DEMONSTRANTEN Wir kommen wieder
Ein Schauer bunter Zettel und die Rufe »Kiesinger-Nazi«, »Schiller-Nazi«, »Achenbach-Nazi« unterbrachen die »unsäglich langweilige« ("Stuttgarter Zeitung") Sicherheitsdebatte des Deutschen Bundestags. Während CDU-MdB Werner Marx unbeirrt weitersprach, stürzten sich Bundestags-Ordner auf die Störenfriede.
Schon zu Beginn der Parlamentssitzung am letzten Mittwoch hatten sich PR-Spezialist Claude Pierre-Bloch, 30, Jura-Studentin Elisabeth Hasdenberg. 20, und ihr Kommilitone René Levy, 20, unter die Besuchergruppen aus der Provinz auf der Tribüne verteilt. Plötzlich erhoben sie sich zwischen Soldaten und fülligen Landfrauen und drängten an die Balustrade.
Levy, dessen Mutter aus Berlin stammt und die dort bis Kriegsende versteckt war, rief auf deutsch: »Bestraft die Nazi-Verbrecher.« Und die grazile Elisabeth Hasdenberg auf französisch: »Jugez les criminels nazis.«
In weniger als zwei Minuten hatten die zwischen den Besuchern placierten und auf solche Vorfälle gedrillten Bundestags-Bediensteten die Störer entfernt. Die strampelnde Studentin wurde im Polizeigriff abgeführt. SPD-MdB und Brigadegeneral a. D. Friedrich Beermann später: »Die haben aber hart zugepackt. Dabei war das Mädchen bildhübsch.«
Claude Pierre-Bloch. dessen Vater unter de Gaulle Staatssekretär im Innenministerium war, kassierte auf der Tribünentreppe zwei so harte Schläge in die linke Bauchseite, daß er ärztlich behandelt werden mußte. Elisabeth Hasdenberg büßte im Gefecht ihre Sonnenbrille ein.
Die Demonstranten, deren Eltern Mitglieder der »Internationalen Liga gegen Rassismus und Antisemitismus« sind, gehören zu einer Gruppe von etwa tausend jungen Franzosen, deren Familien unter der deutschen Besatzung in Frankreich zu leiden hatten.
Heroine der »Liga« ist die durch ihre Kiesinger-Ohrfeigen berühmt gewordene Beate Klarsfeld.
Ein Ziel der Liga, zu der prominente französische Politiker und Intellektuelle gehören, ist die Bestrafung derjenigen deutschen Kriegsverbrecher, die nach 1945 in Frankreich in Abwesenheit verurteilt wurden und die bis heute unbehelligt in der Bundesrepublik leben, weil eine Bestimmung der Pariser Verträge von 1955 es der deutschen Justiz verbietet, solche Kriegsverbrechen aufzugreifen, über die alliierte Gerichte bereits entschieden haben.
Mittlerweile haben Bonn und Paris einen Vertrag geschlossen, der die deutschen Strafverfolger von der franzosischen Prozeßfessel befreien soll. Sobald das Abkommen vom Bundestag ratifiziert ist, können Schwerbelastete wie Kurt Lischka und Herbert Hagen. ehedem führende Judenverfolger der Gestapo in Frankreich und dort nach dem Kriege in Abwesenheit verurteilt, vor deutsche Gerichte gestellt werden.
Lischka war am 22. März Objekt der vorletzten Klarsfeld-Aktion, als sie und einige Freunde in Köln versuchten, den ehemaligen SS-Führer zu kidnappen. Nach 16 Tagen Untersuchungshaft ließ das Gericht Beate Klarsfeld gegen eine Kaution von 30 000 Mark frei. Am 19. Juli ist Hauptverhandlung.
Der Liga arbeitet die bundesdeutsche Gesetzgebung zu langsam. Auf einem festlichen Liga-Diner (Ehrengast: der französische Senatspräsident Alain Poher, Tischnachbarin: Beate Klarsfeld) übte man Kritik. Pierre-Bloch, Levy und Elisabeth Hasdenberg beschlossen eine Bonner Aktion und druckten drei Flugblätter:
* »Kurt Lischka, Leiter des Judenreferates der Gestapo in Berlin, Vertreter des Befehlshabers der Sicherheitspolizei und des SD in Frankreich, Kommandeur der Sipo-SD in Paris und SS-Obersturmbannführer, ist in der Bundesrepublik nicht verurteilt worden. Warum schützt die deutsche Justiz mit Unterstützung des Bundestags systematisch die Nazi-Verbrecher?«
* »Ernst Achenbach, Aktivist der Juden-Deportationen aus Frankreich, raus aus dem Bundestag!«
* »Abgeordnete, ratifiziert das am 2. 2. 71 von Brandt unterzeichnete Zusatzabkommen. Laßt Naziverbrecher wie Lischka nicht in Freiheit und als ehrenwerte Bürger leben. Brandt genießt Hochachtung in der ganzen Welt, nicht aber der Bundestag und die deutsche justiz!« Der Stoßtrupp aus Paris kam zu früh. Das gescholtene Parlament ist schuldlos. Denn noch immer liegt das Abkommen beim gelobten Kanzler. Für den 28. Mai hat das Palais Schaumburg die Vorlage dem Bundesrat avisiert, der das Gesetz über die Ratifizierung des Vertrags auf die Tagesordnung des 9. Juli setzte. Erst danach kann sich der Bundestag damit befassen.
Mittlerweile läuft in der Bundeshauptstadt ein Ermittlungsverfahren gegen die Zettelwerfer »rein routinemäßig«, wie die Polizisten vom 1. (politischen) Kommissariat versichern. Sie hatten nach dem Zwischenfall die Übeltäter zur Vernehmung aufs Präsidium geholt. Einzige Auflage vor der Entlassung laut Rene Levy: »Wir sollen das nicht wieder tun.«
Gehorchen wollen die drei von der Liga dennoch nicht. Claude Pierre-Bloch, als Presseagent für Frankreichs Pop-Idol Johnny Hallyday und dessen Frau, Schlagersängerin Sylvie Vartan, in effektvollen Auftritten erfahren: »Dies war nur eine Aktion in einer langen Reihe. On reviendra, wir kommen wieder.«