Wer lacht noch über die Kartenlegerin? Es wird ihr mehr geglaubt, als man zu glauben bereit ist. In Pelz und Federn gehüllt, versteckt darunter, hochrot erhitzt im ohnehin überheizten Saal und überdies angefeuert von der atemlos bewundernden Kundschaft auf den Zuhörerbänken, breitet sie dem Gericht ihre Kunst aus. Wie die Karten Bilder in ihr entstehen ließen. Wie die Frauen zu ihr kämen, in unverfängliche Cafes und Wirtshäuser, in Wohnungen von Freundinnen. »Die Herren, wissen Sie«, sagt sie zu den Richtern, »die dürfen das ja nicht wissen . . .«
So zieht Amalie Raczkowski, 56, Hausfrau aus Dortmund, mehrfach im Jahr durch die Spessart-Dörfer zwischen Aschaffenburg und Würzburg, oft im Wohnwagen und in Begleitung ihres Mannes, eines Frührentners, und deutet Gutgläubigen die Zukunft. 70 Mark je Sitzung ohne Quittung, das Geschäft geht gut. Wer Wohnung und Telefon zur Verfügung stellt, bekommt gratis geweissagt. Heimlichkeiten schweißen zusammen. Spaßeshalber sei sie mal mit einer Arbeitskollegin mitgegangen, berichtet eine Sekretärin, und das erste Ereignis sei schon sieben Wochen später eingetroffen. »Sehr viel ist eingetroffen.«
Auch Ursula Graf, die 27 Jahre alte Juweliersfrau aus Hösbach bei Aschaffenburg, habe sich die Karten von ihr legen lassen, behauptet Frau Raczkowski. Gibt es irgendeinen Beweis dafür? »Sie sind aber goldig«, sagt sie zum Vorsitzenden Richter, »das durfte doch keiner wissen.« Hat irgend jemand Frau Graf gesehen, als sie bei der Kartenlegerin war? Niemand weiß es, am wenigsten Frau Raczkowski. Aber noch nie habe sie so schlechte Karten gesehen . . .
Wie Ursula Graf ausgesehen habe, wird die Zeugin Raczkowski gefragt. »Dünn, blond, die Haare so irgendwie . . .« - sie fuchtelt herum, stockt. Der Münchner Rechtsanwalt Dr. Eckhart Müller, 43, rückt ihr zu Leibe: »Wie trug sie die Haare, Frau Zeugin?« Er fragt scharf, provozierend. »Wie in der Bild-Zeitung halt«, fährt es aus der Kartenlegerin heraus, und sie wischt sich den Schweiß von der Stirn.
Ursula Graf, im neunten Monat schwanger, ist in der Nacht vom 1. auf den 2. Oktober 1987 in der ehelichen Wohnung in Hösbach erschlagen worden. Der Würzburger Rechtsmediziner Professor Ernst Schulz, 55, hält es für wahrscheinlich, daß der Frau »in zwangloser Liegesituation« auf dem Sofa im Kaminzimmer ein Schlag mit einem Buchenholzprügel versetzt wurde. Blut auf dem Sofa sowie auf dem davorstehenden Glastisch lassen seiner Meinung nach den Schluß zu, daß sich Ursula Graf noch zu erheben versuchte und, über den Tisch gebeugt, in Richtung des Kamins taumelte, wo sie zusammenbrach. Dort holte der Täter nochmals aus und zertrümmerte der am Boden Liegenden mit vier wuchtigen Schlägen den Schädel. Das Kind in ihrem Leib, das bald geboren werden sollte, starb wenige Minuten nach ihr.
Der Täter muß mit Blut bespritzt gewesen sein. Man fand auf dem weißen Marmorfußboden eine blutfreie Stelle - dort muß er gestanden haben. Die Leiche wies keinerlei Verletzungen auf, die auf eine Abwehr der Schläge hätten hindeuten können. Die Frau hielt sich die Hände nicht schützend vor den Kopf, sie kämpfte nicht mit dem Täter. Hatte sie von dem Angriff nichts bemerkt? Schlief sie gar, wie so oft, vor dem Fernseher? Oder war sie vor Entsetzen gelähmt?
Zwischen dem ersten Schlag und den tödlichen Hieben besteht nach Schulz »wohl ein enger zeitlicher Zusammenhang«. Eine Zwischenzeit bis zu 30 Minuten schließt er jedoch nicht aus. Hätte der Täter das Haus verlassen, zurückkehren und in Panik über sein vorheriges Tun das noch Schlimmere vollenden können?
Über die Todeszeit der Ursula Graf streiten sich die Gelehrten. Schulz berechnet sie aufgrund der Leichentemperatur, die regelmäßig gemessen wurde. In einem vorläufigen Gutachten erhöht sich diese Temperatur einmal binnen zehn Minuten um ein Grad - wie das? Schulz spricht von einem Übermittlungsfehler, dann von »Plateaubildung« und daß es keine Literatur gebe über den Temperaturverlauf bei schwangeren Toten auf Marmor mit Fußbodenheizung vor offenem Kaminfeuer. Der Tod müsse vor 23.30 Uhr eingetreten sein, eine Zeit zwischen 21 und 22 Uhr sei nicht auszuschließen.
Professor Hans-Friedrich Brettel, 53, von der Frankfurter Universität, der den Fall nur aus den Akten kennt, berechnet die Todeszeit nach der Ausprägung der Leichenstarre. Er kommt, auch wegen der vermutlich relativ hohen Raumtemperatur, die chemische Prozesse beschleunige, zu einer Todeszeit eher »gegen 24 Uhr«. Welcher Berechnungsmethode kommt Priorität zu?
Der Fall Graf beschäftigt die Gerichte schon zum zweiten Mal. Auf Manfred Graf, 30, Uhrmachermeister und Ehemann der Getöteten, lastete von Anfang an massiver Tatverdacht. Das lag nicht nur an einer beträchtlichen Voreingenommenheit der Aschaffenburger Polizei, die, überfordert von einem Kapitalverbrechen solchen Kalibers, froh war, möglichst schnell eines potentiellen Täters habhaft zu sein, und Zeugen und Beweismittel in die gewünschte Richtung drückte. Graf präsentierte von Anfang an auch eine Tatversion, der Glauben zu schenken nach wie vor schwerfällt und die, folgt man ihr nicht, das gewichtigste Indiz gegen ihn ist.
Denn sie läßt als Täter nur zwei unbekannte Ausländer zu, auf deren Existenz nichts hindeutet - oder eben Graf selber, der sich auf folgenden Ablauf festgelegt hat: Er sei am Abend des 1. Oktober 1987 gegen 20.45 Uhr mit einem halben Brathähnchen und Pommes frites nach Hause gekommen; der damals zweieinhalb Jahre alte Sohn Marco habe noch aufbleiben dürfen, um mit dem Vater zu essen. Für seine Frau, die es fröstelte, habe er im Kamin Feuer gemacht; weil es nicht gleich brennen wollte, habe er auf der Terrasse Spreißel geschnitten; dann habe er das Schloß an der Haustüre ausgewechselt, da seine Frau tags zuvor die Schlüssel verloren habe. Vorher habe er den Fernseher eingeschaltet, weil sie einen Western im Programm Sat 1 sehen wollte (an jenem Abend lief tatsächlich der Film »Chuka - Alleingang am Fort Clendennon«, Beginn 21.14 Uhr).
Nach dem Einbau des Schlosses habe er sich bis auf den Slip entkleidet, geraucht, mit der Frau gesprochen. Dabei habe sie ihn aufgefordert, seine Fingernägel zu maniküren. Er habe sich Feile und Scheren geholt und hin und wieder auf den Film geachtet. »Nach geraumer Zeit« sei er auf die Toilette gegangen und habe dort ein Herrenmagazin gelesen und zwei Zigaretten geraucht. Zeit etwa 22.35 bis 22.45 Uhr.
»Plötzlich geht die Tür auf. Ich hatte keine Veranlassung zu reagieren, weil ich dachte, meine Frau kommt rein. Plötzlich werd' ich angesprochen: ,Verhalt dich ruhig, dann passiert euch nichts.'« Er sei erschrocken und habe nichts als eine Waffe, eine Pistole, gesehen. Der Mann habe eine Strumpfmaske über dem Kopf gehabt. Kräftig, Gesichtsform oval. »Anziehen, wir fahren ins Geschäft«, habe der Fremde mit leichtem Akzent gesagt. Habe ihm Kleidung zugeworfen. Dann: »Hol den Schlüssel, wir fahren ins Geschäft.«
Vor der Polizei hatte Graf seinerzeit angegeben, der Eindringling habe offenbar gewußt, daß sich die Geschäftsschlüssel in der Wohnung seiner Eltern im ersten Stock befanden, denn er sei dorthin dirigiert worden - und hatte damit die Zweifel an seiner Darstellung erheblich geschürt. Denn woher sollte ein Fremder wissen, daß die Schlüssel ausgerechnet im ehemaligen Kinderzimmer Manfred Grafs versteckt wurden?
Vor dem Landgericht Würzburg, vor dem gegenwärtig erneut verhandelt wird, äußert sich Graf geschickter: Er habe zu dem Unbekannten gesagt, er müsse den Schlüssel erst holen. »Ich bin aus dem Bad raus und wollte zu meiner Frau. Da hat mich der gestoppt und aufgefordert . . .« Der Richter fragt: »Was?« Graf zögert. »Kleinen Moment mal.« Er stützt den Kopf in die Hand, » . . . er hat mich gestoppt und gesagt - ich komm' nicht auf das Wort - und hat mich in Richtung Tür geschubst.« Die Szene klappt noch immer nicht.
Hätte Manfred Graf statt des Geschäftsschlüssels nicht auch eine Waffe aus dem Versteck holen können? Doch nein, im Kaminzimmer bei der Frau habe sich ja noch ein weiterer Unbekannter aufgehalten. Um Frau und Kind nicht zu gefährden, habe er sämtlichen Anweisungen Folge geleistet.
»Ich wollte ihm die Schlüssel geben, aber er nahm sie nicht, sagte nur: Auto rausfahren.« Der Richter ungläubig: »Aber Herr Graf! Was soll der denn mit den Geschäftsschlüsseln? Der mußte doch davon ausgehen, daß Sie gleich die Polizei anrufen!«
Der Unbekannte setzte sich nach Grafs Worten auf die Rückbank des zweitürigen Mercedes 500 Coupes. Warum nicht auf den Beifahrersitz, sondern nach hinten, wo er regelrecht gefangen war? Warum hat Graf nicht einen Unfall verursacht oder vorgetäuscht? Warum fuhr er nicht der Polizei in die Arme, die auf der Hauptstraße eine Verkehrskontrolle abhielt?
Der silbergraue, tiefergelegte, auffallende Mercedes wird mehrfach gesehen. Einmal kurz nach 22 Uhr, dann - an verschiedenen Stellen - gleichzeitig um 23 Uhr. Wer irrt? Lügt einer? Keiner der Zeugen kann mit Sicherheit sagen, daß es Grafs Wagen war. Schließlich war es dunkel. Es ist ein halsbrecherisches Unterfangen, die ungewisse Todeszeit Ursula Grafs mit den ungewissen Beobachtungen von Zeugen zu kombinieren und daraus auf Manfred Graf als Täter oder als Opfer zu schließen.
Graf behauptet, während der Fahrt habe der Entführer zwei Gespräche über ein Funkgerät mit seinem im Haus verbliebenen Komplizen in einer ihm nicht bekannten Sprache geführt. Das zweite Gespräch habe hektisch, erregt geklungen, und der Entführer habe nicht mehr zum Geschäft gewollt, sondern auf die Autobahn in Richtung Frankfurt. An der Raststätte Weiskirchen habe er die Autobahn verlassen und auf eine Brücke fahren müssen, anhalten, den Kofferraum öffnen und hineinkriechen. Der Richter fragt: »Standen da noch andere Fahrzeuge?« Graf verneint. Die Schlüssel habe der Mann an sich genommen und sei verschwunden. Dann habe er ein Auto wegfahren hören.
Kurz nach 23.30 Uhr passiert ein Autofahrer die Brücke und bemerkt brennende Gegenstände am Straßenrand. Er hört auch Hilferufe, wagt es aber nicht, in der dunklen Gegend den Kofferraum des Mercedes zu öffnen. Ein anderer Zeuge sieht einen Arm aus dem eingeschlagenen Rücklicht des Wagens herauswinken. Ein dritter Zeuge faßt sich schließlich ein Herz und hilft Graf heraus. Die Geschäftsschlüssel liegen im Wagen, der Zündschlüssel steckt.
Wäre der Kofferraum abgesperrt gewesen - Grafs Entführungsversion hätte trotz zahlreicher Ungereimtheiten mehr Glauben gefunden. War es nicht merkwürdig, daß er zwar zielgerichtet und orientiert einen Werkzeugkasten in seinem Gefängnis zur Hand nahm, das Rücklicht herausschlug, seinen Pullover auszog, durch die Öffnung hindurchzwängte und mit einem Feuerzeug in Brand setzte - andererseits aber zu desorientiert gewesen sein will, den Kofferraumverschluß zu ertasten, der in greifbarer Nähe lag? Die Zweifel der Polizei waren nicht unbegründet.
Gegen 0.45 Uhr wurde Ursula Graf gefunden. Erst hatte man das Haus beobachtet, in der Annahme, daß sich die Frau in der Hand von »Terroristen« befinde. Dann wurde gestürmt, ein Fenster eingeschlagen, eine Balkontür gewaltsam geöffnet und, weil man schon einmal beim Stürmen war, auch die unverschlossene Haustür von innen eingetreten. Spuren, die der Täter - wer auch immer - hinterlassen hatte, nichts mehr war zu verwerten. Man wußte nachher gerade noch, daß die Wohnung tadellos aufgeräumt, daß nichts verwüstet, nichts durchsucht worden war. Das Herrenmagazin im Bad lag ordentlich auf seinem Platz, das Licht im Bad war gelöscht. Ursula Grafs Handtasche mit Schmuck im Wert von mehreren tausend Mark stand unberührt auf einem Sideboard. Der Zweieinhalbjährige weinte in seinem Bett, nachdem an sein Fenster geschlagen worden war: »Aufmachen, Polizei!«
Am 7. Juli 1988 wurde Manfred Graf in Aschaffenburg wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von 14 Jahren verurteilt. Seiner Darstellung des Tatabends wurde nur bis zum Erscheinen des angeblichen Entführers geglaubt, alles übrige hielt man für »eindeutig widerlegt«. Der psychologische und der psychiatrische Sachverständige schlossen damals eine »Paniksituation« nicht aus; in Würzburg gehen sie bis an die Grenze der Befangenheit zugunsten des Angeklagten. Die Kammer hat nur eine einzige Frage an sie: »Ist es richtig, daß ein Affekt Erinnerungslücken voraussetzt?« Graf hat keine Erinnerungslücken.
Zur Aufhebung des Aschaffenburger Urteils durch den Bundesgerichtshof am 14. Februar 1989 führte unter anderem eine Aufklärungsrüge des Karlsruher Revisionsspezialisten Dr. Gunter Widmaier, daß das Gericht dem Hinweis nachzugehen versäumt habe, der Angeklagte könnte auch nach 22 Uhr noch den Western-Film angeschaut haben. Graf erinnert sich einiger Szenen. Damals übersah die Polizei eine aufgeschlagene Programmzeitschrift auf dem Glastisch, der zu entnehmen gewesen wäre, daß der Western nicht, wie zunächst angenommen, zum erstenmal gesendet wurde . . .
Widmaier rügte auch, daß das Landgericht nicht auf die Vernehmung eines V-Mannes der Polizei gedrungen habe, der von einem geplanten Überfall jugoslawischer Gewalttäter »auf einen Juwelier in Aschaffenburg, dessen Frau schwanger ist und der deshalb sicher zahlt«, gewußt haben will.
In Würzburg steht Manfred Graf vor einem Schwurgericht, das, wie der 1. Strafsenat in Karlsruhe es wünschte, »ganz frei ist in der Beurteilung des Sachverhalts«. Erich Rachor, 49, der Vorsitzende Richter, glänzt wie der ehrgeizige Richter in Lion Feuchtwangers Roman »Erfolg«. Auch er verfährt nach der Devise: » . . . die Verteidigung des Angeklagten durfte nicht eingeschränkt, doch seine Verurteilung nicht gefährdet werden.« Sehr freundlich, die lange Leine jederzeit gewährend, perfekt geduldig: Das Klima zwischen den Prozeßparteien ist so wohltemperiert bis überheizt wie die Luft im Saal. Kaum jemand macht sich noch Illusionen.
Verteidiger Müller gelingt es zwar, den V-Mann vor Gericht zu bringen. Doch der ist alles andere als glaubwürdig. Die Hoffnung auf »jugoslawische Gewalttäter« ist mittlerweile dahin. Müller erschüttert Zeugen, bringt Gutachter zum Straucheln, schürt Zweifel, nährt Ungewißheiten. Er führt standhaft die hohe Schule der Verteidigung vor. Grafs zweiter Anwalt, Dr. Heinrich Koos, 50, bäumt sich auf gegen die Vorstellung, dieser wohlsituierte Junge aus intakter Familie solle Frau und Kind abgeschlachtet haben.
Wenn sich nur der Schimmer eines Motivs abzeichnete! Manfred, der Windhund, mit seinen Weibergeschichten: Die erste intime Freundin hat er mit 13, bald wechselt er Mädchen wie Hemden. Ursula, seine »Traumfrau«, attraktiv, selbständig, kultiviert, geschäftstüchtig. Die Schwiegereltern schwärmen, vor allem Graf senior. Sie soll aus Manfred einen richtigen Mann machen. Gewiß nahm sie sich ihn oft vor, bestand auf diesem und jenem. Kleinigkeiten, möglicherweise zermürbende: Die Wiese sollte auf der Stelle gemäht werden; die Handtücher mußten exakt hängen, die Schlüssel der Schrankwand in einer Richtung stecken.
Sie litt unter seinen Eskapaden, seinen nächtlichen Zügen durch Diskotheken, seinen Ausflüchten und Ausreden. Sie litt vielleicht auch unter seinem täglichen Mittagsschlaf, seinen kleinen »Faulheiten«, seiner Undiszipliniertheit. Hat sie es schweigend hingenommen? Nach außen drang nichts, man hatte schließlich das Geschäft, Kundschaft, Angestellte, Haushaltshilfen. Nicht einmal zu den Schwiegereltern im ersten Stock drang etwas.
Auch zu ihren Eltern - ihr Vater betreibt eine Fabrik für Karnevalskostüme - drang nichts. Ihre Mutter habe täglich angerufen und sich über die Eskapaden ihres Mannes ausgeweint, sagt Manfred Graf. »Wir aber haben uns super verstanden.« Es ist Spekulation. Wie die Vermutung, daß Grafs Großmannssucht, sein ungeniertes, indiskretes Renommieren mit Frauengeschichten, Ausbruchsversuche aus der allzu heilen, engverwinkelten, vom starken Vater beherrschten Hösbacher Kinderwelt waren. Auch aus der mit Nippes und goldenen Sofakissen in Herzform überfüllten Wohnung? Reicht das für ein Motiv?
Wer Manfred Graf für den Täter hält, ist verführbar auf der Suche nach einem Motiv. Dieser Fall, in dem sich jede Gewißheit in Ungewißheit und jede Ungewißheit in Gewißheit verkehren läßt, lockt auf Gedankenpfade, so abwegig sie auch sein mögen.
Also doch die Kartenlegerin, die zunächst verlacht wurde. Sie nämlich hat die Erklärung. Sie zieht sie aus der Tasche wie ein Kartenspiel und legt sie nach den Regeln ihrer Kunst aus. 50:50 : Wenn Graf der Täter war, kann die Ehe nicht gut gewesen sein. Nachts, wenn »er wieder mal bei den Nutten war«, habe die Juweliersfrau oft bei ihr verzweifelt angerufen und geklagt, wie brutal er sei.
Was den Angehörigen von Manfred und Ursula Graf durch diese Tat widerfuhr, ist schwerer, als Familien tragen können. Doch nicht einmal die Eltern der Getöteten halten etwas vom Hokuspokus der Amalie Raczkowski. Erich Rachor aber, der Vorsitzende Richter, läßt zwei Zeuginnen beschwören, sie hätten schon vor dem Tod der Ursula Graf von den Warnungen der Kartenlegerin gehört. Die Kundschaft im Saal triumphiert. Man lacht in sich hinein.