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»WIR LEGEN WERT AUF GUTE RASUR«

aus DER SPIEGEL 16/1965

Zu Ostern marschieren sie wieder. Ohne Gleichschritt, ohne Groll und Gulaschkanone. Laufen sich Blasen für eine Sache, die von der Mehrheit ihrer Mitmenschen für nötig gehalten wird, obwohl die Mehrheit es nicht für nötig hält, sich dafür Blasen zu laufen.

Abrüstung ist das Ziel der Kampagne, der zuliebe die beschwingten Marschierer unter dem Rhythmus mitgeführter Dixielandmusik und dem salzlosen Spott vorbeirollender Oster-Touristen an den Feiertagen 100 Kilometer tippeln, ehe sie sich im Dunstkreis großer Städte gleich Rinnsalen bei Tauwetter von überall her vereinen zu etwas, was noch immer keinen Strom und gewiß keine Flut ergibt.

Freundlich hält die Polizei sich zurück. Nach fünf Jahren, in denen die Prozession der Bombengegner zum festen Bestandteil fröhlicher Ostern heranreifte, lehrt die Erfahrung, daß von den knapp 50 000 mündigen Bundesbürgern, die sich dabei zusammenrotten, Übles nicht zu befürchten und somit mehr als Schikane nicht angebracht ist.

Sie tragen kein Kreuz. Ihr Symbol sollte anfangs sogar an einen auf die Wirkung des Kreuzes nicht mehr Hoffenden gemahnen. Heute bezeichnen sie es als eine Chiffre aus der Zeichensprache der Seefahrt: die übereinander geschobenen Flaggenbilder für N -und D - Anfangsbuchstaben der englischen Worte Nuclear (atomare) und Disarmament (Abrüstung). Die einzige nicht gleichgeschaltete politische Unwillensäußerung der Bundesrepublik ist ein britischer Import.

Ihre Stammväter sind unruhige Geister aus dem linken Flügel von Labour, Gewerkschaftler und krausbärtige Bohemiens, die zu Ostern 1958 begannen, von London zum britischen Atomforschungszentrum Aldermaston zu marschieren, um damit eine Bewegung von weltumspannender Machtlosigkeit ins Leben zu rufen.

Empörung schien in der Luft zu liegen, die der radioaktive Ausfall der Bombentests zunehmend vergiftete. In der Bundesrepublik forderten SPD und Gewerkschaftsbund »Kampf dem Atomtod«, und in Bayern konstituierte sich unter Beteiligung von SPD- und FDP -Mitgliedern ein »Komitee gegen Atomrüstung«.

Erst als diese deutschen Widerstands-Impulse unter dem Eindruck opportuner Einsichten von ihren Urhebern unterdrückt wurden, sprang 1960 die Idee des Ostermarsches auf ein Häuflein Unentwegter in Deutschland über, die aus der Kampagne für atomare Abrüstung eine Kampagne für Abrüstung überhaupt machten.

Noch immer kommen zu Ostern Abgeordnete der Labour-Partei herüber, um durch ihre Mitwirkung bei deutschen Zuschauern den Zweifel zu beheben, diese Marschierer seien obskur. Englischen Stil pflegen auch die vier Dutzend Waschbrettkapellen (Skiffle -Groups) der deutschen Kampagne, in denen hingerissene Dilettanten ihren Zorn auf die Bombe mit Beatle-Lautstärke vernehmlich machen: Akustisch äußert sich der Ostermarsch vor allem als Aufruhr von Zupfinstrumenten.

Eindeutige Differenzierung vom britischen Vorbild haben die Anführer der deutschen Kampagne bisher nur in der Pflege ihrer Erscheinung angestrebt. »Auf saubere Kleidung und Rasur legen wir besonderen Wert«, bekräftigt der Holzbau-Ingenieur Dr. Andreas Buro, Sprecher der deutschen Ostermarschierer. Da wahre Experten der Diffamierung sich lieber mit der Haartracht als mit den Forderungen mißliebiger Elemente auseinandersetzen, werden Burschen in schlampiger Aufmachung von der Teilnahme an den Demonstrationen (für die einer bis zu 20 Mark zahlen muß) sogar ausgeschlossen.

Die einzige lebhafte Kundgebung politischen Unwillens in der Bundesrepublik trägt den deutschen Feiertagsgepflogenheiten weitgehend Rechnung. Bürgerlich untadeliges Habit ist ihr dringlicher als der Nachweis eigener Ideen, und frei nach dem Motto deutscher Mode-Werbung - übrigens: Man demonstriert nicht mehr ohne Hut - holen viele der Protestredner das Beste aus dem Kleiderschrank. Hinter dem Samariter-Wagen für die Fußkranken wächst von Ostern zu Ostern die Kolonne der Bequemen, die lieber am Steuer ihres frischgewaschenen Wagens demonstrieren.

Es kann gebetet werden. Vor der sechsten Wiederholung des Marsches, dessen Teilnehmerzahl sich seit 1960 verhundertfacht hat, legt die Kampagne Wert auf die Feststellung, daß kein Mitgehender von seinen christlichen Osterpflichten abgehalten sein wird. »Zu unseren Ostermarsch-Gottesdiensten«, klärte in Gelsenkirchen eine Pastorenfrau Zweifler auf, »kommen sogar ausgesprochene Atheisten.«

Die Bemühung um bürgerliches Prestige erweist sich als Existenzfrage gegenüber dem blindgeborenen Konformismus einer Gesellschaft, der ein Demonstrant nicht so sehr zu zeigen hat, wer er ist und wofür er eintritt, sondern wofür er nicht eintritt und was er nicht ist: Nicht für Pankow und den Weltkommunismus, nicht für die einseitige Abrüstung des Westens, kein Bürgerschreck und kein Vaterlandsloser.

Aus erschöpfender Abwehr der ungebetenen Umarmungsversuche Pankows und des kommunistischen Weltfriedensrates in Prag, aber auch im Kampf gegen die Abstempelungs-Routine von Bonner Rufmord-Experten aller politischen Farbschattierungen erwuchs der schwächlichen deutschen Kampagne eine Art von Immunität. Zaghaft wagen sich nun sogar die ersten katholischen Priester heran, nachdem voriges Jahr bereits 1100 evangelische Pfarrer den Oster-Aufruf unterschrieben.

Die christsoziale Landjugend, die anfangs dem kümmerlichen Häuflein der ersten Ostermarschierer mit einem Wald von Spruchbändern entgegentrat und den matten Bombengegnern bei den Bauern den Milchhahn abdrehte, hat die Segel gestrichen. Die Mühe, sich mit den lästigen Weltverbesserern herumzustoßen, nahm ihr ohnehin schnell die SPD ab, die bald zu spüren bekam, welch unberechenbare Verlockung die Kampagne auf ihren an verspäteter Wehrfreude leidenden linken Flügel ausübte. Schließlich hatte sie ihren »Kampf dem Atomtod« nicht in den Dornröschenschlaf versenkt, um nun einer unkontrollierbaren Gruppe gleicher Zielsetzung Druck erzeugen zu helfen.

Das maßlose Verdikt aus der Bonner SPD-Baracke ("Nicht im deutschen Interesse.), synchron begleitet vom Naserümpfen des DGB, verbürgte der Ostermarsch-Bewegung bis auf weiteres zwergenhaften Wuchs; Volksbewegung konnte sie so nicht werden.

Doch wirkte es auch wie Gift in den eigenen Reihen der SPD, in denen ungeachtet aller Parteidisziplin Gewissenskonflikte ausbrachen. Nicht nur die sozialdemokratisch angehauchten Naturfreunde, auch eine wachsende Zahl von Mitgliedern der sozialdemokratischen Falken-Jugend, auch namhafte Gewerkschafts-Funktionäre bis hinauf zu Transportarbeiterboß Adolph Kummernuß und schließlich sogar der aufmuckende SPD-Bundestagsabgeordnete Professor Dr. Dr. h. c. Fritz Baade und der sozialdemokratische Städtetags -Chef Dr. h. c. Werner Bockelmann unterschrieben die Forderungen der verfemten Oster-Kampagne.

Im Ruhrgebiet hängen an den bürgerlichen Rockschößen der Kampagne freilich immer noch deutlich erkennbar die Splittergruppen der Deutschen Friedens -Union von Renate Riemeck, die, vor der letzten Bundestagswahl gegründet, vergeblich versuchte, auf radikal rüstungsfeindlichem Linkskurs Wählerstimmen zu gewinnen.

Fermentiert mit allen Geschmacksnuancen von der heimatlosen bis zur heimatstolzen Linken hat die Kampagne aufgehört, starken Tobak abzugeben. Von der Deutschen Friedensgesellschaft bis zum Sozialistischen Deutschen Studentenbund, von den Quäkern bis zu den jungen Naturfreunden, von den Kriegsdienstgegnern bis zum Kampfbund gegen Atomschäden oder zum Komitee gegen Atomrüstung bezieht sie ihre Unterstützung, die keineswegs nur ideeller Natur sein darf. Geduldig versuchen ihre 120 im Bundesgebiet etablierten »Örtlichen Ausschüsse«, in denen hehre Einzelgänger Freizeit und Erspartes an den bewegenden Gedanken der Abrüstung hängen, auch innerhalb des stummen Volkes die Gefolgschaft zu vergrößern.

Einfach Unterschriften in den Betrieben zu sammeln, erwies sich als hoffnungslos. Vor Kollegen setzt auch ein freier Deutscher nicht gern seinen Namen unter politisch anmutende Forderungen. So kommen die Ostermarschierer ins Haus, wie die Zeugen Jehovas. Auf diesem Wege der unmittelbaren Werbung haben sie nun an die 100 000 Unterschriften gesammelt.

»Vielleicht werden wir eines Tages so etwas wie die Volkshochschulbewegung«, sagt Maßhalter Buro, »evolutionär, nicht revolutionär.«

Dazu gehört, daß die Flugschriften, die neben dem Verkauf von Skiffle -Schallplatten, Atomgegner-Abzeichen, Luftballonen, Kopftüchern, Kugelschreibern und klingenden Grüßen vom Ostermarsch der Finanzierung des steuerlich nicht begünstigten Protestes dienen, Mäßigung und analytische Denkungsart offenbaren. »Polemik«, sagt Buro, »lassen wir weg. Wir glauben nicht mehr, daß man die Menschen durch ein zündendes Pamphlet überzeugt.«

Als Martin Niemöller, Weltkirchenrats-Präsident und Routinier des Protestes, beim Ostermarsch-Aufruf in Gelsenkirchen seine Rhetorik demagogische Blasen treiben ließ, stiftete das deutliches Unbehagen bei den Ingenieuren der Kampagne, die Pathos ohne Sachlichkeit gern nur noch mit musikalischer Begleitung akzeptieren würden.

Nur da, unter dem wütenden Waschbrett-Gerassel von Jungwählern, die ihre zehn Finger mit Fingerhüten panzern, unter dem stählernen Schlag der Jazzgitarren, entzündet sich noch so etwas wie unmittelbare Erregung. »Ihr mögt ja vieles wissen und habt uns oft beschissen«, jauchzt der deutsche Abrüstungs-Barde Dieter Süverkrüp. Saitenschlagend verdammen er und sein Chor den Gedanken eines Atom-Minen -Gürtels. »Es wird darum gebeten, auf Trettner nicht zu treten, der einen Sprengkopf hat.«

Sobald aber einer im Sonntags-Anzug oben am Mikrophon steht und sich anschickt, die Vietnam-Krise zu deuten,

schmilzt die Reaktionsfähigkeit der Zuhörer zu jenem Achtungs-Applaus, den sie auch stets spenden, wenn der Name des Abrüstungs-Heiligen Bertrand Russell ausgesprochen wird.

Stärker als das abstrakte Thema der Bombe bewegt sie offenkundig der Unwille über den politischen Stil von Bonn und die neuen Notstandsgesetze, mit denen sich in ihrem Kreise immer wieder die Gewerkschafter auseinandersetzen. Zorniger applaudieren sie, die überwiegend jungen Männer, der Kritik an einer »Gesellschaft von Mitläufern«, an einer »heiteren Verelendung von Massen« (so Schriftsteller Christian Geissler). Die Bombe wird zum Wahrzeichen des Unbehagens schlechthin.

»Wir sind«, behauptet der selbstgefällige Münchner Kriegsdienstverweigerer Walter Lidl, »hineingegangen, damit mehr Moral in die Politik kommt.«

Fast alles, was mit Anstand links ist unter den deutschen Literaten und Intellektuellen - von Carl Amery bis Stefan Andres, von Ledig-Rowohlt bis Wolfgang Neuss, von Wolfgang Abendroth bis Martin Walser und Kästner und Kuby und Kogon -, unterstützt nun

die Sache der Osterkampagne durch Wort und Schrift und Unterschrift. Doch auch ihnen ist die Bombe oft nur ein Deckname für mehr (oder weniger): Überdruß an der politischen Regungslosigkeit der Gesellschaft, von der sie sich umgeben fühlen. »Man muß es unterstützen«, sagt SPD-Freund. Hans Werner Richter, »weil es so was bei uns so wenig gibt.« Trotzdem schränkt er wie viele Freunde des Ostermarsches seine Zustimmung ein: »Etwas Sektiererisches hat es leider schon auch.«

Die Sektierer, die Missionare einer Abrüstung ohne Kompromiß und Vorbedingung wie der Hamburger Lehrer und Quäker Hans Konrad Tempel, der vor fünf Jahren als erster Deutscher marschierte, sind wie die Unruhe im Uhrwerk der Organisation. Aber im tonangebenden 30köpfigen Zentralen Ausschuß stellen sie heute nur noch eine Minderheit gegenüber den Jungmannen aus Gewerkschaften und sozialistischen Jugend -Organisationen.

Einige von ihnen haben 1961 ein Jahr lang Ostermarsch gemacht, sind mit den Fanatikern des amerikanischen Pazifisten-Vereins CNVA (Committee for Non -Violent Actions) und mit Hilfe des kommunistischen Weltfriedensrates von San Francisco bis auf den Roten Platz gezogen, wobei die Abweisung an den Grenzen Frankreichs und der DDR sie viel weniger mitnahm als die Härte der Überzeugung, mit der überall in der Sowjet-Union Studenten und junge Arbeiter sich ihnen gegenüber entschlossen zeigten, die eigene Bombe für die friedlichere zu halten.

Einige haben in Beirut - vergeblich - versucht, eine Internationale Weltfriedens-Brigade ins Leben zu rufen. Einige waren, um Frieden zu stiften, im Grenzkrieg zwischen Pakistan und Indien, einige an den Schauplätzen des Unfriedens in Afrika. Sie alle haben gelernt, nach dem Erfolg ihres Tuns nicht zu fragen.

Daß trotz ihrer Strapazen aus der Abrüstung nichts wurde, entmutigt sie nicht. Daß die bisherigen Fortschritte in den Abrüstungs-Bemühungen nicht ihren Strapazen zu danken sind, wollen sie einfach nicht glauben.

In der Paulskirche, die sich die Kampagne einmal im Jahr für 1000 Mark mit Blumen- und Fahnenschmuck leistet, sprach heuer der Berliner Theologie-Professor Helmut Gollwitzer den frischrasierten Oster-Streitern auf bezeichnende Weise Mut zu: »Eine Demonstration wird nicht sinnlos, wenn sie wirkungslos ist.« Da spendeten ihm alle Beifall. Und der Professor gab seinen politischen Segen: »Wir müssen froh sein um diesen Faktor politischer Belebung, weil eine Demokratie ... stirbt an der Interessenlosigkeit ihrer Bürger.«

Ostermarschierer in München: »Nicht auf Trettner treten«

Ostermarsch-Musik im Ruhrgebiet: Erregung am Waschbrett

Peter Brügge

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