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»Wir haben Ihren Mann entführt«

Nie zuvor haben Kidnapper so viel Lösegeld verlangt und bekommen wie die Entführern des Ladenmillionärs Albrecht: sieben Millionen Mark. Beispiellos war die Zermürbungstaktik, mit der die Gangster Fahnder und Familie strapazierten. »Der Fall Albrecht«, sagte Oberstaatsanwalt Lindenberg, »hat keine Parallele.« Gleichwohl war der Fall symptomatisch für die Zunahme eines Delikts, das -- räuberische Erpressung plus Freiheitsberaubung -- die Strafverfolger in Konflikte bringt: Sie müssen die Kidnapper verfolgen und zugleich Entführte schützen.
aus DER SPIEGEL 52/1971

Am Randstreifen und die Böschung entlang liegen zerfetzte Pappkartons, leere Bierdosen und graubestaubte Zementsäcke, die der Wind von der Müllkippe heruntergetrieben hat. Seitwärts über dem Sumpf wuchert meterhoch Unkraut, das jetzt abgestorben und von Ruß zugedeckt ist -- so würde Hitchcock malen, wenn er malen würde.

Die Straße ist eng, zwei Wagen können nur mit Mühe einander passieren. Sie führt von der Katzenbusch-Kreuzung im Süden der Stadt Herten zweieinhalb Kilometer weit zum Fluß Emscher durch ein Ödland, das sich Emscher Bruch nennt. Auf halbem Weg kreuzt, unbeschrankt, die Zechenbahn von Ewald 3 nach Recklinghausen.

Dort in der Hohewardstraße des Industriegebiets Herten-Süd geraten zuweilen auch Fahrer von Zwanzigtonnern in die Irre, die sonst alles finden. Hinter vereinzelt gelegenen Auslieferungslagern und Werkstätten taucht bald hinter der Bahn die Hausnummer 345 auf: Adresse der Albrecht KG Lebensmittel-Filialbetrieb. Kneipen gibt es weit und breit nicht, und so bietet vor der Umzäunung ein motorisierter Schnellimbiß Rollmops zu 35 Pfennig an und »Pommes frites mit Mayo. -,70«.

Albrecht-Chef Theo Albrecht, 49, hat in dem braungetünchten Vier-Etagen-Gebäude mit Lagerhallen auf der einen, Zwinger mit Schäferhund und grünem Plastikfreßnapf auf der anderen Seite das Discount-Imperium seiner »Aldi«-Läden regiert. Durch die Glastür, die nur von innen durch einen Schnarrer zu öffnen ist, verließ er abends das Haus stets als letzter.

Dann stand er unter den neun Deckenleuchten des Vordachs neben einem mannshohen Essigbaum, dessen Äste vergangene Woche gestutzt wurden, überquerte einen geteerten Abstellplatz ("Nur für Besucher") und stieg in seinen grauen Mercedes 280 SEL (Kennzeichen: RE-AL 280), um rund 30 Kilometer zu seiner Frau Cecilie und nach Haus zu fahren -- nach Essen-Bredeney, Westerwaldstraße 58, wo nahe von Krupps Villa Hügel die besseren Leute wohnen.

Am Montag, dem 29. November 1971, kam Theo Albrecht nicht weit. Nur 4,8 Fahrkilometer von seinem Büro entfernt stand der Wagen 40 Stunden lang in Gelsenkirchen-Resse auf einem markierten Parkstreifen gegenüber dem Haus Ahornstraße 143, fünfzig Meter neben einer Lottoannahme mit Schildern im Fenster: »Wünsche werden Wirklichkeit« und »Woche für Woche neue Halbmillionäre«.

Mittwoch früh fiel Bergarbeitern das verlassene Luxusauto mit dem Recklinghausener Kennzeichen auf, und sie benachrichtigten die Polizei. Abermals geschah etwas, was den Anliegern auffiel: Die Beamten ließen das ordnungsgemäß geparkte Auto unverzüglich und ungeöffnet von einem Kranwagen fortschaffen. Gleichzeitig durchsuchten Kollegen in Zivil das angrenzende Gelände des Kleingartenvereins Resse e. V. ("Fremde haben bei Eintritt der Dunkelheit keinen Zutritt"). Einer aus der Ahornstraße: »Wir haben gleich gemerkt, da stimmt doch was nicht, woll.«

Erst neun Tage später wurde publik, was da nicht stimmte: Millionär Theo Albrecht war Opfer eines Verbrechens geworden, das -- ursprünglich amerikanische Spezialität -- seit einigen Jahren auch in Europa um sich greift und in diesem Jahr bereits fünfmal die Deutschen schockte: Kidnapping, im Strafrechtsdeutsch räuberische Erpressung plus Freiheitsberaubung (Höchststrafe: 15 Jahre Freiheitsentzug).

Die Entführung im Revier ist ohne Beispiel. Essens Polizeipräsident Hans Kirchhoff: »Dies ist eine Erpressung, wie wir sie in der Bundesrepublik noch nicht gehabt haben.« Essens Oberstaatsanwalt Gerd Lindenberg: »Wir haben Präzedenzfälle analysieren lassen. Der Fall hat keine Parallele.«

Noch nie zuvor, nicht einmal in den USA, hatten Kidnapper so viel Lösegeld verlangt: sieben Millionen Mark -- die bis dahin höchste Summe, 600 000 Dollar, wurde 1953 in Kansas City an die Entführer des sechs Jahre alten Robert C. Greenlease gezahlt, die, wie sich später herausstellte, auch seine Mörder waren.

Beispiellos war die »Zermürbungstaktik« (Lindenberg) der Entführer. Mal riefen sie bei der Familie an, mal diktierten sie Theo Albrecht ihre Forderungen in die Feder, die sie teils frankiert, teils unfrankiert in Essen, Gladbeck und Bottrop zur Post gaben.

Mal drückten sie dem Oberstaatsanwalt ihr »tiefstes Bedauern« darüber aus, daß er in den letzten beiden Wochen mehrere Pfunde verloren habe -- mal spielten sie die Rolle beleidigter ehrbarer Kaufleute und teilten Lindenberg mit: »Das Vertrauen in Ihre Redlichkeit haben wir verloren.«

Dann wieder ließen sie Sozialrevolutionäres an die Adresse von NRW-Ministerpräsident Heinz Kühn zu Papier bringen -- nach dem Motto »Vermögen in Arbeitnehmerhand": »Wir wollen einem viel zu reichen Mann etwas abnehmen. Wir sind keine Mörder.«

Dessen durfte die Polizei nicht sicher sein. Ihr Problem war es, einerseits von Amts wegen das Kapitalverbrechen verfolgen zu müssen, andererseits aus humanitären Gründen -- um das Risiko für den Entführten nicht zu vergrößern -- äußerste Rücksichtnahme bei den Ermittlungen walten lassen zu müssen. Ein Essener Kripo-Mann: »Das ist eine Nervenprobe.«

Gleichwohl, selten lief der Polizeiapparat so hochtourig -- wenn auch notgedrungen zeitweise im Leerlauf. Die Strafverfolger waren »bemüht, alles bereitzustellen, was gut und teuer ist« (Lindenberg). In der Einsatzzentrale des Essener Polizeipräsidiums waren rund um die Uhr insgesamt mehr als hundert Kripo-Leute im Dienst. Das Landeskriminalamt zog Experten aus dem ganzen Lande zusammen -- darunter Graphologen, Kriminologen und Psychologen. Bayern kommandierte den Kidnapping-Experten und Münchner Kriminaldirektor Hermann Häring nach Essen ab.

Nach Mitternacht riefen die Entführer zum ersten Male an.

Das Verbrechen aktivierte allenthalben Helfer und sogenannte Helfer der Polizei. Einer von Hunderten von Tipgebern denunzierte einen einst im Kohlenpott tätigen Ganoven -- der bereits vor mehreren Jahren gestorben war -- als Täter. Andere Bundesbürger boten sich als Geiseln an, einer machte sich anheischig, mit einem Pendel den Aufenthaltsort Albrechts zu ermitteln.

Und Eduard Zimmermann ("Aktenzeichen XY ... ungelöst"), Amateur-Cheffahnder der Republik, machte sich prompt für alle Sorgen. Im Münchner Boulevardblatt »tz« schrieb er, es zeichne sich »jetzt immer deutlicher ab: Erpressung, verbunden mit Geiselnahme und Entführung, wird zu einem beängstigenden Schreckgespenst werden ... wissen Eingeweihte, daß überall in der Unterwelt solche Pläne wuchern und daß ins Märchenhafte steigende Summen erpreßten Lösegeldes die Phantasie beflügeln«.

Sie tat es bei einigen zumindest. In Münster wurde ein Mann unfreiwilliger Mithörer eines Telephongesprächs zwischen zwei Unbekannten, die offenbar eine Entführung der Junioren-Europameisterin im Springreiten Marion Snoek, 18, Tochter eines vermögenden Münsteraner Kaufmannes, planten. Eine halbe Million forderte letzte Woche ein Erpresser von dem Direktor der Badischen landwirtschaftlichen Zentralgenossenschaft: »Wenn Sie nicht zahlen, werden Sie umgelegt.« Mit einer bescheideneren Forderung an eine Hundebesitzerin, der Pudel »Peggy« verlorengegangen war, wollte sich ein Münchner 14jähriger zufriedengeben: Er habe Peggy, und wenn er nicht 500 Mark für das Tier bekäme, werde er den Pudel erschießen und »die Leiche« zuschicken.

Solche Anschlußtaten und Anschlußstreiche in einer Woche, in der Deutschlands Bankräuber die übliche vorweihnachtliche Aktivität entfalteten, konturierten nur noch schärfer das Ungewöhnliche des Falles Albrecht, der den Frankfurter Kriminologen Professor Geerds zu der Bemerkung bewog: »Man kann für die Angehörigen des Gekidnappten nur hoffen, daß sie es mit hartgesottenen Gangstern zu tun haben« (siehe Interview Seite 30).

Dies geschah zu einem Zeitpunkt, da niemand außer den Entführern wußte, ob ihr Gefangener überleben würde -- 14 Tage nachdem Theo Albrecht, ein Vorbild an penibler Häuslichkeit, am letzten November-Montag nicht pünktlich wie gewohnt zum Abendbrot daheim erschienen war. Ehefrau Cecilie, 44, seit 22 Jahren mit dem Geschäftsmann verheiratet und »Cilly« genannt, rief nach zwei Stunden den Aldi-Geschäftsführer Hübner im nahen Kirchhellen an und fragte nach dem Chef.

Hübner wußte nichts und forschte sogleich bei den Polizeistationen zwischen Herten und Essen telephonisch nach Albrecht -- vergebens. Daraufhin alarmierte Frau Cilly den Familienfreund und Hausanwalt Dr. Karl Rankel, der stracks zum Essener Polizeipräsidium fuhr und vortrug, sein Klient sei spurlos verschwunden.

Wenig später, acht Minuten nach Mitternacht, klingelte in der Albrecht-Villa das Telephon. Eine unbekannte Stimme sagte: »Wir haben Ihren Mann entführt, machen Sie sich keine Sorgen, es geht uns nur ums Geld. Keine Polizei, keine Presse, sonst können Sie nur noch für ihn beten.«

Am nächsten Morgen kam neue Kunde, diesmal per Eilboten. In einem Brief -- nach Angaben der Polizei zweifelsfrei von Theo Albrechts Hand -- teilte der Entführte mit, es gehe ihm gut, er werde versorgt: »Weitere Nachricht folgt. Herzliche Grüße Dein Theo«. Von Geld war noch keine Rede, und erst am Nikolaustag, nach zermürbendem Brief- und Wortwechsel, kam die Forderung nach den sieben Millionen. Ermittlungschef Lindenberg: »Frau Albrecht war zu allem bereit und wollte jede Summe zahlen.«

Millionen waren zu beschaffen: Das Albrecht-Unternehmen, zu etwa gleichen Teilen von Theo und seinem zwei Jahre älteren Bruder Karl geführt, zählt zu den hundert umsatzstärksten Firmen der Bundesrepublik und rangiert noch vor dem Radioriesen Max Grundig und dem Zeitungszaren Axel Springer. In ihrer Einzelhandelsbranche gar werden sie mit über 1,5 Milliarden Mark Jahresumsatz an neunter Stelle eingestuft.

Und in karg ausgestatteten Albrecht-Läden drängten sich nach der Entführung mehr Kunden als je zuvor. Das Kidnapper-Drama lockte nun auch Kunden an, die sich in den Billig-Filialen mit dem Namen »Aldi« (Kürzel von Albrecht und Diskont) bislang nicht selbst bedienen mochten -- mit 32prozentigem Klaren zu 3,78 Mark, mit Black & White für 12,90 Mark oder französischem Cognac Martell zu 13,95 Mark.

Mit Mini-Preisen für Butter und Büchsen aus dem Pappkarton machten die Albrecht-Brüder, die nunmehr über 600 Läden in 300 Städten von Kiel bis Konstanz gebieten, ihre Millionen -- eine Karriere, die im Krämerladen der Mutter im Arbeiterviertel Essen-Schonnebeck begonnen hatte, als beide aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrt waren.

Mit der Discount-Masche -- Massenartikel, Selbstbedienung, begrenztes Sortiment und schnelle Umschläge in Schlichtläden -- hatten die Albrechts nicht nur im Kohlenpott Erfolg. Frischfleisch oder Tiefkühlprodukte haben in den Läden ohne Schaufensterdekoration keinen Platz, mit verderblichem Obst oder Gemüse geben sie sich gar nicht erst ab. Um an Kühlmöbeln zu sparen, wurde in einigen Filialen die Butter, stets ein Preisschlager im »Aldi«-Sortiment, abends in den Keller geschafft. Nur Erfolg durch Leistung zählte: Die Angestellten wurden nach Punkten, die Filialleiter nach Kennziffern -- Maßstab für schnellen Umschlag -- entlohnt.

»Die wollen doch an das Moos.«

Schon vor zehn Jahren hatten sich die Brüder ihr Reich geteilt. Seither regiert Karl den Süden von Mülheim (Ruhr), Theo den Norden von Herten aus. Seit 1966 sind die beiden Gesellschaften, die bis dahin gegenseitig aneinander beteiligt waren, auch im Kapital getrennt. Schlicht wie ihr Handel blieb der Wandel. Außer Firma und Familie gab es für Theo Albrecht nur noch die Kirche und den Golfplatz -- St. Markus in Essen-Bredeney, wo der Katholik regelmäßig zur Messe ging, und Schloß Oefte bei Kettwig, wo er ebenso regelmäßig auf Löcher spielte.

Wie zurückgezogen der Ruhr-Reiche mit Frau und seinen beiden Söhnen, Theo, 21, und Berthold, 17, lebte, zeigte sich noch zwei Wochen vor seiner Entführung: Als er Mitte November den Presseball in seiner Heimatstadt Essen besuchen wollte, mußte Erich Brost, Verleger der »Westdeutschen Allgemeinen Zeitung«, die Veranstalter erst aufklären, wen sie vor sich hatten. Die Entführer wußten es offenbar besser als die Essener Journalisten. Oberstaatsanwalt Lindenberg: »Die waren sich klar, wen sie da nahmen. Die wollen doch an das Moos.

Zum Gelde drängt es Kidnapper in allererster Linie. Ihr Zwangsmittel ist deshalb vor allem die Drohung, und wo Gewalt tatsächlich ausgeübt wird, dient sie zunächst nur dem Ziel, dieser Drohung Nachdruck zu verschaffen. Kidnapping trifft, wie anders, vorwiegend Wohlhabende und gilt im Bewußtsein der Bürger als besonders niederträchtig. In den deutschen Kriminal-Statistiken tauchte es freilich über Jahrzehnte hinweg gar nicht auf, und die kriminalistische wie die kriminologische Forschung behandelte das Delikt eher beiläufig.

Das Standardwerk »Lehrbuch der Kriminologie« von Ernst, Seelig beispielsweise verrät in der Neuauflage von 1951 lediglich, daß »der Menschenraub zwecks Erpressung eines Lösegeldes (sog. Kidnapping)« eine »in Amerika häufige« und »geradezu sportlich« geübte »Gangstermethode« sei, in Europa dagegen kaum vorstellbar -- wie übrigens auch bewaffnete Überfälle auf Banken und andere Geldinstitute. Und das renommierte deutsche »Handwörterbuch der Kriminologie«, enthält darüber hinaus nur noch ein paar knappe Hinweise auf den »bekanntesten Fall dieser Art«.

Er geschah im März 1932 und ließ eine ganze Nation an sich und ihrer Polizei zweifeln. Damals wurde der 20 Monate alte Sohn Charles Augustus des Ozeanfliegers und US-Helden Charles Lindbergh aus dem Landhaus seiner Eltern in Hopewell bei New York geraubt.

Der Täter, der mittellose Zimmermann und Deutschamerikaner Bruno Richard Hauptmann, tötete das Lindbergh-Baby unmittelbar nach der Entführung. Die Leiche wurde erst zehn Wochen später gefunden.

Im Verlauf der bis dahin umfangreichsten Fahndung der amerikanischen Geschichte konnte die Polizei den Mörder Hauptmann im September 1934 fassen. Die Nummern der Banknoten aus Lindberghs Lösegeld -- 50 000 Dollar -- hatten ihn verraten.

Noch bevor Hauptmann am 3. April 1936, 20.44 Uhr, im Todeshaus des Gefängnisses von Trenton auf dem elektrischen Stuhl der Stromstoß traf, hatte die US-Regierung Strafbestimmungen über Kidnapping erlassen: Jeder Entführer, der im Zusammenhang mit dem Verbrechen von einem Bundesstaat in den anderen überwechselt und sein Opfer verletzt oder tötet, hat sein Leben verwirkt.

Trotz dieser sogenannten Lindbergh-Acts und einschlägiger Gesetze in den Bundesstaaten gelang es bis heute nicht, die »nationale Schande« (so die »Encyclopedia Americana« über Kidnapping) gänzlich auszurotten. Sie wurde von der Maffia aus Italien eingeschleppt und machte sich zum erstenmal im Jahre 1874 bemerkbar: Unbekannte hatten den vierjährigen Charley Ross aus Germantown im Bundesstaat Pennsylvania geraubt. Charley wurde nie gefunden.

Mit der steigenden Macht organisierten Gangstertums nach dem Ersten Weltkrieg geriet der nationale Schandfleck immer häßlicher. In einem Rechenschaftsbericht für die Jahre 1930 und 1931 vermeldete Chikagos Polizeichef allein für den Bereich seiner Stadt 200 Fälle von Kidnapping; die Angehörigen der Opfer hatten den Tätern insgesamt zwei Millionen Dollar Lösegeld gezahlt.

Unübertroffen ist bis heute auch das technische Raffinement amerikanischer Menschenräuber. Ende 1968 etwa vergrub bei Atlanta ein Entführer sein Opfer, die 20 Jahre alte Barbara Mackle, in einer verschraubten Kiste, die mit einem batteriegetriebenen Ventilator, elektrischem Licht sowie Wasser- und Lebensmittelvorräten ausgestattet war. Nach 80 Stunden -- als er eine halbe Million Dollar kassiert hatte -- verriet der Kidnapper das Versteck. Barbara Mackle wurde unversehrt aus dem Komfort-Sarg geborgen.

Europa war gegen das US-Übel bis in die jüngste Zeit immun. So kannte das deutsche Strafrecht den Tatbestand des Kidnapping bis 1936 überhaupt nicht. Erst damals -- elf Wochen nachdem Hauptmann auf den elektrischen Stuhl geschnallt worden war -- wurde ein einschlägiger Paragraph in das Strafgesetzbuch aufgenommen. 1953 neu gefaßt, droht er nun für »erpresserischen Kindesraub« an: »Wer ein fremdes Kind entführt oder der Freiheit beraubt, um für dessen Herausgabe ein Lösegeld zu verlangen, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren bestraft.«

Kidnapper werden in der Unterwelt geschmäht.

Und erst jetzt soll dieser Paragraph 239 a StGB, nach dem Entwurf des 13. Strafrechtsänderungsgesetzes vom Oktober 1971, auch auf den erpresserischen Raub Erwachsener erweitert sowie ein zusätzlicher Paragraph 239 b ("für Fälle, in denen die Geiselnahme zu anderen als zu Bereicherungszwecken erfolgt") ins Strafgesetzbuch aufgenommen werden.

Doch Anfang der sechziger Jahre hatten auch die Europäer ihren Schandfleck weg. Im April 1960 wurde der vierjährige Sohn Eric des französischen Autofabrikanten Peugeot entführt. 500 000 Franc zahlten Erics Eltern für die Freilassung an die Räuber, die nach elfmonatiger Jagd gefaßt und 1962 zu 20 Jahren Zuchthaus verurteilt wurden.

Letzten Sommer fingen Erpresser -- ein Ehepaar, wie sich später ergab -- in Kopenhagen den Tuborg-Brauerei-Direktor Viggo Rasmussen, 56, vor dessen Villa ab und verlangten 846 000 Mark Lösegeld. Die Tuborg-Geschäftsleitung beschloß, die geforderte Summe zu zahlen, ohne die Polizei einzuschalten.

Kidnapper -- eine Spezies, die selbst in Kriminellen-Kreisen geschmäht wird -- tauchten schließlich auch in Westdeutschland auf. Und gleich die beiden ersten Fälle trugen klassische Züge dieser Verbrechensart -- sowohl von der Tat und vom Tätertyp her wie auch in den Besonderheiten, die sich bei der Verfolgung einstellen.

Weil sie zu den Angehörigen des Entführten Verbindung aufnehmen müssen, um ihre Tat vollenden zu können, liefern Kidnapper den fahndenden Kriminalisten -- etwa durch mitschneidbare Telephongespräche oder schriftliche Nachrichten -- zwar meist wesentlich klarere Anhaltspunkte als andere Kapitalverbrechen; andererseits aber muß die Polizei bei der Jagd auf Kidnapper ungewöhnlich behutsam verfahren -- denn als Tatzeuge schwebt das Opfer ständig in Lebensgefahr.

Allerdings ist Kidnapping auch für die Täter eine Straftat mit zwangsläufig besonders hohem Risiko. Denn anders als beim Raub- oder Banküberfall vollzieht sich die Tat nicht in einer Zeitspanne von Sekunden oder Minuten. Vom Beginn bis zum Abschluß läuft die Tat meist über Tage, zuweilen Wochen. Dieser Umstand erfordert beim Täter starke Nerven, die Fähigkeit, der psychischen und physischen Anspannung -- bedingt auch durch die Furcht, sich durch Fehler zu verraten -- über längere Zeit hinweg standzuhalten.

Die notwendige Kontaktaufnahme muß so beschaffen sein, daß sie gleichwohl die Anonymität der Täter und ihr Versteck wahrt. Das setzt beim Täter Verstand und Kombinationsgabe ebenso voraus wie Übersicht und Raffinement, aber auch Kaltblütigkeit und die Fähigkeit, den Tatplan jeweils wechselnden Gegebenheiten neu anzupassen.

Amateur-Ganoven werden sich des Risikos meist erst beim Ablauf der Tat bewußt -- und drehen durch. In dieser Situation -- und das macht vor allem solche Täter gefährlich -- sehen sie einen Ausweg darin, Opfer oder Vermittler als Tatzeugen zu töten.

Die Intervalle zwischen den Taten werden immer kürzer.

Wie im Fall Lindbergh endeten die beiden ersten Kidnappings in der Bundesrepublik -- die Entführung des sieben Jahre alten Joachim Goehner aus Stuttgart-Degerloch am 15. April 1958 und der Raub des siebenjährigen Hans Knaupp aus Friedrichshofen bei Ingolstadt am 3. Februar 1961 -- denn auch tödlich für die Kinder. Und wie bei vielen Entführungen waren die Täter keine kriminellen Profis, sondern Einzelgänger, Gelegenheitsverbrecher, die sich von materiellem Verdruß befreien wollten.

Emil Tillmann, 41, der Entführer Joachim Goehners, war im Krieg Eisenbahnpionier gewesen, hatte danach unstet mal als Bauhilfsarbeiter, mal als Gärtner gearbeitet; seine Ehe war geschieden. 15 000 Mark Lösegeld sollten Basis für eine neue Existenz und eine neue Ehe geben.

Peter Schwaiger, 18, der Entführer Hans Knaupps, ein über seine Verhältnisse lebender Hilfsarbeiter, dem später vor der Verurteilung zu lebenslanger Haft ein Gutachter »das blanke Nichts« bescheinigte, brauchte Geld für die Abzahlung seines Mopeds.

Wie im Fall Lindbergh töteten Tillmann und Schwaiger ihre Opfer schon vor der Kontaktaufnahme mit den Angehörigen: Aus Angst vor Entdeckung -- »weil man«, wie Schwaiger später vor Gericht erläuterte, »nicht weiß, wohin damit, und damit es nicht mehr reden kann, weil man sonst aufkommt«.

Seither gehört Kidnapping -- in der Begriffswelt der Kriminologen ein typisches Nachahmungs- oder Anschlußdelikt -- in der Bundesrepublik zu den gängigen Verbrechen. Die Albrecht-Entführung eingeschlossen, registrierte das Bundeskriminalamt in Wiesbaden mittlerweile ein Dutzend Fälle von »räuberischer Entführung«, darunter vier mit tödlichem Ausgang für das Opfer. Und immer kürzer werden die Intervalle zwischen einer Tat und der nächsten.

Der Entführung des Wiesbadeners Timo Rinnelt im Jahre 1964 folgte 1966 der Berliner Fall Audrey Klewer: Ursprünglich hatte der Gelegenheitsarbeiter Jürgen Henschel, 22, den Kunsthändler Herbert Klewer in dessen Wannsee-Villa überfallen und berauben wollen. Doch als er statt auf den Hausherrn auf die vierjährige Enkelin Audrey stieß, nahm er das Kind mit und versteckte es in einer Gartenlaube. Audrey wurde dort lebend gefunden.

1969 wurde im badischen Kirnbach der Schüler Volker Abromeit, 12, gekidnappt, und 1970 geschahen erstmals zwei Entführungen binnen eines Jahres; in Erlangen wurde die siebenjährige Renate Basel von zwei Jugendlichen geraubt, in München der fünfjährige Stefan Arnold (alle drei Kinder überlebten).

In diesem Jahr aber geriet das Delikt in der Bundesrepublik zum erstrangigen Kriminalitätsproblem:

Bislang wurden fünf Entführungen bekannt. Eines der Opfer, die Münchner Millionärstochter Renate Putz, 16, überlebte nicht. Das Mädchen wurde erschossen, weil es den Täter, Kaufmann Karl Dorfner, gekannt hatte.

Wenigstens drei Entführungen aus letzter Zeit setzten neue Akzente der Verbrechensgeschichte. Polizei und Staatsanwälte, von Amts wegen mit der Verfolgung von Menschenräubern befaßt, werden zusehends durch übergeordnete Instanzen aus der Hauptrolle verdrängt oder gar -- wie auch im Fall Albrecht -- durch Privatleute in einen Statistenstatus versetzt.

Als den Wiesbadener Antiquitätenhändler Joachim Rinnelt im Februar 1964 die Nachricht eines Erpressers erreichte, der für seinen fünf Tage zuvor verschwundenen sieben Jahre alten Sohn Timo Lösegeld forderte*, entschlossen sich die hessischen Justizbehörden zu einem Schritt, der bis dahin in der deutschen Strafverfolgung ohne Beispiel war: Als »Maßnahme des übergesetzlichen Notstands« versprach die Staatsanwaltschaft auf höhere Weisung den Kidnappern 50 000 Mark Lösegeld sowie sechs Stunden Zeit zum freien Abzug, falls Timo unversehrt ausgeliefert worden wäre.

Als Kidnapper am 22. Februar 1971 den sieben Jahre alten Michael Luhmer, Sohn eines mittellosen Busschaffners, in seinem Heimatort Niederbachern bei Bonn aus dem Rosenmontagszug holten und mit der Forderung nach 200 000 Mark Lösegeld sogleich die Morddrohung verbanden, fand sich Nordrhein-Westfalens Landesregierung unverzüglich bereit, seinem minderjährigen Bürger mit dieser Summe aus der Not zu helfen. Ministerpräsident Kühn: »Das Leben eines Menschen muß uns 200 000 Mark wert sein.« Der Münchner Rechtsanwalt Till Burger vermittelte schließlich den einzigartigen Handel und brachte das entführte Kind zurück.

Die Entscheidung des NRW-Kabinetts -- an die Regierungschef Kühn die Hoffnung knüpfte, »daß sich ein solcher Fall nicht wiederholt« -- eröffnet Anschlußtätern völlig Neues: Bislang zählten vorwiegend Angehörige reicher, zumindest wohlhabender Familien zu den potentiellen Opfern des Kidnappings: seit der Staat Bereitschaft zeigte, notfalls die Kosten zu tragen, praktisch jedermann

Richtungweisend auch war die Entführung des millionenschweren Hamburger Gastronomen Wilhelm Bernhard Keese, 71 ("Ball Paradox"), im vergangenen August, die schon überstanden war, bevor noch die Polizei informiert wurde.

Den Fahndern fehlen Funk- und Ortungsgeräte.

Keese war frühmorgens mitsamt seiner Verlobten Charlotte Jürges, 55, vor seinem Anwesen in Wedel bei Hamburg von drei vermummten Männern überfallen worden. Die bewaffneten Gangster setzten nach kurzer Fahrt im Kee-

* Wie sich drei Jahre später ergab, war Timo damals bereits tot. Klaus Lehnert, 23, hatte das Nachbarskind aus ungeklärten Motiven umgebracht. Er wurde im August 1968 wegen Mordes zu lebenslang Zuchthaus verurteilt.

se-Mercedes die Begleiterin ab, nachdem der Geschäftsmann das Lösegeld von ursprünglich einer Million auf 100 000 Mark heruntergehandelt hatte. Frau Charlotte verschaffte bei Keeses Hausbank die verlangte Summe und händigte sie den Erpressern nach vorheriger telephonischer Weisung über die Geheimnummer des Damenwahl-Unternehmers aus. Wenig später war der Entführte frei.

Der Raub des Ladenkettenbesitzers Albrecht ist das jüngste Kapitel der nach Europa importierten amerikanischen Tragödie. Und Kriminal-Praktiker wie der Münchner Polizeipräsident Manfred Schreiber beklagen die technischen Schwächen der Verfolger: daß bei Kidnappingfällen selbst in großen Kriminalpolizeidienststellen die »zur Verfügung stehenden ständigen Observationsbeamten ... niemals ausreichend« sind; daß es bei derlei Großeinsätzen an Handfunk- und Funkgeräten fehlt.

Die Befürchtung, daß Menschenraub in Westdeutschland gleichsam Tagesgeschehen werden könnte, resultiert auch aus der Erfahrung mit anderen Spezialitäten überseeischer Gewaltkriminalität: Was sich in der Verbrechensszenerie der Vereinigten Staaten etabliert hat, wird in der Alten Welt regelmäßig nachvollzogen.

Vor und während der Kidnapping-Infektion übersiedelten aus den USA rationelle Formen der Prostitution -- so Call-Girl-Ringe und eine weitgehend zentrale Steuerung des Personalumschlags in Freudenhäusern. Danach rollte die Rauschgiftwelle über Mitteleuropa. Und die Kriminalität insgesamt wurde von immer groberer Machart.

Nach den Statistiken des Bundeskriminalamtes stieg die Zahl der in der Bundesrepublik begangenen schweren und gefährlichen Körperverletzungen in den vergangenen fünf Jahren von 30 403 auf 37 895, letztes Jahr wurden nahezu doppelt so viele Raubüberfälle und räuberische Erpressungen wie fünf Jahre zuvor verübt (13 230 Fälle gegenüber 7655 Fällen im Jahr 1965).

Und am 18. Februar 1970 -- bei einem Überfall auf eine Kieler Commerzbank-Filiale -- plünderte erstmals in der Bundesrepublik ein Räuber ein Geldinstitut in nordamerikanischem Stil: Er setzte einem Banklehrling die Pistole auf die Brust und kassierte, die Geisel vor dem Lauf, am Tresen 7725 Mark. Vierter Überfall nach diesem Muster war die spektakuläre Geiselnahme von München, die am 4. August einen Bankräuber und eine Geisel das Leben kostete; der mittlerweile achte fand zur Adventszeit in Froschhausen bei Hanau statt.

Bei den Albrechts ging es zur selben Zeit -- als in Essen-Bredeney die Millionenforderung einkam -- schon nicht mehr um Geld allein, sondern auch darum, auf welche Weise die Scheine der »Profi-Bande« (Polizei) übergeben werden sollten -- Zug um Zug. Denn entgegen dem ursprünglichen Verlangen der Erpresser, zuerst das Geld zu erhalten und später dann Theo Albrecht freizugeben, bestand die Familie auf gleichzeitigem Austausch.

Die Polizei riet den Albrechts auch davon ab, auf die Bedingung der Unbekannten einzugehen, mit Frau, Sohn und Geschäftsführer zum Übergabe-Treff zu kommen. Polizeipräsident Kirchhoff in Essen: »Das riecht nach Geiselnahme.«

Schließlich stellte die Familie einen neutralen Vermittler, der den Millionen- und Menschenhandel zu Ende bringen sollte: Ruhr-Bischof Dr. Franz Hengsbach, 61.

Längst waren Reporter an Rhein und Ruhr durch anonyme Hinweise dem Kriminalfall auf die Spur gekommen. Ein Weilchen zwar war es der Polizei gelungen, der Presse die Schlagzeilen auszureden. Aber elf Tage nach Albrechts Verschwinden schwand auch die Selbstverleugnung nordrhein-westfälischer Journalisten.

Die Fahnder mühten sich, Vorteil aus der Publizität zu ziehen und nun wenigstens per Presse mit den Menschenräubern Ins Benehmen zu kommen: Sie ließen verbreiten, den Tätern werde ein Tagesvorsprung gewährt, »damit Theo Albrecht gesund wiederkommt« -- so Oberstaatsanwalt Lindenberg.

Am selben Tage und auf gleichem Wege warb auch die Albrecht-Familie noch einmal um Kooperation: Unter »Verschiedenes« konnten die Entführer in der »Westdeutschen Allgemeinen« lesen: »Hallo! Nachricht 8. 12. angekommen. Bei Anruf von auswärts -- dieser dringend erbeten -- für beide Teile in jedem Fall Diskretion gesichert.«

Für die Fahndungs-Formel: fangen, nicht jagen fand Staatsanwalt Lindenberg die juristische Begründung: »Das Leben des Entführten ist vorrangig gegenüber dem Strafverfolgungsanspruch des Staates.« Es war eine kriminal-taktische Entscheidung, die anders als der Entschluß des Münchner Oberstaatsanwalts Erich Sechser im Falle Rammelmayr zugleich Leben über Vermögen stellte.

Sechser hatte sich damals rechtswidrig auf »Nothilfe«, auf »Rudimente des Faustrechts« (Polizeirechtler Dr. Kurt Gintzel) berufen und die Bankräuber -- trotz der Vorstellungen des Münchner Polizeipräsidenten Manfred Schreiber -- abschießen lassen. Franz Josef Strauß war zufrieden: »Da hat's patscht.«

Lindenberg hingegen berücksichtigte nun rechtmäßig den »Gesichtspunkt des übergesetzlichen Notstands« und behielt die Menschenräuber -- mit Einverständnis des Essener Polizeipräsidenten Kirchhoff -- lediglich im Visier. Ein ehemaliger »Ranger« war unzufrieden und bot sich der Staatsanwaltschaft unter Hinweis auf das Münchner Vorgehen als Scharfschütze und Spezialist für »Langwaffen« an.

Durch aberwitzige Aktivität der eine, durch abwägendes Abwarten der andere -- so lösten die beiden Oberstaatsanwälte die Kollision der beiden hoheitlichen Pflichten: Täter fassen, Opfer schützen.

Wenn Albrechts Schutz schon nicht zu garantieren war, so richteten sich die Verfolger immerhin darauf ein, bei der ersten Chance zum Zugriff massiv da zu sein. Scheinbar auf Distanz, doch immer auf dem laufenden, observierten sie einschlägige Kreise, hörten Telephone ab und konservierten Stimmen. Autos wurden gestoppt, Straßen, Bahnhöfe und Flughäfen überwacht. Uniformierte Hundertschaften standen alarmbereit.

Der »Entführungsrat« (Eigen-Name), dem die polizeiliche Betriebsamkeit nicht entgangen sein konnte, bezichtigte den Oberstaatsanwalt Lindenberg per Eilbrief der Unredlichkeit. Lindenberg gab sich »sehr befremdet": »Das ist das erste Mal, daß mir Leute von der anderen Seite so etwas vorwerfen.« Der Brief an Lindenberg wurde laut Staatsanwaltschaft in Theo Albrechts eigener Handschrift niedergeschrieben.

Und dieselben Schriftzüge trug auch ein mit »Dr. Mayer« unterzeichneter Brief, den NRW-Ministerpräsident Heinz Kühn am Mittwoch voriger Woche erhielt. Auszug:

Es ist völlig absurd, zu glauben, Theo Albrecht würde ermordet werden. Es geht ihm weit besser als denen, die sich um sein Leben sorgen.

Unser unfreiwilliger Gast hat ein gutes Bett, kann alle 2 Tage baden, erhält frische Wäsche und bestes Essen. Er hört Radio, und er kann alle Greuelmärchen in der sensationslustigen Presse lesen. Er kann täglich seiner Frau schreiben, um ihre große Sorge etwas zu mildern.

Unsere Aktion läuft unter der Devise »Vermögen in Arbeitnehmerhand«. Die Gesetze dauern uns zu lange. Sie sehen an diesem Beispiel, wie man aus einem Millionär 8 Millionäre macht. Nordrhein-Westfalen braucht viel mehr Millionäre. Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm. 624,- DM im Jahr sind ein Hohn. Wir wollen einem viel zu reichen Mann etwas abnehmen. Wir sind keine Mörder. Auch die Hetzjagd der Polizei und Staatsanwaltschaft können uns unter keinen Umständen zu einer Verzweiflungstat bringen.

Theo Albrecht wäre längst frei, wenn nicht die Polizei und die Presse die Finger dazwischen hätte. Wir möchten, daß Theo Albrecht noch vor Weihnachten bei seiner Familie ist.

Er war es. Am Donnerstagabend letzter Woche, 17 Tage nach dem Kidnapping, übergaben die Entführer Theo Albrecht dem Vermittler, Ruhrbischof Hengsbach, und kassierten sieben Millionen (20- bis 1000-Mark-Scheine) -- an einem Ort, der »weniger als 120 Kilometer« (so ein Kriminalbeamter) von Albrechts Haus in Essen-Bredeney entfernt war.

24 Stunden lang blieb der Menschenhandel, wie mit den Entführern vereinbart, geheim -- oder doch fast geheim. Jedenfalls sah Oberstaatsanwalt Lindenberg den Freigelassenen erst am Freitagabend 19.50 Uhr, in dessen Haus. Lindenberg: »Matt und abgespannt, aber gesund.«

Nun erst erfuhr die Kripo, wie das Verbrechen abgelaufen war: daß Theo Albrecht am 29. November gegen 18.15 Uhr seinen Betrieb verlassen und -- kaum hatte er in seinem Mercedes Platz genommen -- von zwei pistolenbewehrten Männern ("Hüte tief ins Gesicht gezogen") gefesselt und abtransportiert worden war. Dann: Wagenwechsel, stundenlange Fahrt bis in einen Schuppen, Weiterfahrt in ein Domizil -- über das der Entführte zunächst der Kripo kaum eindeutige Angaben machte.

Während Theo Albrecht bei »guter Verpflegung« hinter einem Vorhang lebte -- die Entführer reichten ihm die Briefe mit Pinzette, die er dann handschriftlich nach Hause, an den Staatsanwalt und an NRW-Chef Kühn zu schicken hatte -, erfuhr er auch, wie er Opfer des Kidnappings geworden war: Die Entführer hatten seinen Namen aus dem Buch »Die Reichen und die Superreichen« ausgewählt.

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