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»Wir hörten die Einsatzbefehle«

Interview mit dem afghanischen Piloten Habibullah Balchi
aus DER SPIEGEL 39/1980

SPIEGEL: Herr Balchi, Sie waren der Chef für die Ausbildung afghanischer Zivilpiloten, flogen als leitender Angestellter der Luftverkehrsgesellschaft »Ariana Afghan« deren einzige Maschine vom Typ DC-10 und haben auf spektakuläre Weise am vorletzten Sonntag in Frankfurt ihren Posten verlassen, um im Westen um politisches Asyl zu bitten -- warum?

BALCHI: Ich nicht allein, außer mir haben sich in den letzten Wochen und Monaten etwa 250 Kollegen der Ariana abgesetzt: Piloten, Techniker und Stewardessen. Warum? Na hören Sie, alle Welt weiß, daß wir Afghanen seit dem Überfall der Kommunisten aus der Sowjet-Union kein freies Volk mehr sind. Wir leben wie die Sklaven und sind der Willkür und Brutalität der Kommunisten ausgeliefert.

SPIEGEL: Das gilt leider schon seit einem Dreivierteljahr. Warum sind Sie gerade jetzt geflohen? War der Zeitpunkt besonders günstig?

BALCHI: Das hat zwei Gründe: Einmal wollte keiner von uns allein und ohne Familie gehen, um Repressalien gegen die Zurückgebliebenen zu vermeiden. Zum anderen bekamen einige unserer Piloten jetzt den Auftrag, Waffen und Kriegsmaterial zu den Kampfgebieten in den Provinzen zu fliegen. Damit wären wir zu Handlangern der Mörder an unserem eigenen Volk geworden.

SPIEGEL: Haben Sie persönlich auch solche Aufträge bekommen?

BALCHI: Nein. Mit einer DC-10 könnte man in der Provinz auch nicht landen. Aber gute Freunde von mir, die den Typ Boeing 727 fliegen, waren an solchen erzwungenen Einsätzen beteiligt. Keiner von uns wollte das machen.

SPIEGEL: Warum haben Sie sich denn ausgerechnet Frankfurt zum Abspringen ausgewählt?

BALCHI: Sehr einfach, Frankfurt ist schon lange das Zentrum für die Linienflüge der Ariana. Nur hier werden die Crews ausgewechselt. Nach Frankfurt zu kommen, war deshalb auch für unsere Techniker und Stewardessen leicht. Für die Bundesrepublik galten aus dem gleichen Grund unsere Pässe.

SPIEGEL: Und wie haben Sie Ihre Familie herausgebracht?

BALCHI: Bei mir klappte es für meine Frau und Kinder durch Bestechung. Für ein horrendes Schmiergeld hat ein Beamter in Kabul die Pässe ausgestellt. Bei meinen Kollegen, den Flugkapitänen Rahman und Besmellah und dem Ko-Piloten Sabur, war es viel gefährlicher und schwieriger. Sie mußten ihre Frauen und Kinder als Nomaden verkleidet in tagelangen Fußmärschen über die Berge nach Pakistan schicken. Von dort sind sie über die Türkei zum Glück heil nach Deutschland gekommen.

SPIEGEL: Wenn so viele Piloten geflüchtet sind, wie viele hat denn die Ariana noch?

BALCHI: Die Rechnung ist einfach: Bisher sind 19 afghanische Flugkapitäne und Ko-Piloten in den Westen geflüchtet, 17 machen noch ihren Dienst.

SPIEGEL: Reicht das, um den Linienverkehr aufrechtzuerhalten?

BALCHI: Da liegt das eigentliche Problem. Denn nur drei Flugkapitäne und vier Ko-Piloten davon haben die Lizenz für die DC-10. Selbst nach den Vorschriften der Ariana wäre der Linienverkehr zweimal wöchentlich von Kabul über Frankfurt nach London oder Amsterdam nicht aufrechtzuerhalten. Es sei denn, die Gesellschaft zwingt die verbliebenen Piloten, länger als vertraglich zulässig ihren Dienst zu tun.

SPIEGEL: Aber die Ariana hat doch nicht nur die DC-10.

BALCHI: Außerdem nur noch zwei Flugzeuge vom Typ Boeing 727, aber dort sieht die Personallage nicht besser aus.

SPIEGEL: Keine sowjetischen Maschinen? S.155

BALCHI: Nein. Russische Maschinen vom Typ Jak-40 hat nur die Gesellschaft »Bachtar«, die für die Inlandflüge zuständig ist. Aber mit diesen Dingern kann man keinen Liniendienst organisieren.

SPIEGEL: Herr Balchi, die Piloten sind in Afghanistan die am höchsten privilegierte Berufsgruppe. Weil das Regime sie braucht, wurden sie kaum mit Politik behelligt, sie konnten jederzeit ins Ausland und haben nach unseren Schätzungen ein Gehalt bekommen, das doppelt so hoch wie das eines Ministers ist. Sie haben durch ihre Flucht eine Menge aufgegeben ...

BALCHI: Sicher, ich hatte ein hohes Gehalt. Afghanische Flugkapitäne verdienen im Monat zwischen 1200 und 1400 Dollar. Verglichen mit einem Minister ist das sogar das Dreifache, denn die kriegen nicht mehr als 15 000 Afghani, das sind 350 bis 400 Dollar. Aber Geld ist nicht alles. Uns fehlte die Freiheit. Wir mußten mit ansehen, wie unsere Leute abgeschlachtet werden, wie sie täglich die Hölle erleben, ohne etwas dagegen tun zu können.

Und was die Politik angeht: So harmlos war das in den letzten Monaten nicht. Ich selbst wurde Anfang September in der bereits startfertigen Maschine verhaftet, in einem Moment, als meine Familie schon im Ausland war. Die Geheimpolizei verdächtigte mich, auch fliehen zu wollen.

SPIEGEL: Man hat Sie aber wieder laufenlassen.

BALCHI: Ja, weil sich Kollegen, die in den USA zum Training oder gerade auf Auslandsflügen waren, plötzlich krank meldeten. Die Ariana brauchte mich, es standen keine anderen Piloten zur Verfügung. Außerdem bestellte mich der Vertreter Karmals, Vizepremier Sultan Ali Kischmand, zu einem Gespräch und versprach mir das doppelte Gehalt und ein schönes Haus, wenn es mir gelänge, Piloten, die schon abgesprungen waren, zur Heimkehr nach Afghanistan zu überreden.

SPIEGEL: Sie haben hier in Deutschland gesagt, Sie und Ihre Kollegen hätten Beweise, daß nicht nur Sowjettruppen in Afghanistan eingesetzt seien, sondern auch Kampfverbände aus der DDR mit 400 Panzern und aus anderen Blockstaaten. Was sind das für Beweise?

BALCHI: Beweise haben wir natürlich nicht, wir wissen aber davon.

SPIEGEL: Auf welche Weise?

BALCHI: Da gibt es heute in Afghanistan viele Kanäle ...

SPIEGEL: ... die meistens Basar-Gerüchte sind.

BALCHI: Nein, nein, unsere Quellen sind sehr viel seriöser. Beispiele: Wir konnten in unseren Maschinen ohne Schwierigkeiten die militärischen Funkbefehle an die russischen Piloten der Kampfhubschrauber abhören, mehrmals haben wir auch Angriffe auf S.157 afghanische Dörfer beobachtet. Außerdem haben wir guten Kontakt zu ehemaligen afghanischen Luftwaffenoffizieren, soweit sie überhaupt noch am Leben sind.

SPIEGEL: Sind die meisten gefallen?

BALCHI: Sie wurden schon vor dem Kampf vom eigenen Regime umgebracht, schon zu Zeiten Amins. Etwa 80 Prozent der afghanischen Militärpiloten wurden wegen politischer Unzuverlässigkeit liquidiert.

SPIEGEL: Woher stammen denn nun die Meldungen über den DDR-Einsatz?

BALCHI: So genau kann ich das nicht sagen. Aber einer meiner Kollegen hatte bei einem der berüchtigten Transporte nach Schindand, nahe der persischen Grenze, drei Offiziere an Bord. Einer beteiligte sich nicht am Gespräch der beiden anderen Afghanen. Auf die Frage meines Kollegen sagten die afghanischen Offiziere, er komme aus Ost-Deutschland.

SPIEGEL: Hatte er denn die gleiche Uniform an?

BALCHI: Eben nicht ganz. Man konnte an seinen Rangabzeichen sehen, daß er Ausländer war. Außerdem: Ein anderer Kollege mußte auf einem solchen Transport einen farbigen Offizier mitnehmen. Seit wann gibt es denn in der russischen Armee Neger?

SPIEGEL: Aber die 400 Panzer aus der DDR, hat die jemand gesehen? Um die per Luftbrücke zu transportieren, wären doch fast 100 Flugzeuge nötig gewesen.

BALCHI: Na und? Allein in Kabul landen die sowjetischen Transportmaschinen fast ohne Pause Tag und Nacht. Außerdem sind, wie wir wissen, größere Panzereinheiten auch auf dem Landweg aus der Sowjet-Union gekommen.

SPIEGEL: Wissen Ihre Quellen denn auch, wie viele Sowjet-Soldaten jetzt in Afghanistan wohl im Einsatz sind?

BALCHI: Die Westpresse schreibt immer von 80 000 Mann. Das ist auf jeden Fall zuwenig. Mehr als 100 000 sind es inzwischen auf jeden Fall. Ganz genau weiß es niemand, oder wissen Sie genau, wieviel Soldaten der Bundeswehr im Ernstfall zur Verfügung stehen?

SPIEGEL: Geben Sie dem Widerstand der Afghanen gegen die Sowjets eine Chance?

BALCHI: Das wird hauptsächlich vom Westen abhängen. Die Freiheitskämpfer sind sehr mutig, manchmal tollkühn, und sie haben auch schon große Erfolge erzielt, viele Waffen erbeutet. Aber gegen die zweitgrößte Militärmacht können sie allein wenig ausrichten. Wir können nicht verstehen, daß der Westen ihren Kampf nicht deutlicher unterstützt.

SPIEGEL: Was werden Sie und Ihre Familie jetzt im Westen tun?

BALCHI: Ich bin in den USA ausgebildet worden, bin seit 23 Jahren Pilot und habe die Lizenz für vier Flugzeugtypen, die alle im Westen geflogen werden. Natürlich hoffe ich, weiter in meinem Beruf arbeiten zu können.

SPIEGEL: Wollen Sie wieder nach Afghanistan zurückkehren?

BALCHI: Erst wenn wir unsere Freiheit zurückerkämpft haben.

SPIEGEL: Welche Freiheit? Die einer afghanischen Monarchie oder einer islamischen Republik?

BALCHI: Wir wollen die Demokratie, eine Republik, selbstverständlich eine islamische, eine Republik, in der Freiheit und Recht garantiert sind.

S.154Bei seiner Ankunft am vorletzten Sonntag in Frankfurt.*

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