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»Wir haben Remedur geschaffen«

Einst ließ es sich leben in Argentinien: Bürgerfreiheit und Massenwohlstand kennzeichneten das Land wie kein anderes in Lateinamerika. Das ist vorbei. Die Militärs, seit anderthalb Jahren an der Macht, bescherten dem Land zwar Ruhe, aber auch Folter und Mord. Der Lebensstandard sinkt ständig, die Gewerkschaften sind ausgeschaltet. Und über der Frage, wie die Gesellschaft neu geordnet werden soll, haben sich die Militärs völlig zerstritten.
aus DER SPIEGEL 46/1977

Vor den Luxusgeschäften Santarelli und Nayorga in der eleganten Avenida Santa Pc von Buenos Aires oder bei Cartier auf dem breiten Boulevard Corrientes, wo kein Feuerzeug und kein Kugelschreiber unter 150 Mark zu haben ist, lassen sie sich vorfahren, wie es sich geziemt: im Cadillac zumeist, notfalls auch im Mercedes.

Chauffiert von distinguierten Herren, durch deren dunkle Uniformen sich die Pistole im Schulterhalfter abzeichnet, begeben sich Argentiniens Reiche zu Geschäft und Kurzweil. Die Damen im ehrwürdigen Sandsteinbau des Plaza-Hotels etwa, wo sie sich nachmittags zum wöchentlichen Clubtreffen versammeln und der Gesellschaftsreporterin der Tageszeitung »Clarin« das Gruppenphoto für die Spalte »Buenos Aires Social« gewähren. Oder bei Harrods, um Skimoden auszuwählen, oder nebenan in der für Fußgänger reservierten Calle Florida, um die neuen Schuhe bei Gucci zu prüfen.

Die Herren treffen sich immer noch im vornehmen Polo-Club gegenüber der Galopprennbahn, und zur Ausbildung der Kinder gehört immer noch der fünfjährige Aufenthalt in einem Schweizer Internat.

Ungerührt von jeder Krisenfurcht und ungeniert ob ihrer Privilegien zelebrieren Argentiniens Reiche ihre Lebensart: fein, europäisch teuer und exklusiv.

Derweil schreiben andere schon an den Nachrufen für jene Nation, die in Südamerika über hundert Jahre lang als Vorbild galt für Bürgerfreiheit und Demokratie, deren Reichtum -- gegründet auf den Export von Fleisch und Weizen, von Autos, Öl und Leder -- und deren Vitalität unerschöpflich schienen.

Das Land, das über zwei Jahrhunderte den höchsten Lebensstandard Lateinamerikas hatte und deshalb nach dem Zweiten Weltkrieg von rechten europäischen Politflüchtlingen als neue Heimat erwählt wurde; das Land, dem der englische Premier Churchill 1945 eine große Zukunft »als Weltmacht auf dem Südteil des Globus« prophezeit hatte, ist heute ärmlich und provinziell.

Zwar drängeln sich immer noch Tausende jedes Wochenende auf der Kinostraße Lavalle, herrscht Hochbetrieb im bevorzugten Steakrestaurant »La Estancia«, und in den Kneipen des San-Telmo-Viertels improvisieren die Musiker immer noch den traditionellen Tango.

Doch das »Swinging Buenos Aires der 50er Jahre« ("The New York Times") ist inzwischen düsterer geworden. Seine imperialen Avenidas sind spärlicher beleuchtet als manche Slumstraßen in Limas berüchtigtem Hafen Callao, das Opernhaus Teatro Colón, in dem einst Toscanini dirigierte und Caruso sang, muß heute mit zweitklassigen Künstlern spielen, und in der

* Oben: Staatspräsident Videla, Marinechef Massera, Luftwaffenchef Agosti; unten: Nach einem Attentat auf eine Busstation werden Verdächtige zum Verhör gebracht.

Boca, dem hauptstädtischen Vergnügungsviertel, beklagen die willigen Damen in den Nachtbars den Mangel an zahlungskräftigen Herren.

In dem Land mit der »ausgeglichensten Bevölkerungsstruktur, der breitesten Mittelklasse, dem besten Schulsystem in Südamerika -- ohne Hunger und Rassenprobleme, ohne Arbeitslosigkeit und Analphabetentum« ("The New York Times") -- wankt heute die Wirtschaft. Der Lebensstandard sinkt im Vergleich zu den Nachbarstaaten, und die Angst vor Terror und staatlicher Willkür grassiert bei kleinen Unternehmen, Arbeitern und Angestellten.

Am Ende einer langen Reihe von Krisen, befand der »New York Times«-Korrespondent Juan de Onis, »sind alle Elemente des komfortablen Lebens der Argentinier zerstört«, und niemand weiß so recht, wie es weitergehen soll.

Die regierenden Militärs, seit dem unblutigen Putsch am 24. März 1976 an der Macht, sind über die politische Zukunft des 25-Millionen-Einwohner-Landes tief zerstritten.

Während der als Präsident regierende Heereschef, General Jorge Rafael Videla, 52, für einen »Dialog zwischen der Regierung und den zivilen Kräften im Lande« eintritt, sieht eine mächtige Opposition in Marine, Heer und Luft-

* Zwischen Kapitalismus (oben links) und Kommunismus (oben rechts) wird der Peronismus als einzige ideologische und politische Kraft dargestellt.

waffe die Zukunft des Pampas-Staates eher in einer autoritären Militärdiktatur oder einem offen faschistischen Regime nach Art des chilenischen Generals-Präsidenten Pinochet.

Fruchtlos diskutieren die drei Junta-Chefs, Videla (Heer), Agosti (Luftwaffe) und Massera (Marine), seit langem, wann, wie und an wen sie die Regierungsgewalt wieder abgeben sollen.

Ihre Gefolgsleute in den Streitkräften und in den politisch wie ökonomisch einflußreichen zivilen Eliten befinden sich in einem Prozeß der Auflösung, zerfallen in Gruppen, die zwar stark genug sind, den Präsidenten Videla an der Verwirklichung seiner Pläne zu hindern, die aber allesamt zu schwach sind, einer neuen Tendenz zum Durchbruch zu verhelfen.

Am 24. März 1976 hatten die Militärs Einigkeit gezeigt: Ohne auf Widerstand zu treffen, beseitigten sie das demokratisch gewählte Regime der Staatspräsidentin Maria Estela Martinez de Perón, genannt Isabelita, Witwe und Nachfolgerin des im Sommer 1974 verstorbenen Ex-Diktators und Volksidols Juan Domingo Perón. Korruption und totaler Bankrott waren von jener politischen Kraft übriggeblieben, die drei Jahrzehnte die Geschicke Argentiniens geprägt hatte, dem Peronismus.

Juan Domingo Perón, der Lebemann mit dem Blick für Frauen und der Demagoge mit der richtigen Tonlage, die ans Herz der Menge rührte, hatte 1946 das Millionenheer der »descamisados« (Hemdlosen), das keiner Ideologie verpflichtete Großstadt-Lumpenproletariat, hinter sich gebracht.

Ein Pakt unter Gleichen. Denn auch Perón fühlte sich weder moralischen Werten noch Ideologien verpflichtet. Populistisch folgte der den Winden jeglicher Politkonjunktur, zitierte Hitler und Mussolini, Marx und Mao, versprach Nationalismus und Sozialismus. Den Descamisados bescherte er die fortschrittlichste Sozialgesetzgebung und höchsten Löhne des Subkontinents und vermittelte ihnen erstmals das Gefühl, für den Staat von Bedeutung zu sein.

Aber er wirtschaftete das Land herunter und verstrickte sich und seine Gefolgsleute in zweifelhafte Geschäfte. Nach neun Jahren jagten ihn die Militärs ins Exil -- 18 Jahre später holten sie den »Caudillo« zurück, weil Argentinien gegen seine Anhänger nicht zu regieren war.

Als der greise Tribun 1974 starb, begann unter seinen Parteigängern ein Kampf aller gegen alle: Linke Montonero-Guerillas und rechtsextreme Schlägertrupps der »Argentinischen Antikommunistischen Allianz« (AAA) brachten sich gegenseitig um, töteten aber auch Unbeteiligte.

Während seine Nachfolgerin im rosafarbenen Präsidentenpalast Casa Rosada sich hinter konservativen und zwielichtigen Beratern verschanzte -ihr Hauptberater José López Rega wurde »der Hexenmeister« genannt

trieb das Land in das Chaos: Alle fünf Stünden geschah zuletzt ein politischer Mord, jeden Tag wurden Politiker, Professoren und Geschäftsleute entführt.

Wirtschaft und Staatsfinanzen standen vor dem Zusammenbruch: Im letzten Jahr ihrer Herrschaft war die Inflationsrate auf 738 Prozent und die Staatsverschuldung auf 65 Milliarden Mark geklettert.

Nur mit Gewalt, so entschieden die Offiziere damals einstimmig, ließ sich die Unordnung beseitigen, der Staatsbankrott abwenden und der Terror niederkämpfen.

In einem blutigen und brutalen Feldzug haben Polizei, Militärs, Nachrichtendienst und rechte Geheimbündler seitdem Jagd gemacht auf alles, was sie für intellektuell und für links hielten. Nach Angaben der argentinischen Militärs sind heute drei Viertel der Montoneros und neun Zehntel des »Revolutionären Volksheeres« (ERP) zerschlagen.

Trotz dieser Erfolgsmeldungen läuft die staatlich gelenkte Menschenjagd weiter. Die Vermißtenmeldungen bei der argentinischen »Liga für Menschenrechte« belegen es.

Ihr Generalsekretär Victor Bruschi: »Wir haben inzwischen mehrere tausend Verschwundene registriert.« Im April und Mai, berichtet er, waren die täglichen Vermißtenmeldungen zurückgegangen (Argentinien bemühte sich zu jener Zeit um Kredite in den USA und in Europa), »aber jetzt steigen sie rapide an«.

In den verrauchten Büros der Liga im achten Stock des grauen Gebäudes unweit der U-Bahn-Station Callao warten täglich etwa 50 Angehörige von Verschwundenen, von »desaparecidos«. Die meisten sind Frauen. Eingeklemmt zwischen Aktenstapeln und Kleiderspenden aus Europa harren sie stumm und geduldig, daß ihr Name aufgerufen wird und sie erzählen können, wie ihr Mann oder Sohn verschwunden ist. Bruschi: »Nur den wenigsten können wir helfen, viele müssen wir vertrösten.«

Wie viele Opfer in die anonymen Todesmühlen der Greifkommandos geraten sind. vermag niemand anzugeben. Bruschi: »Zahlen wird es, wenn überhaupt, erst geben, wenn man ohne Angst um das eigene Leben eine Vermißtenmeldung abgeben kann.«

Die Schätzungen reichen von insgesamt 10 000 Toten und Verschwundenen (katholische Kirche) bis zu 70 000 (Emigranten in Venezuela und Mexiko).

Sicher ist, daß pro Woche immer noch ein weiteres gutes Dutzend Menschen allein in Buenos Aires vermißt werden -- und nur wenige tauchen später lebend wieder auf.

Wenn in der Zehn-Millionen-Metropole Zivilfahrzeuge der Typen Ford Falcon oder Ford Taunus nach Einbruch der Dunkelheit die Runde machen und mindestens drei Personen im Wagen sitzen, korrekt mit Krawatte und Jackett gekleidet, dann wissen die Großstädter, daß sie einen Kommandotrupp von Polizei oder Marine vor sich haben.

»Du fragst dann nicht lange nach Papieren, wenn du in die Mündung einer Maschinenpistole schaust«, berichtet ein Journalist von seiner Verhaftung. Zwei Zivilisten hatten auf ihn gewartet, als er die Wohnung eines Freundes in der belebten Geschäftsstraße Tucumán im Zentrum von Buenos Aires verließ. Mit verbundenen Augen wurde er nach etwa zwanzig Minuten Fahrt in einem Haus abgeliefert, verhört und -»behandelt« -- er traut sich nicht, das Wort »gefoltert« zu gebrauchen.

52 Stunden später setzte ihn ein anderes Fahrzeug an der Ausfallstraße nach La Plata ab. Wer ihn festgenommen hatte und warum er davongekommen ist, weiß er bis heute noch nicht.

Andere hatten weniger Glück. Mindestens zehntausend, schätzt Amnesty International. blieben im Räderwerk dieser Terrormaschinerie hängen: In Córdobas Gefängnis von San Martin etwa, durch dessen schmiedeeisernes Haupttor in der Colombes-Straße 2300 jede Nacht Zivilfahrzeuge sogenannte »Verdächtige« abliefern, oder in der im Kolonialstil gebauten weißen »Villa Devoto« in Buenos Aires, in deren Kellerzellen (zwei Quadratmeter groß, ohne Toilette und Lüftung) Opfer in Einzelhaft mit Schlägen und Drohungen fürs Verhör weichgemacht werden.

In La Plata nennt sich die zentrale Ablieferungsstelle »Unidad 9« (Einheit Neun), in der Provinz Buenos Aires sind es das um die Jahrhundertwende erbaute Gefängnis von »Sierra Chica«, inmitten von Militärkasernen gelegen, und »La Atómica« am internationalen Flughafen Ezeiza. In Tucumán schließlich wird in der Kommandantur der örtlichen Polizei und in der »Abteilung für Körpererziehung« gefoltert.

»Behandelt« werden die Verdächtigen mit Elektroschocks, Fußtritten, Nahrungs-, Wasser- und Schlafentzug und mit dem sogenannten Unterseeboot, bei dem der Kopf des Opfers so lange ins Wasser getaucht wird, bis es dem Erstickungstod nahe ist.

Weder Richter noch Anwälte haben Zugang zu den Zellen, weil die Regierung die politischen Verfahren zu militärischen Geheimnissen erklärt hat. Gefangenenlisten werden nicht veröffentlicht, damit einmal die Anwälte nicht nachweisen können, daß ein »desaparecido« tatsächlich verhaftet worden ist, und zum anderen die Richter keinen Haftprüfungstermin ansetzen können, wie es das Gesetz in Argentinien auch heute noch zwingend vorschreibt.

Zu den »Verschwundenen« zählen auch neun Deutsche. Nur einer von ihnen ist wiederaufgetaucht: Im Juni meldeten die Streitkräfte, daß »bei einem Schußwechsel mit subversiven Verbrecherbanden, die sich selbst Montoneros nennen, eine Vertreterin der Vierten (trotzkistischen) Internationale erschossen worden« sei.

Aus Furcht vor Ultrarechten stützt die KP das Regime.

Es war die deutsche Soziologie-Studentin Elisabeth Käsemann, 30. Seit Ende März stand sie auf der Vermißtenliste der Konsularabteilung in der Deutschen Botschaft. Nach zwei offiziellen Noten an das Außenministerium und »durch eine Unzahl von Einzelkontakten« (Botschafter Kastl) war man sich in der deutschen Vertretung ziemlich sicher, »daß die Dame sich in Gewahrsam der Sicherheitsstreitkräfte befand« (ein deutscher Botschaftsangehöriger).

Die Entdeckung dei- Leiche Elisabeth Käsemanns drei Monate später zeigte, wie die Regierung gefolterte »desaparecidos« als vermeintliche Opfer eines Kampfes wieder los wird.

Denn obwohl ein Verbot erlassen wurde, über die Entdeckung von Leichen zu berichten, waren die verschiedenen Fundorte -- wohl wegen der großen Anzahl von Toten -- nicht geheimzuhalten.

Im San-Roque-See etwa, nahe Córdoba, entdeckte ein Angler »einen wahren Friedhof« (so die Nachrichtenagentur Ancla) -- etwa 30 Tote. Zwischen März und Oktober letzten Jahres meldeten friedliche Strandwanderer im benachbarten Uruguay 25 verstümmelte Leichen. die vermutlich vom Gelände der gegenüberliegenden argentinischen Marineschule herübergeschwemmt worden waren.

Der La-Plata-Fluß diente auch der Luftwaffe als Leichendeponie. Zwischen Juli und Dezember entledigte sich die 1. Luftwaffenbrigade in Palomar ihrer lästigen Gefangenen, indem sie sie auf Befehl des Brigadiers Mariani aus den Türen ihrer Flugzeuge, Typ Fokker F. 27, in den Fluß stürzte.

Gegen die Anklagen wegen permanenter Menschenrechtsverletzung wehrt sich die Junta mit der Behauptung, daß sie sich »im Krieg gegen linke Subversion« befinde (Videla). Wenn es dabei zu »Übergriffen« komme, so »ständen diese in direktem Verhältnis zum Angriff der Gegner des Staates« (ein Regierungssprecher).

Diese »Doktrin der nationalen Sicherheit«, mit der die Streitkräfte Entführung, Folter und Mord rechtfertigen, war selbst der eher regierungsnahen katholischen argentinischen Bischofskonferenz- zuviel.

Im Mai warnten die Kleriker: »Keine Theorie über die allgemeine Sicherheit kann die persönlichen Rechte außer acht lassen ... Ein falsches Konzept der Sicherheit hat dazu geführt, daß der Feindesmord als legitim anerkannt wird. Es hat zu psychischer und physischer Folter, zur Freiheitsberaubung und dem Auslöschen derjenigen geführt, von denen man annimmt, sie griffen die persönliche oder allgemeine Sicherheit an.«

Nicht zuletzt deshalb haben sogar Abgesandte des Vatikans bei der Menschenrechtskonferenz der Uno in Genf dafür plädiert, Argentinien wegen eklatanter Verletzung der Menschenrechte zu verurteilen.

Daß dennoch ein eindeutiger Uno-Beschluß unterblieb, hat die rechte Generalsjunta vor allem den Kommunisten im eigenen Land zu verdanken. Auf ihr Anraten hin enthielten sich Kuba, China, die Sowjet-Union und die osteuropäischen Staaten der Stimme.

Denn Argentiniens Kommunisten gewähren den Herrschenden noch immer »kritische Unterstützung« (KP-Erklärung). Sie fürchten, die einzige Alternative zur Herrschaft des Armee-Generals Videla sei der in der Marine konzentrierte ultrarechte Faschismus. »Während Videla regiert, töte ich.«

Dem hageren Infanterie-General Jorge Rafael Videla -- Spitzname »El Hueso«, der Knochen -- mit dem Habitus eines Turnierreiters der spanischen Kavallerie werfen Offizierskollegen, insbesondere der Marine und Luftwaffe, zu leichte Zügelführung vor. Sie wünschen sich eine härtere Hand.

Die Rechtsaußen um das Junta-Mitglied Admiral Massera finden Unterstützung auch in der Armee -- beim General Menéndez ("während Videla regiert, töte ich") und beim Gouverneur der Provinz Buenos Aires, General Ibérico Saint-Jean ("Erst werden wir die Subversiven töten, dann ihre Sympathisanten, danach die Indifferenten und zuletzt die Laschen").

Uneinig sind sich die Militärs vor allem in der Frage, wie der aufkeimende Widerstand der Arbeitnehmer gegen ihre Wirtschaftspolitik zu behandeln sei. Denn die Regierung will die Wirtschaft sanieren, indem sie die Preise freigibt, die Löhne aber einfriert.

Während Videla sich »zum Dialog mit allen sozialen Gruppen« bereit erklärt, verkündet sein Innenminister. General Harguindeguy, daß es »in den nächsten zehn Jahren« keine Gespräche mit Arbeitnehmern geben werde.

Admiral Massera findet »eine Wirtschaftspolitik ungerecht, die nicht auch die Löhne steigen läßt«, und General Menéndez behauptet sogar: »Für jeden Guerrillero, den ich hier töte, schafft mir der Herr Wirtschaftsminister fünf neue«.

Unter der Führung des Wirtschaftsministers José Martinez de Hoz ist es dem Regime zumindest gelungen, vorläufig den Staatsbankrott abzuwenden.

Vor der Machtübernahme im März '76 war die Zahlungs- und Handelsbilanz mit jeweils rund 900 Millionen Dollar passiv, die fälligen Schuldenzahlungen beliefen sich auf eine Milliarde Dollar bei nur 23 Millionen verfügbarer Reserven.

Der Staatshaushalt war zu achtzig Prozent ungedeckt. Niemand investierte mehr, und das Bruttosozialprodukt sank allein in den letzten drei Monaten vor dem Putsch um drei Prozent.

»Wir haben Remedur geschaffen«, behauptet deshalb stolz der hagere Wirtschaftslenker Martinez de Hoz. Protektionismus und Importkontrollen, fiskalische Sparsamkeit und eine seit einem Jahrzehnt nicht erreichte Rekordernte an Weizen (zwölf Millionen Tonnen) scheinen das Blatt gewendet zu haben.

Die Inflationsrate ist auf 165 Prozent gesunken. Die Deckungslücke im Haushalt verringerte sich auf 27 Prozent, und die Devisenreserven in den Marmorkellern der Nationalbank an der Plaza de Mayo sind auf über 2,7 Milliarden Dollar angestiegen.

Das soll freilich erst ein Anfang sein. Martinez de Hoz: »Der Kranke braucht noch eine lange Rekonvaleszenz -- und noch immer stimmt der Patient nicht mit dem Arzt überein.«

Was Wunder: Schon in der ersten Phase der »Sanierungskur« mußten die Lohnempfänger eine Senkung ihres Realeinkommens um über fünfzig Prozent hinnehmen. Um den gleichen Warenkorb bezahlen zu können, muß ein Familienvater heute im Junta-Staat 23 Stunden und 30 Minuten gegenüber 12 Stunden und 44 Minuten in der früheren Demokratie arbeiten.

Wer, wie die Angestellten im öffentlichen Dienst, tatsächlich nur ausgezahlt bekommt, was amtlich erlaubt ist, muß sich nach einem Nebenerwerb umsehen oder umsatteln.

Von den 150 000 Lehrern des Großraumes Buenos Aires haben deshalb mehr als 40 000 den Dienst quittiert. »Von meinem Gehalt (168 Mark) kann ich nicht mehr leben«, stöhnt der Lehrer Alberto Duarte.

Für seine Ein-Zimmer-Wohnung in einem der schmucklosen Reihenblocks des Arbeiterviertels »Los Perales« muß er 104 Mark zahlen. Für den Rest. sagt Duarte, »kann ich mir gerade eine Jeanshose leisten und einmal mit meiner Freundin ins Kino gehen«.

Das Geld für Essen und Trinken verdient er sich deshalb als Tellerwäscher im superfeinen Restaurant »Au Bec Fin«, wo mancher Gast mehr ausgibt, als Duarte im Monat verdient.

Sabotage in den Fiat-Werken.

Hochqualifizierte Techniker und Ingenieure, denen die Junta höchstens bis zu 400 Mark im Monat zubilligt, wandern nach Brasilien, Mexiko und Venezuela aus, weil sie dort mindestens das Doppelte verdienen können.

Es wird noch schlimmer kommen, In der zweiten Phase des Sanierungsplans soll das Budgetdefizit von zuletzt 2,76 Milliarden Mark auf mehr als die Hälfte vermindert werden -- vor allem durch Entlassung von Arbeitern aus Staatsbetrieben.

Einen Vorgeschmack künftiger Opfer bekamen die Eisenbahner der Belgrano-Linie: 720 verloren im September allein in der Provinz Salta ihren Job, weitere 26 000 -- etwa 70 Prozent des Gesamtpersonals der Staatsbahn -sollen folgen.

Rund 300 000 Argentinier sind nach amtlicher Schätzung in Behörden und staatlichen Betrieben überflüssig und nur deshalb noch nicht entlassen worden, weil die Junta den sozialen Sprengstoff fürchtet.

Der Widerstand ist schon jetzt groß genug. Mit verbotenen Streiks, Sabotage und Bummelarbeit, poetisch umschrieben als »trabajo a tristeza« (Arbeit mit Trauer>, wehrten sich zuerst die Arbeiter in der Automobilindustrie.

Mehrere hundert Autos gingen allein bei Fiat Argentina zu Bruch, weil Motoröl fehlte oder die Bremskabel leckten. Manchmal waren auch die Innenverkleidungen mit Messern zerschnitten oder die Fenstergriffe an der Außenseite der Autos angebracht.

Die Belegschaften der Gas-, Wasser- und Elektrizitätswerke verdunkelten ganze Stadtviertel und drehten mehrmals am Tag den Reichenvierteln im Norden das Wasser ab.

Im März folgten die Hafenarbeiter. die Eisenbahner und die Arbeiter der Erdölindustrie. Die Angestellten in der Banco Hipotecario schließlich ver-

* Oben: Brennende Busstation nach einem Guerillaanschlag; unten: Die Streikenden ergeben sich, nachdem sie sich im Polizeipräsidium verbarrikadiert und mehr Gehalt verlangt hatten.

brannten das stinkende Insektenvertilgungsmittel Gamexane in den Schalterhallen und vertrieben so Kunden und die letzten arbeitswilligen Kollegen.

Während die Tauben im Kabinett unter Arbeitsminister General Liendo versuchen, mit den Sprechern der Streikenden einen Kompromiß zu erreichen, sabotieren die Mordkommandos der Polizei und des Marine-Geheimdienstes den Dialog: Sie bringen die Gesprächspartner des Arbeitsministers um -- manchmal werden ihre verstümmelten Leichen dann an den Straßenrändern abgeladen.

Die Arbeiter rächen sich mit gleichen Mitteln: Durch gezielte Anschläge werden jene Polizisten eingeschüchtert, die an Entführungsaktionen gegen Arbeitersprecher teilgenommen hatten.

So detonierte in Buenos Aires am Vormittag des 8. August eine Bombe an der Straßenecke Loyola und Fitz Roy gegenüber dem 29. Polizeirevier. Und Polizisten wurden nur wenige Stunden später durch einen anonymen Anruf zur nächsten Bombe in die Cullen-Straße gelockt. Dort stehe, so hatte eine weibliche Stimme am Telephon versprochen, der als gestohlen gemeldete rote Citroen Kennzeichen B-1.023.788. Der Wagen explodierte, als die Polizisten ihn abschleppen wollten.

Die Methode zeitigt erste Erfolge: Allein in Buenos Aires haben über zweitausend Polizeibeamte um vorzeitige Versetzung in den Ruhestand gebeten.

Ein Vertreter der illegalen argentinischen Menschenrechtskommission Cadje zum SPIEGEL: »Das »Langohr« (Spitzname für den Wirtschaftsminister Martinez de Hoz) wird scheitern. Länger als drei Jahre hat keiner in Argentinien Politik machen können gegen die Arbeiter.«

Doch auch die Unternehmer leiden unter der Wirtschaftspolitik -- insbesondere die kleineren. Die knappen Löhne hatten zur Folge, daß Kraftfahrzeuge, Radios. Waschmaschinen, Möbel und selbst Lampen praktisch unverkäuflich geworden sind.

Verglichen mit 1975 sank die Automobilproduktion um 22,4 Prozent, und allein in den ersten sechs Monaten dieses Jahres fiel der Gesamtkonsum um acht Prozent.

In einer Fiat-Vertretung klagt ein Verkäufer: »Früher haben wir zwischen 150 und 200 Autos im Monat verkauft und hatten ein Jahr Lieferzeit. Heute sind es höchstens noch 25 Autos monatlich.«

Internationale Konzerne wie Siemens, ITT und General Electric können sich die Reste des verbliebenen Marktes aufteilen. Zufrieden sind auch die Großfarmer, die sich nach der Rekordernte als Retter des Vaterlandes vor dem Staatsbankrott fühlen und deshalb vom Wirtschaftsminister eine weitere Unterstützung der Agrarwirtschaft erwarten.

Während der jährlichen Landwirtschaftsschau in der »Rural« -- dem flaggengeschmückten Messegelände in der Nähe des Zoologischen Gartens in Buenos Aires -- forderten deshalb Sprecher der »Sociedad Rural« (Landwirtschaftsverband) vom Wirtschaftsminister neue Staatszuschüsse.

Eine Gruppe nationalistischer Generäle verdächtigt Martinez de Hoz, Argentinien von den Industrienationen abhängig machen zu wollen. Ihr Sprecher, General Gugliamelli, schrieb in der Tageszeitung »Clarin": »Ein Land ohne Schwerindustrie ist ein kastriertes Land. Mit Hilfe inländischer Technokraten, die uns im Namen der internationalen Arbeitsteilung auf die Landwirtschaft beschränken wollen, blockieren einflußreiche Kreise in den USA unsere industriellen Anstrengungen.«

Wie Argentinien wieder zu früherer Blüte geführt werden soll, darüber sind sich die Generäle -- nach häufig endlosen nächtlichen Streitereien im »Circulo de Armas«, dem grauen Clubgebäude an der Ecke Florida und Corrientes -- nicht einig. Ihre Ratlosigkeit verbergen sie hinter orakelhaften Sprüchen.

»Wir stehen vor der Notwendigkeit einer Erneuerung der Gesellschaft«, diagnostizierte Luftwaffenchef General Agosti am 10. August. Einen Tag zuvor hatte Juntachef Videla auf einer Pressekonferenz verkündet: »Es ist notwendig, unter Berücksichtigung früherer Erfahrungen, einen politischen Plan aufzustellen. Es geht nicht darum, unter dem Deckmantel scheinbarer Normalität in frühere Regelwidrigkeiten zurückzufallen.«

Und während Videla immer wieder versichert, die Zivilisten an der Erneuerung der politischen Institutionen beteiligen zu wollen ("Das Militär hat kein Mandat für ein totalitäres Regime"), lehnt das sein Stellvertreter, der Planungsminister General Diaz Bessone, kategorisch ab: »In den nächsten zehn Jahren gibt es keine Gespräche mit Zivilisten -- ob Politiker oder Gewerkschafter.«

Zumindest ohne die Gewerkschaften wird es kaum zu einer Neuordnung kommen. Denn der verstorbene Caudillo Perón hatte in seiner ersten Regierungsperiode (1946 bis 1955) den Arbeitnehmerverbänden eine Machtposition wie nirgendwo sonst in Amerika verschafft. Der Chef des Gewerkschaftsdachverbandes CGT hatte Platz und Stimme im Kabinett, Gewerkschafter vertraten das Land in vielen Botschaften als Sozialattachés.

Wichtiger noch: Perón eröffnete 1948 den Arbeitnehmerorganisationen eine gesicherte finanzielle Basis. Etwa zwei Prozent des gesamten Bruttosozialproduktes fließen seitdem in ihre Kassen.

Ob Mitglied oder nicht, jeder argentinische Arbeitnehmer muß acht Prozent seines Gehaltes an die Gewerkschaften abführen. Dafür finanzieren sie Hospitäler und Sanatorien, bezahlen Krankenhauskosten und Heilkuren. Insbesondere korrumpierten und bestachen sie, zumindest in der Vergangenheit, jeweils genehme politische Kandidaten.

»Diese Bande hat unser Land ruiniert«, ereifert sich ein konservativer Unternehmer deutscher Abstammung ("Schreiben Sie nicht meinen Namen, ich habe schon sechs Mordanschläge hinter mir") und zeigt auf das schmutzigweiße Hauptquartier der CGT in der Azopardo-Straße.

»Da residieren diese Autokraten, die nicht nur in die eigene Tasche gewirtschaftet haben, sondern auch heute noch bei den Arbeitern die Träume des verfluchten Peronismus wachhalten.«

Für die 180 Hauptgewerkschaften, in denen 85 Prozent der 6,5 Millionen Arbeiter organisiert sind, steht immer noch der Peronismus für Wohlstand und Fortschritt. Das totale Chaos unter der Ex-Schauspielerin Isabel Perón, die nichts zu bieten hatte als die Magie des Namens, wird von den gut 2000 Gewerkschaftsbossen verdrängt. Für diese mächtige Führungsschicht gilt noch immer, was Anfang der 70er Jahre bei Landarbeitern und in Gewerkschaftsversammlungen heimlich -- Juan Perón lebte noch im spanischen Exil -- gesungen wurde: die Ballade von »Juan aus dem Volk«.

Der Refrain lautet:

Juan des Brotes und Juan des Weines, erleuchte unseren Weg;

Juan Gerechtigkeit und Juan Wahrheit gibt dem Volk seine Freiheit.

Drastischer drückt diese Denkweise ein populärer Song heute, drei Jahre nach dem Tod des Caudillo, so aus:

Gut, vielleicht waren die Peronisten Lügner und Diebe ... aber unter ihnen haben wir wenigstens gut gegessen.

Die peronistischen Gewerkschafter wollen die Niederlage der Bewegung nicht erkennen. Noch immer erheben sie den totalen Machtanspruch, wollen auch in politischen Fragen mitbestimmen, hassen Parteien ("nicht die, sondern wir sind die wahren Volksvertreter") und bestreiten noch heute, in den Zeiten scharfer Diktatur und Repression, daß ein Parlament die Grundlinien der Politik festlegen soll.

Damit arbeiten sie jenen Militärs aus Marine und Luftwaffe in die Hand, die eine korporative Neuordnung Argentiniens anstreben.

Selbstbewußt behauptete ein Vertreter der suspendierten Metallarbeitergewerkschaft: »Das Volk sind wir. Parteien vertreten nur Partikularinteressen.« Und: »Nur wenn wir an der Macht beteiligt sind, können Argentiniens Probleme geregelt werden.«

Die Militärs versuchen, die Bosse der Syndikate in diskreten Verhandlungen für sich zu gewinnen. Behauptete ein Marinesprecher: »Der Militär, der es schafft, von ihnen als Galionsfigur akzeptiert zu werden, ist der neue starke Mann im Land.«

Von den 20 kommandierenden Generälen will Videla mindestens sieben durch loyalere Offiziere ersetzen. Kein anderer als Videla kann die rivalisierenden Militärfraktionen durch ständige Kompromisse zusammenhalten, und doch verstummen Gerüchte nicht, der Generals-Präsident werde abgelöst.

»Eines der Übel Argentiniens ist, daß es heute keine konstruktive Führungsschicht gibt«, bedauert Dr. Jaime Smart, Regierungsminister der Provinz Buenos Aires. »Eine neue Elite kann man nicht durch Dekret schaffen.« Die rechten Militärs wollen sie sich deshalb heranzüchten, wie eine 120 Seiten starke Studie aus dem Planungsministerium des Generals Diaz Bessone zeigt. In vier Nationalen Dreijahresplänen soll eine neue Führungsschicht herangebildet werden, die »in den grundlegenden Werten der religiösen und moralischen Erbmasse des Christentums« erzogen werden soll, die »das Prinzip des Mehr-Seins dem Prinzip des Mehr-Habens vorzieht«.

»Meinte das konservative deutschsprachige »Argentinische Tageblatt": »Ein Ende des Militärregimes ist nicht abzusehen.« Und der Lateinamerika-Experte des englischen »Guardian« behauptet: »Etwas Neues bereitet sich vor. Es sind nicht mehr jene Militärs, von denen man in der Vergangenheit unbesehen annehmen konnte, daß ein Putsch immer reaktionär war. Diese wollen mehr, sind sich jedoch nicht einig über das Was und das Wie.«

Daß Zivilisten jetzt die Macht übernehmen könnten, halten selbst Parteivertreter für ausgeschlossen. Denn der Ehrgeiz der meisten Parteipolitiker beschränkt sich darauf, wieder konsultiert zu werden. Ansprüche auf eine Machtübernahme erhebt kaum einer.

Der letzte, der es gewagt hatte, war Héctor Hidalgo Solá, Argentiniens Botschafter in Venezuela. Nach einer Unterredung mit seinem Duzfreund Staatschef Videla hatte er frohlockend von einer »baldigen Rückkehr zur Demokratie und einer Zivilregierung« gesprochen. Zwei Tage später, am 18. Juli, entführte ihn ein Greifkommando der Marine mitten in Buenos Aires. Solá tauchte bis heute nicht wieder auf.

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