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»Wir handeln die Zukunft«

Die Analysten sind die Wegbereiter des Shareholder-value-Denkens: Personal ist für sie vor allem ein Kostenfaktor. Die Rendite zählt.
aus DER SPIEGEL 12/1997

Die Zahlen, die über den Reuters-Bildschirm laufen, sehen gut aus, sehr gut sogar - wenn man sie mit den Augen von Oliver Schnatz, 32, liest. Der Stahlkonzern Krupp Hoesch meldet für das Jahr 1996 einen Gewinn von 208 Millionen Mark, immerhin fast 300 Millionen weniger als im Jahr zuvor, und Schnatz hat es vorausgesehen.

Hastig vergleicht der Aktienanalyst von Morgan Grenfell, dem Investmenthaus der Deutschen Bank, noch einmal die wichtigsten Daten des Stahlriesen mit der eigenen Schätzung, die er zuletzt Anfang Januar an alle großen Anleger weltweit verschickt hatte. Seine Empfehlung, lediglich den Aktienbestand zu halten und ansonsten abzuwarten, hat sich als goldrichtig erwiesen.

»Die Zahlen sind in line zu unserem forecast«, verkündet Schnatz zufrieden auf der morgendlichen Schaltkonferenz den Händlern und Anlageberatern, die von den Analysten die Marschrichtung für den Tag wissen wollen. Das heißt soviel wie: locker bleiben, keine größeren Käufe oder Verkäufe bei Krupp Hoesch. Es ist 8.40 Uhr und der Tag bereits ein voller Erfolg für den »Head of Steel Industry« und »Senior Associate Director« der Deutschen Morgan Grenfell, als den ihn seine Visitenkarte ausweist.

Der Investmentbanker, der von Frankfurt aus seit einem halben Jahr den europäischen Stahlmarkt beobachtet, gehört zu den Vorzeigekräften einer Boombranche, die sich als Herold der neuen Heilslehre des Shareholder-value versteht und von der Gewinnmaximierung im Aktionärsinteresse selbst kräftig profitiert.

Alle großen Banken beschäftigen in Kompaniestärke sogenannte Researchteams, die börsennotierte Unternehmen auf ihre Rentabilität hin abklopfen und professionellen Anlegern wie den milliardenschweren Pensionsfonds oder Versicherungsgesellschaften detaillierte Ratschläge geben, wo die ihr Geld möglichst gewinnbringend parken können - gegen ordentliche Provision natürlich.

Die Deutsche Bank hat den Stamm ihrer Analysten seit dem Jahr 1995 in Europa um knapp 50 Mitarbeiter auf nunmehr rund 80 aufgestockt, das amerikanische Investmenthaus Merrill Lynch verfügt allein in London über knapp 90 Kapitalmarktexperten. Insgesamt sind bei den Berufsverbänden in Amerika und Europa inzwischen rund 12 000 Aktienanalysten eingetragen.

Die jungen Investmentprofis, Durchschnittsalter 33, sehen sich als die neue Eliteeinheit der Bankenwelt: Was für die achtziger Jahre der Broker als Prototyp des kapitalistischen Erfolgsmenschen war, dem Hollywood mit »Wall Street« das filmische Denkmal gesetzt hat, wollen die Analysten für die Neunziger sein: kühle Strategen, die den globalen Kapitalstrom in die richtigen Kanäle lenken - die Akademiker des Börsenhandels gewissermaßen.

Der Analyst erscheint im dunklen Tuch zur Arbeit, vorzugsweise Einreiher mit Weste. Hosenträger sind tabu ("Das tragen doch nur Trader"), die bei den Devisenhändlern so beliebte Flieger- oder Taucheruhr ist selbstredend völlig indiskutabel, Handys gelten als überflüssig.

»Wir sind eher konservativ gesonnen«, sagt Christoph Benner, 27, der bei der Deutschen Morgan Grenfell in Frankfurt für die »Small Caps« zuständig ist, also für kleinere Aktiengesellschaften. »Wir mögen nicht so auftragen.«

Dem entspricht auch die Arbeitsatmosphäre im 22. Stock des Frankfurter Trianon-Hochhauses neben der Zentrale der Deutschen Bank, wo die Morgan-Grenfell-Leute mit Panoramablick auf die City ihr Tagewerk versehen. Hier muß niemand adrenalingepeitscht Kauf- und Verkaufsorders in drei Telefone gleichzeitig brüllen. Bei Bedarf tauschen sich die Investmentbanker allenfalls im Plauderton über auffällige Kursentwicklungen aus ("Hi Frank, sag mal, was ist da eigentlich bei Conti los?") oder erläutern einem Kunden auf Nachfrage eine aktuelle Unternehmenseinschätzung.

Der größte Teil der Arbeitszeit geht in die sogenannte Zahlenpflege. Da gilt es, die neuesten Geschäftsberichte zu sezieren und in Verbindung zu Preisentwicklungen und Kursschwankungen zu bringen. Alle großen Wirtschaftszeitungen und -dienste müssen auf brauchbare Informationen ausgewertet werden.

Regelmäßig stehen auch Inspektionen in den Firmen an - »man muß ein Gefühl für das Produkt bekommen«, sagt Schnatz; außerdem will der Analyst hin und wieder ganz gern von der Unternehmensführung wissen, wie die sich ihre Strategie für die Zukunft denkt.

»Wir nehmen so ein Unternehmen wie ein Fertighaus auseinander und bauen es anschließend neu zusammen«, beschreibt Schnatz seine Arbeitsweise. Das klingt sehr technisch und kalt und ist auch genauso gemeint. Denn was interessiert den Anleger der Gewinn, den eine Aktiengesellschaft am Ende des Jahres ausweist? Er will wissen, wie es mit seiner Aktienrendite oder dem »Croci« steht, dem »cash return on capital invested«.

Daß sie perfekt das Klischee des seelenlosen Kapitaltechnokraten erfüllen, ist Leuten wie Schnatz und Benner herzlich egal. Die glorreiche Vergangenheit eines Traditionsunternehmens, in dem die Erinnerung und Arbeitsleistung ganzer Generationen steckt, wischen sie mit einer Armbewegung zur Seite. Tradition ist ein verstaubter Wert. »Wir handeln die Zukunft«, sagt Small-Cap-Spezialist Benner, »die Vergangenheit interessiert uns nicht.«

Personal kennen die Analysten vor allem als Kostenfaktor, und Massenentlassungen tauchen unter der Überschrift »Headcount« in übersichtlichen, profitversprechenden Grafiken auf.

Wer bereit ist, sich »auf Kernaktivitäten zu konzentrieren«, und seine »Produktionstiefe zurückfährt«, wie das Abstoßen von Unternehmensbereichen im Analysten-Deutsch heißt, wird mit der Kaufempfehlung »übergewichten« belohnt. Wer die Rentabilität nicht zügig steigert, kann froh sein, wenn er die Börseneinstufung »neutral« behält.

Natürlich sei Arbeitslosigkeit, gesellschaftlich gesehen, auch für ihn »irgendwo schon ein Thema«, sagt Schnatz. Aber erstens sei er kein Manager und damit fürs »operative Geschäft« nicht verantwortlich, und zweitens, erläutert er, habe er in der Stahlindustrie geradezu exemplarisch sehen können, was mit Firmen geschehen sei, die das »Gesetz des Überlebens« zu spät befolgten: »Von denen bleibt am Ende nichts übrig.«

Die Standesrichtlinien der Branche definieren denn auch eigenwillig, aber entschieden, was ein Analyst unter »ethisch einwandfreiem« Verhalten zu verstehen hat: »Die Wahrung der Interessen des Anlegers ist für ihn Richtschnur seines Handelns.«

Die Analysten wissen die Milliarden ihrer Kunden hinter sich, und entsprechend selbstbewußt treten sie auf. Spätestens die Macht über die Börsennotierung, die ihnen der Kapitalmarkt verleiht, beseitigt jeden Zweifel. Wenn die Aktienprofis der Investmentbanken mehrheitlich den Daumen senken, »untergewichten« lautet in diesem Fall lapidar der Börsentip, kippt der Kurs ab.

Schon die Verkaufsempfehlung nur einer großen Research-Abteilung kann einem Konzern einen deutlichen Kursverlust bescheren, wie die Finanzleute bei Morgan Grenfell erst kürzlich an ihren Monitoren beobachten mußten, als Reuters irrtümlich per Eilmeldung verbreitete, die Deutsche-Bank-Tochter habe Thyssen überraschend abgewertet - binnen Minuten verloren die Aktien des Stahlkonzerns rund drei Mark.

Kurzfristigen Manipulationen sind allerdings enge Grenzen gesetzt. »Der Markt ist auf Dauer stärker als der einzelne«, sagt Benner. Wenn sich die Anlagestrategen in ihrem Urteil irren, wird es vor allem für die Investoren schmerzhaft teuer.

Die Liste der Flops ist nicht klein. So blies Goldman, Sachs über mehrere Wochen zum Kauf von Aktien des Rolltreppenherstellers Orenstein & Koppel und handelte sich den Spott der Konkurrenz ein, als der Kurs steil nach unten ging.

Auch den Deutsche-Morgan-Grenfell-Experten unterlief schon mancher Schnitzer. Anfang vergangenen Jahres setzten sie bei Gildemeister auf einen ordentlichen Jahresgewinn und empfahlen Aktienzukäufe. Tatsächlich mußte der Maschinenbauer im Februar 1996, nach einer Reihe schwerer Jahre, einen erneuten Verlust eingestehen, der Kurs sank schlagartig um fast 30 Prozent. Von der Talfahrt des Bremer Vulkan wurden die Deutsch-Banker ebenfalls kalt erwischt.

So betreiben einige Großanleger inzwischen aktive Risikominimierung und haben dazu eigene Researchteams aufgebaut, die als sogenannte By-side-Analysten wiederum die Analysen der Analysten analysieren. Benner und Schnatz ficht das nicht an; das sei, sagen sie, eben Wettbewerb.

Was sie den Anlegern wert sind, können die beiden Bankangestellten am Ende des Jahres eh genau in einer Umfrage unter Großinvestoren ablesen, bei der die Kapitalgeber die Qualität jedes einzelnen Analysten mittels Punktetabelle bewerten. Je höher ein Aktienstratege und seine Mannschaft dabei auf der Rankingliste steigen, desto höher fällt auch die Provision aus.

Im vergangenen Jahr belegte das Frankfurter Team der Deutschen Morgan Grenfell Platz eins.

Jan Fleischhauer

* Vor der Zentrale der Deutschen Bank in Frankfurt.

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