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Bundeswehr »WIR HABEN EINE UNFALLSITUATION, DIE TRAGBAR IST«

aus DER SPIEGEL 43/1969

SPIEGEL: Herr General, mit dem Absturz vom Montag letzter Woche hat die Luftwaffe innerhalb von acht Jahren ihren 100. »Starfighter« verloren ...

STEINHOFF: Nicht die Luftwaffe, die Bundeswehr hat 100 Starfighter durch Flugunfälle verloren. Der Anteil der Luftwaffe beträgt 69 F-104, die übrigen entfallen auf den Bereich der Ausbildung in den USA -- auf den die Luftwaffe weder im Flugbetrieb noch in der Flugsicherheit noch in der Technik irgendeinen Einfluß hat -- und auf die Marineflieger.

SPIEGEL: Von dem Materialverlust in Höhe von etwa einer dreiviertel Milliarde Mark abgesehen: Sind 54 tote Piloten nicht ein zu hoher Preis?

STEINHOFF: Man kann den Preis für ein Waffensystem nicht mit den bei Flugunfällen tödlich verunglückten Piloten ausdrücken. Wenn man sich dazu entschließt, zum Verteidigungsbeitrag der westlichen Welt eine moderne Luftwaffe beizusteuern, muß man die in der Fliegerei unabdingbaren menschlichen Verluste als kalkuliertes Risiko hinnehmen. Diese bedauerlichen Verluste sind nicht ein Tribut an das Waffensystem.

SPIEGEL: Hätten die Maschinen, die damals neben der F-104 zur Auswahl standen, ähnliche Opfer gefordert?

STEINHOFF: Neben der F-104 standen damals noch die »Mirage« III A und der »Super Tiger« zur Auswahl. Da beide Systeme etwa dem technologischen Stand der F-104 und deren Flugleistungen entsprachen, kann angenommen werden, daß die Verluste in einer Betriebshaltungszeit von etwa acht Jahren denen der F-104 entsprochen hätten.

SPIEGEL: Auch nach amerikanischen Unterlagen hatte aber der Starfighter in der Einführungszeit eine besonders hohe Flugunfallquote.

STEINHOFF: Die weitverbreitete Meinung, daß die hohen Verlustzahlen F-104-spezifisch seien, ist nicht zutreffend. Würde man theoretisch weltweit alle Flugstunden moderner Systeme eines Jahres und die hierbei aufgetretenen Unfälle mit tödlichem Ausgang in Relation bringen, muß man von einer Rate von etwa zehn tödlichen Unfällen pro 100 000 Flugstunden ausgehen. Da diese Bezugsgröße etwa der jährlichen Flugleistung der Luftwaffe entspricht, müssen wir ungünstigenfalls beim F-104-Flugbetrieb mit bis zu zehn Unfällen pro Jahr mit tödlichem Ausgang rechnen. Ich bin sehr froh darüber, daß es uns gelungen ist, diese Vergleichsgröße seit 1967 -- nämlich 1967 mit einer Rate von 2,8 und 1968 mit 8,3 -- unterschritten zu haben.

SPIEGEL: Müssen solche Verluste an Menschen und Material auch von den verbündeten Luftwaffen getragen werden?

STEINHOFF: Diese Frage muß eindeutig mit Ja beantwortet werden. Bei der F-104 ist ein Vergleich einfacher, da viele europäische Nationen dieses System fliegen. Während die Luftwaffe noch im Jahr 1965 beim Vergleich der Raten für Flugunfälle mit tödlichem Ausgang an letzter Stelle lag -- also das schlechteste Ergebnis zu verzeichnen hatte -, haben wir uns in den folgenden Jahren verbessert und nahmen bereits 1968 den zweitbesten Platz ein. Die Verbesserung hält auch 1969 an und läßt mit einer Rate von 5,2 F-104-Unfällen mit tödlichem Ausgang per 10. Oktober 1969 ein unter dem internationalen Schnitt liegendes Ergebnis erwarten.

SPIEGEL: Seit Sie Inspekteur sind, seit 1966, ist die Unfallrate bei stark erhöhter Flugstundenzahl erheblich gesunken. Was waren die Gründe für die Absturzserie vor Ihrer Zeit?

STEINHOFF: Die 1965 begonnenen Untersuchungen über die Unfallursachen haben eindeutig ergeben, daß es keine alleinige Hauptursache gab. Die Summierung der Unfälle im Jahre 1965 ist auf das Zusammenwirken vieler Faktoren im technischen und menschlichen Bereich, insbesondere aber auf die fehlende Erfahrung zurückzuführen. Die Umstellung von den verhältnismäßig unkomplizierten alten Systemen auf das komplizierte und sensible Mach-2-System -- also von dem Flugzeug von heute auf das Flugzeug von übermorgen -- erforderte die Aufbietung aller physischen und psychischen Kräfte.

SPIEGEL: War nicht das Bodenpersonal gleichermaßen überfordert?

STEINHOFF: Die Umstellung der Organisation, Technik, Logistik und des Flugbetriebes sowie der Infrastruktur war ebenso schwierig. Hinzu kommt, daß während der Einführung eines neuen Waffensystems die Unfallrate immer besonders hoch liegt und sich erst mit der wachsenden Erfahrung und der fliegerischen sowie technischen Beherrschung des Systems normalisiert. Dies gilt nicht nur für die junge deutsche Luftwaffe, sondern ist eine Erscheinung, die auch bei den wesentlich erfahreneren Luftwaffen zu beobachten ist.

SPIEGEL: Die Luftwaffe war also auf diese komplizierte Maschine schlecht vorbereitet. War es dann richtig, Piloten, Warte, Flugsicherheit und Logistik gleich mit 867 Starfightern zu konfrontieren? Mußte dies die Katastrophe nicht geradezu provozieren?

STEINHOFF: Schlecht vorbereitet möchte ich nicht sagen. Die materiellen Vorbereitungen entsprachen weitgehend den Anforderungen. Wenige der für die Einführung verantwortlichen -- kurz zuvor aus dem Zivilleben gekommenen -- Offiziere überschauten die mit dem hochmodernen System auf die Luftwaffe zukommenden Probleme. Heute sind wir selbstverständlich klüger.

SPIEGEL: Hatte das Flugzeug nicht auch Konstruktionsmängel?

STEINHOFF: Es gab nach den Untersuchungen im Jahre 1965 Fertigungs- und Kontrollfehler sowie Materialermüdungen, aber keine Konstruktionsmängel. Eine solche Feststellung hätte zur Sperrung des Flugzeugs führen müssen. Bei den 26 Abstürzen des Jahres 1965 war nur in zwei Fällen bei technischen Mängeln eine Parallelität festzustellen; so daß man auch nicht sagen kann, daß die eine oder andere technische Komponente häufig versagt hätte. Technische Änderungen und Verbesserungen hingegen begleiten ein Waffensystem während seiner ganzen Indiensthaltungszeit und werden noch durchgeführt, wenn die ersten Flugzeuge bereits ausgesondert werden.

SPIEGEL: Erst kürzlich stellte sich aber heraus, daß die Flügel Schwächen aufweisen.

STEINHOFF: Diese Schwächen an den Flügeln sind bei den wesentlich stärker strapazierten Ausbildungsflugzeugen in Luke/USA aufgetreten und sind nach Erreichen der gleichen Festigkeitsbelastungen auch bei der europäischen F-104-Flotte in zwei bis drei Jahren zu erwarten. Es gibt kein Flugzeug, bei dem dieser Moment nicht auftritt. Man muß entsprechende Vorsorgen treffen. Unsere Abteilung Wehrtechnik hat diese Vorsorge in anerkennenswerter Weise mehr als rechtzeitig getroffen. Schon jetzt steht fest, daß sie sowohl technisch als auch finanziell im Rahmen dessen liegen, was für das Waffensystem an Haushaltsmitteln vorgesehen ist.

SPIEGEL: Was sagen Sie zu dem neuen Prüfungsbericht des Bundesrechnungshofes über die F-104-Beschaffung? Die Rechnungsprüfer haben schwerwiegende Mängel auf gedeckt.

STEINHOFF: Ich bin darüber unterrichtet, daß sich der Bundesrechnungshof sehr ausführlich mit der Entwicklung und Beschaffung von 96 F-104 G bei der Firma Lockheed befaßt hat. Ich bin aber weder zuständig noch befugt, Ihnen zu diesem Komplex, der sich mit Fragen der Einhaltung der Bestimmungen über den Entstehungsgang für Wehrmaterial befaßt, Einzelheiten mitzuteilen, zumal die gemeinsame Stellungnahme des Hauses noch nicht erarbeitet ist.

SPIEGEL: Sie haben sich damals für eine Reduzierung des Starfighter-Programms eingesetzt. Wieviel Maschinen hätte die junge Luftwaffe Ihrer Meinung nach bewältigen können?

STEINHOFF: Ich habe gewisse Bedenken gegen die schnelle Einführung einer großen Menge Flugzeuge eines komplizierten Waffensystems geäußert. Ich befürchtete, daß die unerfahrene Luftwaffe durch die neue Technik überfordert sein könnte. Heute ist es für mich tröstlich zu wissen, daß die Luftwaffe die F-104, die sie jetzt besitzt, »bewältigen« kann. Auch hätte sich der Umrüst-Rhythmus gegenüber den ursprünglichen Planungen in der Praxis doch erheblich verlangsamt,

SPIEGEL: Die Luftwaffe hat kürzlich 50 neue Starfighter bestellt, um die durch Verluste und Alterung entstehenden Lücken zu schließen. Warum bestellt man noch mehr dieser Flugzeuge, die soviel Ärger verursacht haben?

STEINHOFF: Ich bin mir der psychologischen Belastung des Begriffes »Starfighter« wohl bewußt. Auf der anderen Seite haben wir den Starfighter voll »im Griff«, wie wir häufig sagen. Wir haben eine Unfallsituation, die tragbar ist. Uns kam es darauf an, die Verbände so lange mit dem Starfighter einsatzbereit zu haben, bis er durch ein Nachfolge-Waffensystem ersetzt werden kann. Wir bekommen aber Lücken sowohl in der Luftwaffe als auch in der Marine, wenn wir diesen Zeitraum bis 1976 mit dem Starfighter durchstehen wollen. Um diese Lücken zu füllen, war es einfach notwendig, neue Maschinen nachzukaufen. 50 Flugzeuge eines anderen Typs einzuführen, hätte natürlich, allein wenn man an die logistischen Probleme denkt, gar keinen Sinn.

SPIEGEL: Die 50 Flugzeuge nicht nachbauen zu lassen, würde bedeuten, daß wir Lücken in den Geschwadern hätten ...

STEINHOFF: ... die die Einsatzbereitschaft auf die Dauer beeinträchtigen und die Verbände ihren Dienst nicht mehr wirtschaftlich machen lassen. »Wirtschaftlich« heißt: genügend Flugzeuge im Vergleich zum Personal.

SPIEGEL: Die alten Maschinen sind jetzt durchschnittlich sechs Jahre alt. Muß die Unfallquote beim Älterwerden der Flugzeuge nicht wieder ansteigen?

STEINHOFF: Wir werden alles Erdenkliche tun, daß dies nicht eintritt. im übrigen ist das Älterwerden der Flugzeuge dann kein Problem, wenn Mittel zur Verfügung stehen, um eventuell durch Alterung auftretende Schwachstellen durch geeignete technische Maßnahmen zu beseitigen. Ich glaube nicht, daß in naher Zukunft die Alterung des Materials zu einem unkalkulierbaren Risiko wird. Wir haben flugstundenmäßig das Ende der ersten »Halbzeit« der F-104-Indiensthaltung noch nicht erreicht, so daß ich in dieser Frage recht optimistisch bin.

SPIEGEL: Wie lange muß die F-104 in der Luftwaffe noch geflogen werden, bis sie durch eine neue Fluggeneration wie das von Großbritannien, Italien und der Bundesrepublik konzipierte neue Kampfflugzeug MRCA (Multi-Role-Combat-Aircraft) abgelöst werden kann?

STEINHOFF: Unsere MRCA-Planung basiert auf dem Zeitplan, die F-104 von 1976 an im Rhythmus des MRCA-Zulaufs abzulösen. Da wir für die Umrüstung einige Jahre benötigen, bedeutet dies, daß wir mit einer zur Zeit noch nicht festliegenden Zahl an F-104 die Schwelle der achtziger Jahre erreichen können. Selbstverständlich wird diese Zahl nicht groß sein, und es werden nur die Flugzeuge sein, die in der Serie zuletzt gebaut oder nachgebaut wurden und somit noch die erforderliche Lebensdauer aufweisen.

SPIEGEL: Was kann der In den fünfziger Jahren entworfene Starfighter in den siebziger Jahren noch leisten?

STEINHOFF: Der Ende der fünfziger Jahre konzipierte Starfighter war damals seiner Zeit weit voraus. Seine Leistungsgrenzen werden selbst heute nur von wenigen Systemen übertroffen. Wir haben zwar durch unseren Schritt von der alten F-84/86-Generation zur F-104 einen sehr großen Schritt getan und uns dabei die bereits erwähnten Schwierigkeiten eingehandelt, andererseits werden wir aber dadurch jetzt in die Lage versetzt, die Entwicklung des Nachfolgesystems ohne schädliche Hast durchzuführen. Die F-104 wird mit der in Einführung befindlichen modernen Bewaffnung ihre Aufgaben in den siebziger Jahren voll erfüllen.

SPIEGEL: In der letzten Zeit haben deutsche Starfighter-Piloten bei internationalen Wettbewerben Preise errungen. Sind die Leistungen dieser Star-Piloten repräsentativ für das Können der übrigen Flugzeugführer?

STEINHOFF: Diese Leistungen sind -- was mich besonders freut -- ein echtes Spiegelbild der Leistungsstärke unserer Flugzeugführer und damit der Luftwaffe. Sie sind es deshalb, weil die Teilnehmer an den Wettbewerben kurz vor den Übungen von der Nato aus allen gemeldeten einsatzbereiten Flugzeugführern der beteiligten Luftwaffen durch Los ausgewählt werden.

SPIEGEL: Kürzlich haben sechs deutsche Starfighter erstmals im Verband den Atlantik überquert. Glauben Sie angesichts der zahlreichen Pannen auf diesem Flug wirklich daran, daß Sie im Ernstfall die 95 jetzt in Arizona stationierten Ausbildungs-Starfighter rechtzeitig zum Einsatz nach Deutschland bekommen?

STEINHOFF: Ich glaube nicht nur daran, sondern ich bin überzeugt, diese Reserven rechtzeitig zur Verfügung zu haben. Ich werde in meiner Überzeugung dadurch bestärkt, daß die von Ihnen erwähnten Pannen nicht bei den vielgeschmähten F-104, sondern ausschließlich bei den Begleitflugzeugerl Bréguet »Atlantic« und »Transall« aufgetreten sind. Die Begleitflugzeuge waren aber nur eingesetzt, um das Risiko des ersten Fluges weitestgehend zu mindern. Im Ernstfall erfolgt die Überführung selbstverständlich unter einem geringeren Begleit-Aufwand. Die für den Transatlantik-Flug gesteckten Ziele wurden -- soweit die F-104 betroffen ist -- jedenfalls voll erreicht.

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