. Man könnte in Baracken Fakultäten installieren zur Ausbildung von Studenten, Arbeitern, Angestellten, Schülern. Hinzu käme, daß wir eine kontinuierliche medizinische, speziell sexuelle Aufklärung für weite Bevölkerungsteile - besonders für junge Arbeiterinnen und Arbeiter - betreiben könnten. Ebenso könnten wir unbemittelten Bürgern Rechtshilfe leisten, Mieterstreiks organisieren und so weiter. Eine solche Universität hätte die Aufgabe der Profilierung des Bewußtseins. Aber es ist die Frage, ob wir dieses Modell finanziell tragen können.

SPIEGEL: Ist das Werfen von Tomaten oder Rauchbomben auch eine Form der direkten Aktion?

DUTSCHKE: Tomaten und Rauchbomben sind ohnmächtige Mittel zum Zeichen des Protests, und nichts anderes. Niemand kann sich einbilden, dies sei ein Moment des wirksamen Protestes.

SPIEGEL: Sind Steine wirksamer?

DUTSCHKE: Eine systematische Provokation mit Steinen ist absurd. Steine als Mittel der Auseinandersetzung unterscheiden sich prinzipiell nicht von Tomaten. Tomaten sind ohnmächtig, Steine sind ohnmächtig. Sie können nur begriffen werden als Vorformen wirklicher Auseinandersetzungen.

SPIEGEL: Wir haben verschiedene Ihrer Reden daraufhin untersucht, wie Sie sich diese Auseinandersetzung denken. Das klingt zumeist sybillinisch, etwa so (SPIEGEL schaltet Tonband einer Dutschke-Rede ein):

Wann endlich, meine Damen und Herren, sehen wir uns die Fabriken in Frankfurt, München, Hamburg oder West-Berlin genauer an, die direkt und unmittelbar die amerikanische Armee in Vietnam mit chemischen und elektronischen Anlagen vorsorgen?

Was heißt das, bitte: »Wann sehen wir uns die Fabriken einmal genauer an«?

DUTSCHKE: Das heißt: Wenn es uns Ernst ist mit der Unterstützung des Befreiungskampfes in der Dritten Welt einerseits und mit der Veränderung unserer bestehenden Ordnung hier andererseits, haben wir sehr genau uns anzuschauen, wie diese Betriebe arbeiten - nicht, um sie in die Luft zu sprengen, sondern um durch Aufklärung von Minderheiten in diesen Betrieben klarzumachen, daß man mit Unterstützung der Unterdrückung in Vietnam nicht einverstanden sein kann. Der Führer der Studenten-Revolte an der amerikanischen Berkeley-Universität, Mario Savio, deutet die andere Seite des möglichen Widerstandes an, wenn er sagt, man müsse die Leiber der Vernichtungs-Maschinerie entgegenstemmen - also passiver Widerstand, die große Verweigerung.

SPIEGEL (schaltet Tonband einer Dutschke-Rede ein):

Wann endlich, meine Damen und Herren, lösen wir unser Knechtsverhältnis zu den bei uns Herrschenden? Warum beantworten wir nicht die Notstandsübungen anläßlich der Staatsbesuche, nämlich die Notstandsübungen der staatlichen Gewaltmaschinerie, warum beantworten wir die nicht mit Notstandsübungen unsererseits?

Was heißt das, bitte?

DUTSCHKE: Das soll heißen, daß in der Bundesrepublik Notstandsgesetze öffentlich diskutiert werden, aber im Grunde schon in der Alltagspraxis und speziell bei Staatsbesuchen praktiziert werden. Und Notstandsübungen unsererseits wären gerade die Versuche, unter diesen spezifischen Ausnahmebedingungen die elementarsten Formen demokratischer Freiheit - sei es Versammlungsrecht, sei es Demonstrationsrecht - praktisch anzuwenden, wie es am 2. Juni in Berlin geschah, als die Polizei dann die Demonstranten brutal zusammenknüppelte.

SPIEGEL: Ihre Reden wurden gelegentlich wegen solcher Wendungen als versteckte Aufforderungen zur Anwendung von Gewalt gedeutet. Predigen Sie Gewalt?

DUTSCHKE: Aufruf zur Gewalt, zu Mord und Totschlag in den Metropolen hochentwickelter Industrieländer - ich denke, das wäre falsch und geradezu konterrevolutionär. Denn in den Metropolen ist im Grunde kein Mensch mehr zu hassen. Die Regierenden an der Spitze - ein Kiesinger, Strauß oder was auch immer - sind bürokratische Charaktermasken, die ich ablehne und gegen die ich kämpfe, die ich aber nicht hassen kann wie einen Ky in Vietnam oder Duvalier in Haiti.

SPIEGEL: Diese Differenzierung - Gewalt dort, keine hier - erklärt sich für Sie ...

DUTSCHKE: ... aus dem prinzipiellen Unterschied im Stand der geschichtlichen Auseinandersetzung. In der Dritten Welt: Haß der Menschen gegen die Form der direkten Unterdrückung, repräsentiert durch Marionetten; darum Kampf gegen diese. Bei uns: Attentat auf unsere Regierungsmitglieder - das wäre absoluter Irrsinn; denn wer begreift nicht, daß bei uns heute jeglicher an der Spitze austauschbar ist. Die terroristische Gewalt gegen Menschen ist in den Metropolen nicht mehr notwendig.

SPIEGEL: Sie verneinen also Gewalt nicht grundsätzlich, sondern nur unter den obwaltenden Umständen?

DUTSCHKE: Ganz sicher wird niemand behaupten können, daß es überhaupt keine Gewalt innerhalb des Prozesses der Veränderung geben wird. Gewalt ist constituens der Herrschaft und damit auch von unserer Seite mit demonstrativer und provokatorischer Gegengewalt zu beantworten. Die Form bestimmt sich durch die Form der Auseinandersetzung. In Berlin hat sich die Gewalt auf seiten der Senatsexekutive exemplarisch in der Erschießung von Benno Ohnesorg tatsächlich gezeigt. Wir können nun innerhalb dieser Auseinandersetzung nicht sagen: Greifen wir mal zu den Maschinengewehren und führen wir die letzte Schlacht.

SPIEGEL: Sondern?

DUTSCHKE: Sondern wir müssen ganz klar sehen, daß unsere Chance der Revolutionierung der bestehenden Ordnung nur darin besteht, daß wir immer größere Minderheiten bewußt machen; daß das antiautoritäre Lager immer größer wird und damit beginnt, sich selbst zu organisieren, eigene Formen des Zusammenlebens findet - in Berlin eine Gegen-Universität etwa, oder Kommunen oder was auch immer. Gleichzeitig muß das Bestehende unterhöhlt und Neues herausgebildet werden.

SPIEGEL: Eine dieser neuen Formen des neuen Zusammenlebens wäre dann auch die studentische »Horror-Kommune«, die häufig wechselnden Geschlechtsverkehr institutionalisiert hat und Schmäh-Flugblätter verbreitet, in denen etwa Professoren »alte, autoritäre Scheißer« genannt werden?

DUTSCHKE: Das ist nicht das, was ich mir unter Kommune vorstelle. Der Austausch von Frauen und Männern ist nichts anderes als die Anwendung des bürgerlichen Tauschprinzips unter pseudorevolutionärem Vorzeichen.

SPIEGEL: Ist die Horror-Kommune nicht einfach ein Klub von hochgradigen Neurotikern?

DUTSCHKE: Das ist sie auch, aber daran ist nicht die Kommune schuld, sondern die Gesellschaft, die es zu solchen menschlichen Verkrüppelungen hat kommen lassen. Das Bild der nackten Kommune-Mitglieder, das der SPIEGEL von der Kommune veröffentlicht hat - allerdings mit wegretuschierten Genitalien, was etwas über den SPIEGEL sagt - scheint mir ein adäquater Ausdruck der jetzigen Situation dieser Kommune zu sein. Das Bild reproduziert das Gaskammer-Milieu des Dritten Reiches; denn hinter diesem Exhibitionismus verbirgt sich Hilflosigkeit, Angst und Schrecken. Die Kommune-Mitglieder begreifen sich als Unterdrückte und Ausgestoßene dieser Gesellschaft.

SPIEGEL: Da Sie als geistiger Urvater der Kommune-Idee in Berlin gelten - wie stellen Sie sich die ideale Kommune vor?

DUTSCHKE: Ich ziehe die Bezeichnung Institut dem Namen Kommune vor. Ich will damit ausdrücken, daß neue Formen menschlichen Zusammenlebens Experimentalcharakter haben, sorgfältigster persönlicher Ausbildung und politischer Arbeit nach außen bedürfen. Das Institut müßte jedem einzelnen Individuum, das dazu gehört, eine volle Entfaltung seiner geistigen, künstlerischen, körperlichen und politischen Möglichkeiten und Fähigkeiten bieten.

SPIEGEL: Soll heißen?

DUTSCHKE: Zum Beispiel: Wenn einer von uns malt, diskutieren wir über Rolle und Funktion der Kunst im Prozeß der Veränderung des Menschen. Oder: Wenn einer von uns auf den Gedanken käme, zur »Verbreiterung« der Erfahrung LSD zu schlucken, würden wir auf der Grundlage der neuesten Erkenntnisse der Psychoanalyse und der Medizin erörtern, welche Rolle Drogen und Rauschgifte für die Integration politischer Opposition heute spielen. Und das hieße - nebenbei - in der praktischen Konsequenz, daß wir bestimmt kein LSD schlucken.

SPIEGEL: Herr Dutschke, wie lange werden Sie noch studieren?

DUTSCHKE: Ich hoffe, in spätestens einem Jahr zu promovieren, meine Arbeit ist fast fertig. Wir müssen ausgebildet sein, um überhaupt eine politische Chance zu haben. Wir politischen Studenten müssen nachweisen, daß keine unglücklichen Neurotiker, sondern bewußt ausgebildete und klar sich die Zukunft vorstellende Menschen tätig sind.

SPIEGEL: Auch Neurotiker haben schon hervorragende Doktorarbeiten gemacht.

DUTSCHKE: Gebe ich zu. Ich sage auch nichts gegen Neurotiker, denn die Neurotiker sind Ausdruck der bestehenden Ordnung. Die Frage des Studienabschlusses ist für mich keine Prestigeangelegenheit der herrschenden Ordnung - Doktor oder nicht Doktor. Gerade weil wir von dieser Gesellschaft nicht zu trennen sind und auch unser Versuch, gegen sie zu arbeiten, immer noch auf dem Boden dieser Ordnung geschieht, müssen wir - solange die Gegen-Universität nicht existiert - die bestehenden Institutionen als Mittel und Möglichkeiten unserer Ausbildung in Anspruch nehmen.

SPIEGEL: Herr Dutschke, wie viele Studenten an der Freien Universität - würden Sie glauben - hegen dieselben oder ähnliche Gedanken wie die, die Sie in diesem Gespräch geäußert haben?

DUTSCHKE: Hunderte haben den bewußten Wunsch nach direkter Veränderung ihrer individuellen und gesellschaftlichen Situation.

SPIEGEL: Ein paar hundert von 16 000?

DUTSCHKE: Tausende sympathisieren mit uns. Unsere Vollversammlungen beweisen es.

SPIEGEL: Sie halten sich nicht für einen versponnenen Einzelgänger?

DUTSCHKE: Nein.

SPIEGEL: Herr Dutschke, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

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