Mit Stahlhelm und durchgeladener Waffe, ein volles Magazin für die Maschinenpistole und zwei Magazine für die Pistole in der Tasche, stand Frank Wolf, Offizier des Grenzausbildungsregiments 39, gefechtsbereit am Brandenburger Tor.
»Notfalls mit äußerster Gewalt«, so war ihm in der Einsatzbesprechung mit Offizieren des Stabes befohlen worden, müsse unbefugtes »Betreten des Platzes vor dem Brandenburger Tor verhindert werden«. Rund 700 Grenzsoldaten riegelten das Terrain ab, alle 50 bis 70 Meter stand ein Posten mit scharfer Munition in der gesicherten Waffe.
Als herrsche Krieg mitten in Berlin, war auch für das Rummelsburger Grenzregiment 36, die »letzte Linie« am Tor zwischen Ost und West, »erhöhte Gefechtsbereitschaft« angeordnet worden. Schützenpanzerwagen, erinnert sich Wolf, standen voll aufmunitioniert und marschbereit in den Straßen.
Dann näherte sich, nachmittags gegen 16 Uhr, der Feind. Rund 30 Demonstranten in der nahen Otto-Grotewohl-Straße, meldeten Späher von der Front in der Innenstadt, wollten die Grenze durchbrechen, angeblich mit Waffengewalt. Am Tor wurde Alarm gegeben - und ein Schießbefehl.
Wer den Anruf »Halt! Grenzposten! Stehenbleiben oder ich schieße!« nicht unverzüglich beachte, müsse sofort unter Feuer genommen werden, lautete die Order. Als einige Leutnants aufbegehrten, schnarrte Wolfs Kompaniechef: »Befehl ist Befehl.«
Es war Erich Honeckers letzter Schießbefehl.
Ein paar Steinwürfe entfernt feierte der SED-Chef, damals 77, an diesem 7. Oktober 1989 mit seinen Altgenossen starrköpfig den 40. Geburtstag der DDR, ließ die Kohorten mit den sozialistischen Wink-Elementen an seinem Staatsgast Michail Gorbatschow vorbeidefilieren, der widerwillig aus Moskau angereist war und schon ahnte, daß das Leben den Genossen Honecker bald bestrafen würde.
Bis zuletzt war der DDR-Staatschef bereit, so zeigt sich erst jetzt durch Augenzeugenberichte wie die des Grenzoffiziers Wolf, seine erlöschende Macht notfalls mit militärischer Gewalt zu retten.
Zwar rühmt sich Honecker, der die Schüsse an seiner Todesgrenze bis heute im Einklang wähnt mit dem Völkerrecht, er habe den Einsatz von Schußwaffen gegen Demonstranten in der Heldenstadt Leipzig verhindert. Doch an der Grenze zwischen real existierendem Sozialismus und Kapitalismus riskierte er ein Blutvergießen - direkt vor dem deutschen Symbol für Spaltung und Einheit.
Mitverschwörer waren Stasi-Minister Erich Mielke, Chef der Berliner Oktober-Operation, Verteidigungsminister Heinz Keßler, Oberbefehlshaber der gefechtsbereiten Truppen, und der Ost-Berliner Polizeipräsident Friedhelm Rausch, dessen Ordnungskräfte bei den durchweg friedlichen Demonstrationen am Republik-Geburtstag 1047 Bürger festnahmen und zum Teil schwer mißhandelten.
Ein erster Ost-Berliner Kommissionsbericht, der sich mit den Folgen des Honecker-Befehls vom September 1989 zur »Gewährleistung von Sicherheit und Ordnung« am 40. DDR-Jahrestag befaßte, kam kurz nach der Wende zu dem Schluß, die Befehlshaber hätten wohl auch eine gewaltsame »chinesische Lösung« einkalkuliert.
Chinesische Lösungen hatten schließlich bis dahin zum Konzept gehört, dem SED-Regime seinen himmlischen Frieden zu sichern. Neue Dokumente aus den Archiven der DDR-Militärs belegen, wie sorgfältig die Wandlitzer Bürokraten unter Honeckers Anleitung den Vollzug der Todesstrafe für sogenannte Republikflüchtlinge vorbereitet haben. Mindestens 200 Menschen wurden an der waffenstarrenden Grenze getötet, Tausende durch gezieltes Feuer verletzt, bei Minenexplosionen verstümmelt.
Derart ausführliches Material, das jetzt die Autoren Werner Filmer, 57, und Heribert Schwan, 46, vor allem im Archiv der Grenztruppen-Leitung in Pätz bei Königs Wusterhausen, der Nationalen Volksarmee (NVA) in Strausberg bei Berlin (Schwan: »Da war schon ein Großteil gefleddert") und der SED einsehen durften, hatte den Staatsanwälten von der Berliner Ermittlungsgruppe »Regierungskriminalität« lange gefehlt.
Die beiden Autoren haben Todesschützen und Angehörige der Opfer befragt, Ministeriumsberichte und Parteikorrespondenz ausgewertet, die geheimen ** Werner Filmer/Heribert Schwan: »Die Opfer _(der Mauer - Protokolle des Todes«. C. ) _(Bertelsmann Verlag, München; 320 Seiten; ) _(39,80 Mark. * Bei den Feiern zum 40. ) _(Gründungstag der DDR am 7. Oktober 1989. ) Protokolle von Soldaten und SED-Bonzen über die Tragödien an der Grenze gesichtet: Diese Woche ist ihr Film zu sehen (Donnerstag, 20.15 Uhr, ARD, siehe auch Fernseh-Vorausschau), ein Buch folgt im Juli**. »Die Protokollnotizen der Grenztruppen«, schreiben die Verfasser, »zeugen einerseits von kalter Zweckbestimmung und andererseits von der rüden Obszönität eines erstarrten ideologischen Systems.«
Kalt und buchhalterisch, in der unseligsten Tradition deutscher Geschichte, kalkulierten die Wandlitzer Parteigrößen in ihren Schreibstuben die topographische Gestaltung des Todesstreifens und den Materialbedarf für die kostensparende Vernichtung von Personen, die in den Akten das Kürzel »GV« trugen.
GV stand im DDR-Neusprech für »Grenzverletzer«. Gemeint waren die Grenzverletzten.
Seit 1958 mußten Minister und Generale dem neuen Chef der Sicherheitsabteilung des Zentralkomitees, Erich Honecker, über besondere Vorkommnisse, über den Ausbau der Grenzsperren, über Tote und Fahnenflüchtige berichten. Sie waren ihm schon damals in der Parteihierarchie »sozusagen unterstellt« (Honecker). Und sie rapportierten dem Sicherheitschef, der 1961 den Mauerbau leitete, mit Fleiß und Sorgfalt.
»4526 Minen vom Typ PCMS-2 und 207 516 Minen vom Typ PMD-6« seien entlang der Grenze bereits verlegt, bilanzierte etwa Verteidigungsminister Heinz Hoffmann eineinhalb Jahre nach dem Mauerbau. Der Spanien-Kämpfer, seit 1930 eingeschriebener Kommunist, während der ersten Nazi-Jahre im Widerstand und von 1960 bis zu seinem Tod 1985 DDR-Verteidigungsminister, bat Honecker »um eine Mitteilung Deinerseits«, mit welchen Auszeichnungen »diese staatspolitisch wichtige Arbeit« gewürdigt werden solle.
Anfang 1963 meldete Hoffmann, an der 1381 Kilometer langen innerdeutschen Grenze zwischen Lübecker Bucht und Hof seien »als Sicht- und Schußfeld noch 131,15 km Schneise zu schlagen und zu räumen«. Vom Bau zusätzlicher »Lichtsperren« rate er ab, schrieb der General, »da der Kostenaufwand nicht im Verhältnis zum Nutzeffekt steht«.
Hoffmanns Stellvertreter, Admiral Waldemar Verner (gestorben 1982), wiederum berichtete zum Beispiel am 18. Dezember 1962 dem »werten Genossen Honecker« über den Tod der Westdeutschen Klaus Körner, 23, und Erich Janschke, 21. Sie waren an der Grenze bei Untersuhl unter ungeklärten Umständen von DDR-Minen zerfetzt worden.
Zu den Todesfällen, es waren der 27. und 28. an der innerdeutschen Grenze außerhalb Berlins, fiel Verner ein praktischer Verbesserungsvorschlag ein: Es müsse, schrieb er mit sozialistischem Gruß, zusammen mit dem Ministerium für Landwirtschaft, Erfassung und Forsten überprüft werden, »wie wir auf eine zweckmäßigere Art das Problem der Unkrautvernichtung zur Verbesserung des Schußfeldes, der Sicherung der Sperren und des Kontrollstreifens lösen können«.
Nichts ging an der Grenze ohne Honecker, den Erbauer der Mauer und Gestalter des Todesstreifens. Ob ihm Hoffmann anbot, Muster der neuen Staatswappenschilder persönlich vorbeizubringen, »die im Vergleich zu den derzeitigen Staatswappenschildern aus Sprelacart wesentlich repräsentativer wirken«, ob er über die Zahl der Deserteure informiert wurde oder die Meldungen seiner Sicherheitsabteilung über die neuesten Mauertoten erhielt - Erich Honecker war stets sein gründlichster Grenzer.
Eine Fülle solcher Vermerke flattert nun aus den unsortierten Aktenkellern der Militärs ans Licht. Viele sind handschriftlich mit dem ewigen »Einverstanden. EH« oder nur »EH« paraphiert, die meisten tragen den Vermerk »Geheime Kommandosache« - lauter Schießberichte und Schießbefehle, Protokolle des Tötens und Sterbens an der Grenze.
Regelmäßig wurden alle Mitglieder des Politbüros vom Ministerium für Nationale Verteidigung über die besonderen Vorkommnisse beim »Front- und Gefechtsdienst im Frieden« , so die Propagandaformel, unterrichtet. Oft schrieb Honecker persönlich die Anweisung »Umlauf PB« auf die Meldungen von der Grenze.
In seinem Moskauer Asyl verbringt Honecker nun nach eigenem Bekunden schlaflose Nächte - nicht wegen der Opfer an der Grenze, sondern wegen der Vorwürfe gegen ihn und seine Mittäter. Der kranke Greis benutzt nach wie vor die Sprachregelung vom »angeblichen Schießbefehl«, über den schon Honecker-Vorgänger Walter Ulbricht 1966 gehöhnt hatte, es handele sich um eine »Lieblings-Propaganda-Ente« des Westens. Ulbricht: »Dieser sagenhafte Schießbefehl existiert bekanntlich nicht.«
So sieht es auch Heinz Keßler, 71, Honeckers Kampfgefährte aus Gründungstagen der Freien Deutschen Jugend und sein letzter Verteidigungsminister (1985 bis 1989). Er wurde wie die ehemaligen Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates Willi Stoph, 76, Verteidigungsminister von 1956 bis 1960, Fritz Streletz, 64, und Hans Albrecht, 71, unter dem Vorwurf der Anstiftung zum Totschlag Ende Mai in Haft genommen. Von seinem Anwalt ließ Keßler erklären: »Es gab keinen Schießbefehl.«
Nichts kann offenbar ihr Bewußtsein mehr erreichen, das vor Jahrzehnten durch Ideologie gespalten wurde.
So ratifizierte der auf weltweite Anerkennung erpichte Staatsratsvorsitzende Honecker am 2. November 1973 die Internationale Konvention über bürgerliche und politische Rechte, die in Artikel 12 feststellt, jedem stehe es frei, »jedes Land, auch sein eigenes, zu verlassen«.
Ein halbes Jahr später, am 3. Mai 1974, erklärte derselbe Honecker, aufgrund eines 15minütigen Vortrags des Generalobersten Keßler über die Lage an der Grenze, im Nationalen Verteidigungsrat wörtlich: »Nach wie vor muß bei Grenzdurchbruchsversuchen von der Schußwaffe rücksichtslos Gebrauch gemacht werden, und es sind die Genossen, die die Schußwaffe erfolgreich angewandt haben, zu belobigen« (siehe Kasten Seite 79).
Von Anfang an, seit das erste Opfer des Kalten Krieges, der Westbürger Adolf Wieczorek, laut Protokoll der »Abteilung Grenzpolizei und Bereitschaften« des Landes Thüringen am 11. Januar 1949 gegen 7.10 Uhr »während des illegalen Überschreitens der Zonengrenze von West nach Ost an der Dorschenmühle bei Seibis von einem Posten der sowjetischen Besatzungsmacht durch Abgabe von mehreren Schüssen tödlich verletzt« wurde, herrschte mitten in Deutschland die Gewalt.
Die Grenzpolizei, im November 1946 auf und unter Befehl der Sowjets gegründet, war laut Order vom November 1948 auf »strikte Einhaltung der Schußwaffengebrauchsbestimmung« verpflichtet.
Nach Gründung der DDR 1949 wurde die Grenzpolizei zunächst dem Innen-, später dem Stasi-Ministerium unterstellt, das mit harschen Befehlen die Massenflucht in den Westen unterbinden wollte. So war in einer Polizeiverordnung vom Mai 1952 der Schießbefehl bereits klar verankert: _____« Das Überschreiten des 10 m Kontrollstreifens ist für » _____« alle Personen verboten. Personen, die versuchen, den » _____« Kontrollstreifen in Richtung DDR oder Westdeutschland zu » _____« überschreiten, werden von den Grenzkontrollstreifen » _____« festgenommen. Bei Nichtbefolgung der Anordnungen der » _____« Grenzstreife wird von der Waffe Gebrauch gemacht. »
Stück für Stück perfektionierten Ulbricht, Honecker und Genossen ihr Grenzregime durch immer neue Gesetze und Verordnungen: *___Im Oktober 1954 wurde die Dienstvorschrift GVSTgb. Nr. ____I/277/54 in Kraft gesetzt mit der Bestimmung, die Waffe ____dürfe ohne vorherigen Warnschuß angewendet werden, wenn ____ein illegaler Grenzgänger auf Anruf nicht stehenbleibe. *___Im September 1958 erließ DDR-Innenminister Karl Maron ____die Dienstvorschrift DV III/2, nach der die Wächter »an ____der Staatsgrenze zur Westzone, am Ring um Berlin und an ____der Küste« unter anderem »bei der Festnahme von ____Spionen, Saboteuren, Provokateuren u.ä. Verbrechern« ____gezielt schießen durften, wenn »keine Möglichkeit ____besteht, die Festnahme durch eine andere qualifizierte ____Maßnahme herbeizuführen«. *___Im Jahr darauf wurden die Grenzer durch den ____Geheimbefehl 28/59 VVS G1 172/59 »verpflichtet«, in all ____diesen Fällen zu schießen.
Die nun entdeckten Tagesmeldungen der Grenzpolizei, die meist den Stempel »Geheime Verschlußsache« tragen, geben erstmals, 42 Jahre nach Gründung der DDR und 30 Jahre nach dem Bau der Mauer, ein ungeschminktes Bild über die befohlenen Gewalttaten entlang der Todesgrenze der Deutschen. Sie nennen Namen der Opfer, der Täter und der verantwortlichen Offiziere. Sie zeigen auch, wie brutal die Ost-Grenzer schon in den frühen Jahren der Zweistaatlichkeit Befehle befolgt haben.
So bemerkten die Wachtmeister Paul Weilepp, damals 22, und Walter Rauh, damals 34, laut Protokoll der thüringischen Landesbehörde der Volkspolizei am 26. Juli 1949 gegen 2.10 Uhr im Kommandobereich Kirchgandern eine Gruppe von etwa zehn Grenzgängern. Durch »Haltrufe und Signalpfiffe«, schließlich durch »einen Warnschuß in die Luft« versuchten die beiden Polizisten, die Gruppe zu stoppen - ohne Erfolg.
Weilepp schoß daraufhin gezielt auf ein Kornfeld, in das sich die Grenzgänger geflüchtet hatten. Vor den Augen ihrer Eltern sank Brigitte Frauendorf, von einem Schuß in den Bauch getroffen, zusammen - das Mädchen war elf Jahre alt. Das Protokoll: _____« Wie aus den Vernehmungen der Eltern hervorgeht, ist » _____« zu ersehen, daß ein Verschulden von seiten des Wm. » _____« Weilepp nicht vorliegt, sondern die beiden Polizisten in » _____« der rechtmäßigen Ausübung ihres Dienstes gehandelt haben. » _____« Somit ist auch der Gebrauch der Schußwaffe » _____« gerechtfertigt. Die Leiche des Kindes wurde in das » _____« Spritzenhaus der Gemeinde Kirchgandern überführt. »
Wer nicht stehenbleibt, wird rechtmäßig erschossen - wie rigide dieses Prinzip angewendet wurde, zeigt auch der Abschlußbericht der Grenzbereitschaft Dittrichshütte über den Tod des 44 Jahre alten Flüchtlings Max Grübner aus Weimar. Er wurde im Bereich der thüringischen Kommandantur Weitisberga am 9. November 1955 von dem Soldaten Ulrich Gau, damals 23, durch einen Schuß in die »linke Seite des Hinterkopfes« getötet. Der Bericht: _____« Als der Grenzverletzer den 10 m Kontrollstreifen » _____« betreten hatte und ihn in großen Schritten zu überqueren » _____« versuchte - Schrittlänge 1,50 m -, gab der Soldat Gau » _____« einen Zielschuß ab. Die Abgabe eines Zielschusses » _____« entspricht den Bedingungen der Instruktion für die » _____« Deutsche Grenzpolizei, weil der Grenzverletzer durch » _____« Anruf und zwei Warnschüsse ausreichend gewarnt war und » _____« keine andere Möglichkeit vorhanden war, ihn am » _____« unkontrollierten Grenzübertritt zu hindern . . . Die » _____« Anwendung der Schußwaffe durch den Soldaten Gau erfolgte » _____« in Übereinstimmung mit den Dienstvorschriften und » _____« Befehlen und ist somit rechtmäßig. »
Für die perfekte Abschottung der Grenze nach Westen sorgte erst der ZK-Sicherheitschef und Sekretär des Nationalen Verteidigungsrats Erich Honecker: Das Politbüromitglied wurde von Ulbricht mit der Organisation des Mauerbaus beauftragt. Bis dahin waren nach einer Übersicht der Zentralen Erfassungsstelle für DDR-Unrecht in Salzgitter an der innerdeutschen Grenze 11 Menschen, nach einer neuen Zählung der Autoren Filmer und Schwan 15 Menschen ums Leben gekommen.
So viele Todesopfer gab es nach dem Bau der Mauer, von Mitte August bis Ende Dezember 1961, allein in Berlin. Damit erfüllte sich der Leitsatz, den die Politische Abteilung einer Truppeneinheit kurz nach dem Mauerbau an die »Genossen Wachtmeister, Unterführer und Offiziere« in einem Agitprop-Papier ausgab: »Wir machen alles gründlich.«
Am 20. September 1961 - bis dahin hatten am neuen »antifaschistischen Schutzwall« schon vier Menschen ihr Leben gelassen - bestellte Honecker um 8.30 Uhr seinen Zentralen Stab zu sich. Weil das Politbüro die »unzulänglichen Pioniermaßnahmen zur Sicherung der Staatsgrenze in Berlin« kritisiert hatte, ließ er Bilanz ziehen.
»216 Grenzdurchbrüche mit insgesamt 417 Personen« zählten die Kommandeure seit dem 13. August, dazu 85 Fahnenflüchtige. Danach formulierte Honecker den »Kampfauftrag zur Sicherung des Friedens an der Staatsgrenze«. Honecker: »Alle Durchbruchversuche müssen unmöglich gemacht werden.«
Über neue Schikanen waren die 14 Genossen, darunter Verteidigungsminister Hoffmann, Stasi-Chef Mielke, der Berliner SED-Chef Paul Verner, Volkspolizei-General Willi Seifert und Polizeipräsident Fritz Eikemeier, nach einstündiger Beratung einig. Nachdem die Bürokraten über die Haltbarkeit von Drahtsperren, den betrüblichen »großen Verschleiß« an Betonschwellen und den Einsatz von Hunden debattiert hatten, faßte Honecker, der sich heute nicht mehr erinnern mag, die Beratung zusammen (siehe Kasten Seite 74).
Sein zentraler Befehl lautete: »Gegen Verräter und Grenzverletzer ist die Schußwaffe anzuwenden. Es sind solche Maßnahmen zu treffen, daß Verbrecher in der 100 m Sperrzone gestellt werden können. Beobachtungs- und Schußfeld ist in der Sperrzone zu schaffen.«
Erfüllungsgehilfe Hoffmann setzte die Vorgaben, die mit dem handschriftlichen Kürzel »EH« gezeichnet sind, rasch in die Tat um. Für die Grenztruppen, die wenige Tage zuvor aus dem Innenministerium ausgegliedert und dem Ministerium für Nationale Verteidigung unterstellt worden waren, gab er am 6. Oktober 1961 ("Geheime Verschlußsache«, Befehl Nr. 76/61) präzise Order.
»Wachen, Posten und Streifen der Grenztruppen der Nationalen Volksarmee an der Staatsgrenze West und Küste« waren danach »verpflichtet«, nach Anruf und Warnschuß die Waffe gezielt einzusetzen. Die Grenzer mußten auf Flüchtende schießen, wenn »keine andere Möglichkeit zur Festnahme« bestand - also so gut wie immer.
In der »Anlage 1« fanden sich unter der Überschrift »Schußwaffengebrauch« zwei Allzweckbestimmungen, Blankovollmachten für den Schuß in jeder Lebenslage: »Die Waffe darf insoweit gebraucht werden«, heißt es darin, »wie es für die zu erreichenden Zwecke erforderlich ist.« Und: »Die Angehörigen der Nationalen Volksarmee sind jederzeit zum Waffengebrauch berechtigt, wenn sie in Ausübung ihres Dienstes zum Schutze der Deutschen Demokratischen Republik eingesetzt sind.«
Wenig später ordnete Hoffmann, mit Befehl Nr. 85/61, auch den Bau eines umfangreichen Sperrsystems an. Nach weiteren Beschlüssen des Nationalen Verteidigungsrates mußten die Befestigungen in vier Etappen bis September 1963 immer weiter perfektioniert werden - auf 774 Kilometern Grenze wurden erstmals Minen verlegt. Fortan wurden die jährlichen Totenlisten lang.
Die Meldungen über besondere Vorkommnisse an der Grenze häuften sich auf Honeckers Schreibtisch. Die meisten Berichte kamen, auf dem Formular der »SED-Hausmitteilung«, vom Abteilungsleiter der ZK-Sicherheit, Walter Borning. Am 5. November 1963 zum Beispiel konnte Honecker lesen, welche Wirkung seine Befehle zeitigten: _____« Am 05.11.1963 gegen 01.40 Uhr versuchten die » _____« Jugendlichen Marwan, Karl-Heinz, 16 Jahre, und Bley, » _____« Volkmar, 16 Jahre, beide wohnhaft in Fischbach, Kreis » _____« Bad-Salzungen, die Minensperren bei Andenhausen, » _____« Grenzregiment Dernbach, zu durchbrechen. Bei diesem » _____« Versuch wurde dem Marwan der rechte Fuß bis zum Knöchel » _____« weggerissen und der Bley durch Splitterwirkung verletzt. » _____« Beide befinden sich im Krankenhaus Bad-Salzungen. Mit » _____« sozialistischem Gruß, Borning. »
Die Grenzer schossen, aufgrund der neuen Befehle, wild um sich. Sie sahen sich dazu förmlich vergattert durch den täglichen Befehl, der nach Berichten ehemaliger NVA-Offiziere mündlich erteilt wurde mit der Formel: »Sie sind eingesetzt im Grenzabschnitt mit der Aufgabe, Grenzverletzer aufzuspüren, festzunehmen und zu vernichten.«
Auf einzelne Flüchtlinge, so zum Beispiel den 23 Jahre alten Helmut Kleiner, der Anfang August 1983 bei Hohegeiß im Harz rübermachen wollte, wurden laut Protokoll insgesamt 60 Schuß abgegeben. Beim Einsatz gegen drei »Grenzverletzer«, die am 29. April 1963 unbewaffnet durch den Goldensee nahe Gadebusch Richtung Westen davonschwammen, zählten die Grenzer nach getaner Arbeit 171 Schuß.
Der DDR-Volksmund nannte sie bald die »grüne SS«. Im Großen Haus, dem Gebäude des SED-Zentralkomitees am Ost-Berliner Werderschen Markt, saß Honecker und quittierte die schaurigen Totschlag- und Mordberichte mit seinem routinemäßigen »EH«.
Zwei Schuß auf den 17 Jahre alten Tankwartlehrling Ottfried Reck, der durch das Gitter eines S-Bahnschachts fliehen wollte; 60 Schuß auf den »Grenzverletzer« Hans Räwel, 20, der in der Nähe der Oberbaumbrücke ans West-Berliner Ufer schwimmen wollte (handschriftlicher Vermerk auf dem Bericht: »Gen.W.Ulbricht 2.1.63 EH"); 15 Schuß auf den Landwirt Walter Heyn, 25, nahe der Ost-Berliner Kleingartenanlage »Sorgenfrei« - Honecker nahm zur Kenntnis, zeichnete ab, gab in Umlauf.
Außergewöhnliche Ereignisse an der Grenze zogen immer neue Präzisierungen und Ausgestaltungen der Schießbefehle nach sich. Nachdem im April 1963 Soldaten der NVA mit einem Schützenpanzerwagen und einem Militärlaster die Sperren in Berlin durchbrochen hatten, herrschte bei den Schreibtischtätern blankes Entsetzen.
Verteidigungsminister Hoffmann wurde, so zeigt ein Bericht an Honecker, wegen mangelhafter »Auswertung« der Vorfälle gerügt. Hoffmann gab daraufhin Weisung, »alle Straßenzugänge zur Staatsgrenze zu überprüfen und die Sperren so zu bauen, daß Grenzdurchbrüche mit Fahrzeugen unmöglich sind«. Dann kümmerte er sich, mit einem neuen Schießbefehl, ums Detail: »Die Grenzposten sind so aufzustellen, daß sie von vorn auf beabsichtigte Grenzverletzer mit Fahrzeugen schießen können.«
Wegen der Vorfälle erhielt der Kommandeur der 1. Grenzbrigade, Oberst Tschitschke, einen Tadel. Derselbe Tschitschke war im August 1962 unbehelligt geblieben, als seine Soldaten den Flüchtling Peter Fechter angeschossen hatten und an der Mauer verbluten ließen. Tschitschke damals in seinem Bericht: »Die Handlungen der Grenzposten waren richtig, zweckmäßig und zielstrebig.« Der Oberst befahl, die beteiligten vier Posten mit einer Geldprämie zu belobigen.
Nie war den Ost-Berliner Sicherheitsneurotikern die Grenze dicht genug. Noch immer schafften es jedes Jahr Tausende, die Sperren zu überwinden. Auch NVA-Soldaten gingen zu Hunderten von der Fahne - über 2500 Angehörige der zeitweise bis zu 50 000 Mann starken Grenztruppe flohen vom Bau bis zur Öffnung der Mauer über die Grenze.
Über die Desertionswelle ließ sich Honecker stets detailliert unterrichten. Am 4. November 1965 etwa erreichte ihn eine SED-Hausmitteilung über einen Bericht der Welt, wonach in den ersten neun Monaten des Jahres deutlich mehr DDR-Soldaten, nämlich 122 gegenüber 94 im Vorjahr, nach Westen geflohen seien. Abteilungsleiter Borning mußte Honecker eine unangenehme Nachricht überbringen: »Wir halten es für notwendig, Dich davon zu informieren, daß die tatsächlichen Zahlen noch höher liegen - nämlich 143 (1965) zu 107 (1964).«
Die Soldaten der Grenztruppe, bis 1962 nur Freiwillige, danach auch Wehrpflichtige, mußten deshalb von den Vorgesetzten verstärkt überwacht werden. Unteroffiziere und Offiziere beobachteten die eigenen Posten argwöhnisch durchs Fernglas. Und die »Verwaltung 2000«, eine Sondereinheit der Stasi zur Kontrolle der Truppen, durchwirkte die Grenzregimenter mit einem dichtgeknüpften Spitzelnetz.
Nach der Wende berichtete zum Beispiel der Wehrpflichtige Michael Ackermann, er sei schon vor seiner Einberufung von der Stasi verpflichtet worden, die Kameraden in seiner Grenzkompanie auszuspähen. Er lieferte seine Berichte unter Tarnnamen einem Offizier der »Verwaltung 2000« ab, bis er selber, wegen eines angeblichen Dienstvergehens, vor dem Militärstaatsanwalt erscheinen mußte: Der Spitzel Ackermann war selbst bespitzelt worden.
Auch der Beginn der Entspannungspolitik, die für viele Ostdeutsche Reiseerleichterungen brachte, hielt die Ost-Berliner Politbürokraten keineswegs davon ab, die Maschen des Zauns um die eigene Bevölkerung immer enger zu knüpfen. Sie brachten es sogar fertig, den Vollzug ihrer Schießbefehle zu automatisieren: mit den Splitterminen SM-70, die als »Selbstschußanlagen« in die deutsche Nachkriegsgeschichte eingegangen sind.
Besonders ausgebildete Pioniereinheiten begannen 1971 entlang der Grenze, die neue Sperranlage 501 zu errichten - einen drei Meter hohen Streckmetallgitterzaun, an dem in drei verschiedenen Höhen die mit Auslösedrähten verbundenen Schußtrichter angebracht waren.
Honecker, seit mittlerweile 13 Jahren Herr über Zaun und Grenze und frischgebackener SED-Chef, spielte den Ahnungslosen. Die westdeutsche CDU, log Honecker im Oktober 1972 vor 4500 Mitgliedern der Freien Deutschen Jugend, empöre sich in »purer Heuchelei« über »sogenannte Todesmaschinen, die es gar nicht gibt«.
Doch ungeniert erkundigte sich der Verfasser des »sogenannten Schießbefehls« von 1961 und Installateur der »sogenannten Todesmaschinen« später beim Chef seiner Grenztruppen, Generalleutnant Fritz Peter, »wieviel Mittel für den weiteren pioniermäßigen Ausbau noch benötigt werden und ob es möglich sei, die sogenannten ,Todesminen'' zu überwinden«. Peter versprach, Mängel »an der Halterung der Minen« zu beseitigen, und errechnete, »1 km Ausbau der Staatsgrenze mit der neuen Splittermine SM-70 koste annähernd 100 000,- Mark«.
So verzeichnet es das Protokoll der Strausberger Schießbefehl-Konferenz des Nationalen Verteidigungsrates vom Mai 1974, auf der Honecker den »rücksichtslosen Gebrauch« der Schußwaffe »bei Grenzdurchbruchsversuchen« erneut angeordnet hatte.
Das Protokoll vermerkt »volle Zustimmung« der Teilnehmer - darunter der Berichterstatter und spätere Verteidigungsminister Keßler, die Genossen Stoph, Mielke, Streletz und Albrecht. Bis dahin waren an der innerdeutschen Grenze bereits 84, an der Berliner Mauer 83 Menschen zu Tode gekommen.
In der Endphase des Ausbaus lauerten rund 60 000 Stück SM-70 am Grenzzaun. Das perfide Schießgerät mußte bald selber, irrwitzige Folge der Aufrüstung am Todesstreifen, unter Einsatz scharfer Waffen bewacht werden.
Im Frühjahr 1976 montierte der frühere DDR-Bürger Michael Gartenschläger, 32, ein fanatischer SED-Gegner mit rechtsextremen Neigungen, zusammen mit einem Freund zwei Selbstschußanlagen an der Grenze beim schleswig-holsteinischen Büchen ab. Er präsentierte die Apparate dem SPIEGEL (16/1976) zur Untersuchung - sämtliche Details über die mörderische Funktionsweise der Mine wurden erstmals einer breiten Öffentlichkeit bekannt.
Trotz eindringlicher Warnungen versuchte Gartenschläger dann an der DDR-Grenze, fast an derselben Stelle, ein drittes Gerät zu entwenden - und wurde von wartenden Ost-Schützen eines offenbar vorab informierten Stasi-Kommandos regelrecht liquidiert. Dürre Tagesmeldung Nr. 121/76 der Grenztruppen ("Geheime Verschlußsache GVS-Tgb.-Nr. G 400 500"): _____« Am 30.04.1976, 23.45 Uhr, erfolgte im Abschnitt 2000 » _____« m Ortschaft Leisterförde Krs. Hagenow, Grenzsäule Nr. 231 » _____« die Festnahme einer männlichen Person unter Anwendung der » _____« Schußwaffe, in deren Folge die Person getötet wurde. »
Vier Wochen später knipsten Gartenschlägers Kumpane, diesmal in Niedersachsen, weitere drei SM-70 ab.
Wie ernst die Ost-Berliner Einheitssozialisten die Aktionen nahmen, zeigt sich in einem bisher unveröffentlichten Befehl an die Generale und Offiziere der Grenztruppen.
In der »Geheimen Verschlußsache, GVS-Nr.: G/400678« werden die Kommandeure am 4. Juni 1976 gewarnt: »Der Gegner führt offensichtlich einen Generalangriff auf die minengesicherte Staatsgrenze.« Als Antwort, so die Anweisung des Verteidigungsministers und des Chefs der Grenztruppen, müßten die »oberen Minenlinien« umgerüstet und »feindwärts der Sperranlage« verstärkt Kräfte eingesetzt werden. In Frage kämen dafür nur »politisch bewußte, physisch und psychisch starke Soldaten und Unteroffiziere«, die »im engen Zusammenwirken« mit der Stasi-»Verwaltung 2000« gewissenhaft auszuwählen seien.
Für diese Soldaten wurde gleich eine ganze Staffel von Schieß- und Exekutionsbefehlen angeordnet: *___Laut Befehl Nr. 32/76 müßten Voraussetzungen geschaffen ____werden, »daß die Provokateure im Ergebnis ihrer ____weiteren Angriffe auf die Grenzsicherungsanlagen ____vernichtet werden«. *___Die »Methoden« müßten »über die bisher praktizierten ____taktischen Handlungen hinausgehen«, insbesondere sei ____"findiges, listiges, überraschendes und entschlossenes ____Handeln zur Festnahme oder Vernichtung von ____Provokateuren und Diversanten« geboten. *___Vor allem komme es »darauf an, Provokateure beim ____Versuch des Anschlages auf Grenzsicherungsanlagen auf ____unserem Territorium unschädlich zu machen«.
Die Ost-Berliner Buchhalter baten allerdings um Verständnis, daß weder für die Verstärkung des Grenzzaunes mit Stacheldraht und Signalgeräten noch für zusätzliche Scheinwerferanlagen und Hundelaufbahnen Haushaltsmittel eingeplant seien. Weisung: »In Verantwortlichkeit der Kommandeure der Verbände und Truppenteile ist im hohen Maße die Eigenbeschaffung, unter Nutzung aller örtlichen Reserven, zu gewährleisten.«
Trotz Entspannungspolitik ließen Honecker, Hoffmann, Mielke und Genossen weiterschießen. Auf die veränderte Lage in Europa, nach deutschdeutschem Grundlagenvertrag und beginnenden Abrüstungsverhandlungen, reagierten sie zunächst nur mit Scheinkorrekturen an ihrem martialischen Grenzregime.
Die Truppen an der Westfront wurden zur Jahreswende 1972/73 aus der NVA herausgelöst, blieben aber als eigenständige Formation weiter dem Verteidigungsministerium unterstellt. Grund der vordergründigen Operation: Ost-Berlin wollte die rund 50 000 Grenzer bei den Wiener Verhandlungen über einen Truppenabbau in Mitteleuropa ausklammern.
Die Deutschen in Ost und West schienen sich an das Schießen mitten im Frieden gewöhnt zu haben. Selbst die Blätter des Springer-Verlags, die jeden Schuß an der Grenze genutzt hatten, um den Kalten Krieg weiter anzuheizen (Bild: »Kein Geld für die Mörder"), begnügten sich nun mit Routinemeldungen über Flüchtige im Todesstreifen.
Gerade das Geld war es, das schließlich zu einer ersten Lockerung des Grenzregimes führte. Nachdem Honecker seine in den Bankrott treibende Planwirtschaft mit Hilfe eines westdeutschen Milliarden-Kredits 1983 noch einmal über die Runden gebracht hatte, ordnete er den Abbau der Selbstschußanlagen an, die es ja angeblich ebensowenig gab wie einen Schießbefehl. Die Demontage sollte den Klassenfeind geneigt machen, weitere Milliarden zu spendieren.
Die Anlagen waren ohnehin fast überflüssig geworden: Der Druck auf die waffenstarrende Grenze hatte nachgelassen, neue, ins Hinterland gestaffelte Wachsysteme zeigten Wirkung. Honeckers Generale hatten jedoch Schwierigkeiten, die im Oktober 1983 befohlene Beseitigung der Mordapparate, besonders der noch vorhandenen Erdminen, termingerecht bis Ende 1984 abzuschließen - das Zeug richtete sich gegen die eigene Truppe.
»Die Räumung« der Sprengkörper sei »äußerst kompliziert«, klagte Verteidigungsminister Hoffmann bei Honecker sein Leid, »da diese teilweise von Hand aufgenommen werden müssen«. Von einem vollständigen Abbau der SM-70 »am vorderen Sperrelement« rate er ohnehin ab, solange nicht der neue »Grenzsignal- und Sperrzaun in der Tiefe des Schutzstreifens« errichtet sei.
Das alles komme obendrein sehr teuer, rechnete Hoffmann dem SED-Generalsekretär ("Geheime Verschlußsache GVS-Nr. A 455 178") vor. Außerplanmäßig müßten allein »im III. Quartal 1984« insgesamt 16 Millionen Mark bereitgestellt werden, ein Zehntel davon für »Plasterzeugnisse«, der Rest für »210 000 Quadratmeter verzinktes Streckmetall« und »215 000 Stück Betongitterplatten«. Handschriftlich gab der SED-Chef, trotzdem, sein »Einverstanden E.Honecker« zu Protokoll.
Seine Schießbefehle hatte er schon 1982 umfrisieren lassen - aus Gründen der internationalen Reputation. Ein Grenzgesetz, von der Volkskammer beschlossen, rechtfertigte den Gebrauch der Schußwaffe, unter anderem, um »Verbrechen« zu verhindern - dazu mußte in der DDR unter bestimmten Voraussetzungen auch Republikflucht gezählt werden.
Der Form nach ähnelte das neue Gesetz den einschlägigen westdeutschen Vorschriften »über den unmittelbaren Zwang bei Ausübung öffentlicher Gewalt durch Vollzugsbeamte des Bundes«. Darauf berief sich Honecker immer wieder und verstieg sich gar zu dem Vergleich, ähnlich wie früher an der Trennungslinie zwischen Nato und Warschauer Pakt werde auch an der Grenze zwischen den USA und Mexiko gehandelt.
Den Unterschied hat Honecker offenbar nie verstanden: Dort wollen die Menschen rein, bei ihm durften sie nicht raus.
Nach Verkündung des DDR-Grenzgesetzes im März 1982 wurden, bis zum Fall der Mauer, an der innerdeutschen Grenze weitere sechs Opfer gezählt, in Berlin neun. Dazu gehören vier Flüchtlinge, deren Tötung Honecker, Keßler, Mielke, Stoph, Streletz und Albrecht angestiftet haben sollen. Der Haftbefehl stützt sich, rechtlich problematisch, auf die alten Beschlüsse der Strausberger Schießbefehl-Konferenz von 1974.
Der Tod der jungen Männer - Silvio Proksch, 21, Michael Schmidt, 20, Michael Bittner, 25, und Chris Gueffroy, 20 - beweist nicht nur, wie gnadenlos die Grenzer bis zum Ende der DDR ihre Schießbefehle ausführten. Ihr Schicksal wirft auch Licht auf ein anderes dunkles Kapitel der DDR-Geschichte, an dem Honecker, Mielke und Genossen mitgeschrieben haben: Systematisch ließen sie die Hinterbliebenen der Opfer, die dem Staat ja als Verräter und Verbrecher galten, terrorisieren.
»Vier volle Tage« lang wurde Horst Schmidt, dessen Sohn Michael laut Grenzbericht am 1. Dezember 1984 in Berlin von Unteroffizier Udo Walter und Soldat Uwe Hapke bei einem Fluchtversuch erschossen wurde, von der Volkspolizei mit der Auskunft abgespeist, an der Mauer habe es keinen Todesfall gegeben, alles sei nur West-Propaganda.
Auf eine Vermißtenanzeige hin wurde Schmidt erst einmal beim Militärstaatsanwalt verhört. Dann eröffnete ein Herr von der Stasi, der sich »Cras« nannte, Michael Schmidt sei angeschossen worden, der Grenzsoldat habe »praktisch in Notwehr gehandelt«.
Fortan wurde Vater Schmidt schikaniert. »Jedem Gerücht« müsse er entgegentreten, befahl die Stasi, falls in den West-Medien Berichte erschienen, könne dem anderen »Sohn Roland das Studium unmöglich gemacht werden«.
Um alles unter dem Deckel zu halten, bot die Stasi sogar an, die Beerdigung zu organisieren. Nachdem die Familie empört abgelehnt hatte, erschien Stasi-Mann Cras »als Trauergast verkleidet« und in weiblicher Begleitung auf der Beisetzung. Schmidt erinnert sich: »Die Dame hatte sogar Tränen in den Augen.«
Unverzüglich nahm die Stasi die Arbeitsbrigade des toten Schmidt ins Visier, die vollzählig zur Beerdigung erschienen war. Die Arbeiter wurden, berichtet Schmidt, schon »auf der Rückfahrt von Stasi-Wagen bis in ihre Wohnungen verfolgt«. Tage später wurde der verantwortliche Brigadier gemaßregelt - der Auftritt der Kollegen an Schmidts Grab sei eine »Provokation« gewesen.
Irmgard Bittner, die Mutter des Grenzopfers Michael Bittner, erfuhr sogar erst nach der Wende, daß ihr vermißter Sohn am 24. November 1986 beim Versuch, die Mauer mit einer Leiter zu übersteigen, getötet worden war. Auch sie und ihr Mann wurden, nachdem sie Vermißtenanzeige erstattet hatten, erst mal stundenlang im Polizeipräsidium an der Keibelstraße verhört.
Ein unbekannter Toter an der Mauer, nach dem Irmgard Bittner angstvoll gefragt hatte, existiere nicht, erklärten die Staatsdiener, der Sohn sei wahrscheinlich in den Westen geflohen.
Dann erschienen bei Bittners die Ordnungshüter - zu einer Hausdurchsuchung. Briefe, Bilder, das Sparbuch von Michael Bittner wurden beschlagnahmt. Irmgard Bittner: »Seinen letzten Lohn, Abrechnung circa 500 Mark, mußte sein Arbeitgeber an das Ministerium des Innern abführen.«
Die Bittners wurden im ungewissen gelassen. »Nicht wissend, daß ich seinen Mörder um Hilfe bitten würde«, verfaßte Irmgard Bittner 1988 eine Eingabe an Honecker - ohne Ergebnis. Erst nach der Wende, im Januar 1990, wurde die Familie vom DDR-Justizministerium über den Tod des Sohnes informiert. Mutter Bittner: »Für Michael gibt es kein Grab und keinen Totenschein.«
Spurlos verschwunden ist auch die Leiche des Maueropfers Silvio Proksch. Der junge Mann war am ersten Weihnachtstag 1983 in Pankow erschossen worden. Die Angehörigen, berichtet Schwester Irene Agotz, wurden reihum von der Stasi verhört, nachdem sie eine Vermißtenanzeige abgegeben hatten. Irene Agotz: »Jedem von uns sagten sie das gleiche - es gibt keinen toten Silvio, es gab auch keine Grenzverletzung.«
Die Familie wurde angewiesen, Nachforschungen zu unterlassen. Das Konto von Silvio Proksch wurde von der Finanzabteilung des Berliner Magistrats mit der zynischen Begründung gelöscht: »Silvio Proksch am 24. Januar 1984 ungesetzlich verzogen.«
Bruder Gino Proksch protestierte schriftlich bei Honecker und teilte ihm mit, aufgrund der Vorfälle werde er nicht zur nächsten Wahl gehen. Die Antwort kam postwendend: Er wurde bei der Generalstaatsanwaltschaft vorgeladen, eine Vernehmerin drohte mit Anklage wegen staatsfeindlicher Hetze und log, Silvio Proksch habe die DDR verlassen und sei vielleicht schon in Kanada oder Australien.
Antwort von Gino Proksch: »Soll ich Ihnen mal sagen, auf welchem Wege Silvio die DDR verlassen hat? Durch den Schornstein des Krematoriums vom Baumschulenweg.«
Dort ließ die Stasi gelegentlich die Leichen von Opfern des Regimes verbrennen. Proksch-Schwester Helga Bathke: »Mein Bruder Silvio ist in keinem Friedhofsregister eingetragen worden, und es existiert auch keine Sterbeurkunde in der ehemaligen DDR.«
Nun fordern Angehörige wie Irmgard Bittner Gerechtigkeit: »Letztlich hoffe ich, daß Michaels Mörder - und die der anderen Opfer - zur Rechenschaft gezogen werden.« Doch damit tut sich die Justiz schwer.
Die Schreibtischtäter, so haben die bisherigen Ermittlungen gezeigt, sind mit dem waghalsigen Rechtskonstrukt der »Anstiftung zum Totschlag« kaum zu fassen und wegen Mordes, an dem sie nicht unmittelbar beteiligt waren, nicht zu belangen (SPIEGEL 22/1991). Die Schützen an der Grenze werden sich, sofern sie namentlich bekannt sind und es zu einer Anklage kommt, auf das von der Volkskammer verabschiedete Grenzgesetz und ansonsten auf einen Befehlsnotstand berufen.
Bundesjustizminister Klaus Kinkel (FDP) bezweifelt, daß mit Haftbefehlen gegen einzelne Verantwortliche »das gesamte Unrecht« zu erfassen sei. Und auch der Leitende Oberstaatsanwalt Christoph Schaefgen, Chef der Berliner Ermittlungsgruppe »Regierungskriminalität«, dämpfte vorletzte Woche die Erwartungen.
Für die strafrechtliche Bewältigung der Verbrechen an Mauer und Stacheldraht, so Schaefgen im Kölner Express, brauche die Justiz, angesichts des umfangreichen Aktenmaterials, noch »zwischen 10 und 20 Jahren«. Schaefgen: »Mit dem, was wir wissen, haben wir erst die Spitze des Unrechts sichtbar gemacht.«
Je klarer wird, daß die Strafgesetze nur bedingt zur Vergangenheitsbewältigung taugen, desto lauter wird der Ruf nach »gesellschaftlicher Aufarbeitung«. Ostdeutsche Bürgerrechtler, wie Wolfgang Templin von der Initiative für Frieden und Menschenrechte, forderten schon voriges Jahr ein eigenes Institut zur Erforschung der DDR-Vergangenheit, ähnlich dem Institut für Zeitgeschichte in München, das sich den Nazi-Untaten widmet.
Rechtspolitiker wie der Bremer Justizsenator Volker Kröning (SPD) unterstützen solche Ideen. Er schlug Anfang des Monats zudem vor, »ein Tribunal abzuhalten, das sich nicht an der individuellen Strafbarkeit der ehemaligen Partei- und Staatsrepräsentanten der DDR orientiert«. Ein solches Gremium, besetzt mit Juristen, Historikern, Angehörigen der Bürgerrechtsbewegung und Vertretern des politisch-kulturellen Lebens in Ost und West, müsse prüfen, ob die DDR-Führer »vorsätzlich Verbrechen gegen die Menschlichkeit begingen« in einem Staat, »in dem das Unrecht im Gewande staatlich gesetzten Rechts daherkam«.
Der Vorschlag von Generalbundesanwalt Alexander von Stahl, die Ermittlungen wegen der SED-Untaten wenigstens wie bei der Ludwigsburger Zentralstelle für Kriegs- und NS-Verbrechen in einer einzigen Behörde zusammenzufassen, ist Anfang des Monats bei der Justizministerkonferenz gescheitert: Einige alte Bundesländer beharrten, aus angeblicher Sorge ums föderative System, auf ihren Kompetenzen; einige neue Bundesländer wollen die Verfahren nicht abgeben und gegen die Täter nach dem Tatortprinzip selber ermitteln.
Die ernüchternde Bilanz könnte sein: Die Kleinen hängt man nicht, und die Großen läßt man auch laufen.
Gemeinsam schützten sie, unter den wachen Augen des SED-Generalsekretärs Erich Honecker, ihre Staatsgrenze West zu Tode.
Einen ungewohnten Rapport, es war wohl der letzte, legte General Keßler seinem obersten Chef Anfang Oktober 1989 auf den Tisch: Die Zahl der »ungesetzlichen Grenzübertritte« war von 226 im August auf 1154 im September gewaltig angestiegen - im Osten und Südosten, an der Grenze zu Polen und zur Tschechoslowakei.
Das Dokument trägt den handschriftlichen Vermerk: »An die Mitgl. und Kand. des PB EH 4.10.89«. *HINWEIS: Im nächsten Heft Tatbekenntnisse der Todesschützen - Die Tagesmeldungen der Grenztruppen - Anklage gegen Soldaten und Unteroffiziere
** Werner Filmer/Heribert Schwan: »Die Opfer der Mauer - Protokolledes Todes«. C. Bertelsmann Verlag, München; 320 Seiten; 39,80 Mark.* Bei den Feiern zum 40. Gründungstag der DDR am 7. Oktober 1989.