»Wir müssen das Auto verbannen«
Die Frauen in Zürich bereiten sich sorgfältig auf den Tag vor, an dem sie fünf, vielleicht auch zehn Kinder mitten auf die Haldenstraße legen werden. Es wird am frühen Nachmittag geschehen, wenn Autos und Lastwagen in besonders dichter Folge die schmale Fahrbahn herunterrasen.
Es wird die härteste Aktion im Kampf gegen den Autoverkehr, die Katrin Hürzeler, Carmen Wegmann und Vreni Nufer je in ihrer Straße geplant haben. Sanfter Protest mit Schokolade und Flugblättern, die sie an Autofahrer verteilten, hat wenig geholfen. Nun sollen Autofahrer, die nicht schnell genug bremsen können, über die kleinen Körper rollen.
Puppen sind es natürlich, sorgsam aus Zeitungspapier geformt. Doch der Schock des vermeintlichen Unfalls bringt vielleicht manchen Autofahrer zur Besinnung.
Es ist eine neue Variante, die sich die Züricher Frauen für ihren Straßenkampf erdacht haben. Sie wird vielleicht bald kopiert, denn in den Großstädten _(* In Hamburg. ) überall auf der Welt wächst der Unmut über die Flut der Autos, die viele Citys nahezu unbewohnbar macht.
Häufig geht es phantasievoll zu. In Frankfurt malen Anwohner einen Zebrastreifen auf die Friedberger Landstraße, um sie gefahrlos überqueren zu können. In Bern sind die Städter radikaler: Sie spannen Eisenketten über die Fahrbahn. In München werfen Anwohner Blumentöpfe auf Autos, die nachts durch ihre Straße rasen.
Es sind Notwehr-Aktionen der Städter gegen den Stadtverkehr, gegen den Lärm und die Gefahr, gegen den Dreck und den Gestank. Die Bürger weigern sich, den Autoverkehr in ihrem Viertel als etwas Gottgegebenes hinzunehmen oder in die Vororte zu fliehen. Sie wollen in der Stadt leben, aber in einer, in der es sich leben läßt.
Die Grenzen der Belastbarkeit sind in den Städten längst überschritten, die Autokolonnen machen urbanes Leben praktisch unmöglich. Jeden Tag die gleichen Bilder, in Frankfurt und Berlin, in Rom und Stockholm, in Los Angeles und Singapur: Zehntausende, meist mehrere hunderttausend Autos rollen morgens auf die Metropolen zu. Jeden Tag kilometerlange Staus, weil die Straßen der Städte, auch wenn sie sechs oder acht Spuren haben, den Automassen zuwenig Platz bieten.
Jahrzehntelang haben die Städte dem Fetisch Auto alles geopfert. Sie haben Bäume abgeholzt, Vorgärten planiert, Schneisen durch Wohnquartiere geschlagen; sie haben Grünzonen in Abstellflächen für Autos verwandelt und Parkhäuser mitten in historische Altstädte gesetzt.
»Was die Straßenbauer in den Städten anrichteten, war vielfach ein Akt von Vandalismus«, meinen die Stadtplaner Heiner und Rita Monheim. Sie fordern in einer umfangreichen Studie »Straßen für alle"** - und das heißt vor allem für die Menschen.
Bei aller Brutalität, mit der die Städteplaner in der Regel vorgingen, konnten sie doch meistens ihr vorgegebenes Ziel nicht erreichen: dem ständig steigenden Autoverkehr ausreichend Platz zu schaffen. In der Bundesrepublik stieg die Zahl der zugelassenen Fahrzeuge in den letzten 30 Jahren von 8 auf 36 Millionen. Mit dem Tempo der Automobilhersteller konnten die Straßenbauer einfach nicht mithalten.
65 Stunden des Jahres verbringen deutsche Autofahrer durchschnittlich vor roten Ampeln und im städtischen Stau. Selbst wenn sie vorwärts kommen, bringt sie das oft nicht weiter.
Stuttgarts Oberbürgermeister Manfred Rommel beobachtet immer häufiger einen merkwürdigen Verkehr: »Die einen fahren in die Stadt und suchen einen ** Heiner Monheim, Rita Monheim-Dandorfer: _("Straßen für alle«. Rasch und Röhring ) _(Verlag, Hamburg; 532 Seiten; 68 Mark. * ) _(Lärmschutz in Essen. ) Parkplatz, und andere kommen ihnen entgegen, die keinen gefunden haben. So treffen sich die Menschen. Das nennt man Stadtbelebung.«
Rommels Münchner Kollege Georg Kronawitter weiß, wohin diese Entwicklung führt: »Die großen Städte in der Bundesrepublik stehen praktisch alle am Rande des großen Verkehrskollapses.«
Mit zusätzlichen Straßen, mit weiteren Parkplätzen läßt sich das Verkehrschaos in Frankfurt und Düsseldorf, in Stuttgart und Köln, in Hamburg und München nicht mehr verhindern. Kronawitter: »Wer die Dominanz des Autos in der Stadt weiter ausbauen will, zerstört unsere Stadt.«
So sind manche Kommunalpolitiker und Verkehrsplaner längst am Ende aller Denkmodelle angelangt. Die letzte Schlußfolgerung heißt: Die Autos müssen raus aus den Innenstädten.
Autos raus - das ist mehr ein Hilferuf als eine Drohung. Gefordert werden Schranken für den Autoverkehr inzwischen nicht nur von grünen Überzeugungstätern, die sich nur zu Fuß oder per Fahrrad vorwärts bewegen, sondern von Politikern aller Parteien.
Autos raus - darunter versteht allerdings jeder etwas anderes. Mal sollen die Wohnquartiere vor dem Durchgangs- und Schleichverkehr geschützt werden, mal sollen ein paar Straßen im Zentrum gesperrt, mal soll die gesamte Innenstadt abgeriegelt werden.
Gemeinsam ist all diesen Ansätzen: So wie bisher geht es nicht weiter. Das Ideal der Sechziger, die autogerechte Stadt, ist freigegeben für die Satire.
Die Städte müßten nur ihre Straßen doppelt so breit machen, spottet der Düsseldorfer Stadtplaner Hans-Joachim Meyer, dann könnte jeder mit seinem Auto in die Innenstadt fahren - »bloß, dann gibt es keine Innenstadt mehr.«
Doch wie soll die Stadt aussehen, aus der die Menschen nicht mehr fliehen müssen, weil der Verkehr unerträglich ist? Wie sollen die Menschen ohne Auto zu den Arbeitsplätzen und Geschäften, zu den Kinos und Theatern kommen?
Volvo-Chef Pehr Gyllenhammar hat schon vor Jahren gefordert: »Wir müssen das Auto aus den Städten verbannen.« Gleichzeitig müsse ein System von Bussen und Bahnen errichtet werden, mit dem die Menschen nicht nur umweltfreundlich, sondern vor allem schnell und bequem zu ihren Zielen gebracht werden.
Das klingt so einleuchtend wie einfach. Es ist in Wahrheit aber eine Aufgabe, die von Kommunalpolitikern mehr Stehvermögen erfordert, als vorhanden ist. Sie müssen schließlich eine Freiheit einschränken, die im Bewußtsein vieler geradezu den Rang eines Grundrechts genießt: die Freiheit, mit dem Auto jederzeit an jeden Ort fahren zu können.
Belastet bis an die Grenzen würden zudem die Finanzen der Städte. Es sind Milliarden-Investitionen nötig, um ein so dichtes Netz von Bus- und Bahnverbindungen aufzubauen, daß die Autofahrer tatsächlich ohne großen Zeitverlust umsteigen können.
Der Aufbau eines solchen Verkehrssystems, schätzt Automanager Gyllenhammar, ist »eine Jahrhundertaufgabe«. Die Städte haben sich schließlich jahrzehntelang mit Vorsatz abhängig gemacht vom Automobil. Die Entziehungskur kann nicht ruck, zuck in ein, zwei Jahren gelingen.
Im Deutschland der Nachkriegszeit beispielsweise waren Straßenbahnen und Busse die wichtigsten Verkehrsmittel in den Städten. Die Haltestellen hatten kurze Abstände, waren zu Fuß gut erreichbar, und die Bahnen fuhren in dichter Folge.
So schnell, wie die Wirtschaftskraft der Nation wuchs, so schnell wurde aber auch das Automobil zu dem Verkehrsmittel. Das Auto kennt keinen Fahrplan und keine Umsteigebahnhöfe. Zudem symbolisierte es stets auch Wachstum und Wohlstand - und beides galt es nach Kräften zu fördern.
Das Leitbild fast aller Politiker beschrieb der damalige Verkehrsexperte der SPD, Helmut Schmidt, im Jahre 1965: »Jeder Deutsche soll den Anspruch haben, sich einen eigenen Wagen zu kaufen. Deshalb wollen wir ihm die Straßen dafür bauen.«
Und wie sie bauten. Seit 1960 wurden 83 000 Kilometer neue Gemeindestraßen asphaltiert. Bund und Länder gaben Investitionshilfen, damit die Hauptverkehrsstraßen in den Städten ausgebaut werden konnten.
Über 200 Milliarden Mark warfen Städte und Gemeinden zwischen 1960 und 1983 für ihren Straßenbau aus. Nur knapp ein Zehntel dieses Betrags hatten sie für ihren öffentlichen Nahverkehr übrig.
Busse und Bahnen erschienen vielen wie ein Relikt der alten Zeit. Sie nahmen nur Platz auf den Straßen weg, der dringend für den ständig steigenden Autoverkehr benötigt wurde.
Die »schienenfreie Innenstadt« galt in Frankfurt und in vielen anderen Städten schnell als neues Ideal der Verkehrspolitik. Linie für Linie wurde gekappt, die freiwerdenden Flächen in neue Spuren für den Autoverkehr verwandelt. Wer kein Auto besitzt, muß sich seitdem in den meisten Städten auf der Ebene der Maulwürfe bewegen: unterirdisch.
Mit dem Aufbau des U-Bahn-Systems wurden die Probleme des öffentlichen _(* Ein Bus transportiert 60 Autofahrer. ) Verkehrs nur größer. Ein Kilometer Schienen für die Straßenbahn kostet zwei bis fünf Millionen Mark, eine gleich lange Tunnelstrecke 150 bis 200 Millionen Mark.
Die Städte bekommen zwar hohe Zuschüsse aus Bonn für den Aufbau ihrer U-Bahnen. Ein so dichtes Verkehrsnetz, wie es einmal die Straßenbahnen boten, können sie unter der Erde aber dennoch nie knüpfen. So wurde die Entfernung zur nächsten Haltestelle für die meisten Menschen immer größer; der Anreiz, mit dem Auto zu fahren, ebenfalls.
Oft laufen U-Bahn oder S-Bahn parallel zu den Straßen. Viele Autofahrer scheren sich nicht darum - sie stehen auf den Straßen im Stau, unten oder nebenan rollen leere Züge.
Der Untergrund scheint vielen Stadtplanern auch für Fußgänger und Radfahrer der geeignete Aufenthaltsort: Damit die Autos in ihrer Fahrt nicht unnötig oft an Ampeln gebremst werden, bauten sie eifrig Unterführungen.
Wer eine Straße überqueren will, muß durch gekachelte Tunnel, in denen flackerndes Neonlicht und Uringestank ein wenig von der Wertschätzung vermitteln, die Fußgänger und Radfahrer in der Verkehrspolitik genießen.
Die Vorfahrt, die dem Straßenverkehr überall eingeräumt wird, und die Massenmotorisierung allein können allerdings den gewaltig gestiegenen Autoverkehr in den Städten nicht erklären. Eine wesentliche Ursache ist die Stadtflucht.
In den meisten Großstädten sinkt die Einwohnerzahl seit 20 Jahren beträchtlich. In Hamburg von 1,8 auf 1,6 Millionen, in Düsseldorf von 638 000 auf 574 000, in München von 1,3 auf 1,2 Millionen, in Stuttgart von 621 000 auf 571 000.
Raus ins Grüne - so heißt das Motto Hunderttausender in den Städten. Manche können die Mieten nicht mehr zahlen, andere wollen ein Häuschen mit Garten. Viele fliehen aber auch einfach nur vor dem unerträglich gewordenen Lärm und Gestank des Autoverkehrs.
Die meisten von denen, die in den Vororten wohnen, arbeiten nach wie vor in den Städten. Morgens fahren sie dann mit dem Auto rein, abends wieder raus; sie sorgen so, bis sie ihre ruhig gelegene Wohnung wieder erreicht haben, für neuen Lärm und Gestank.
In Frankfurt stieg die Zahl der Pendler in den letzten 20 Jahren von 200 000 auf rund 283 000. Fast 190 000 von ihnen legen den Weg zum Arbeitsplatz in der Bankenmetropole mit dem Auto zurück.
Die Frankfurter, die längs des Alleenrings wohnen, können einen guten Teil dieser Pendler vom Wohnzimmer aus sehen und hören. Nach einer Verkehrszählung passieren innerhalb von 24 Stunden 70 000 Fahrzeuge die Adickesallee.
70 000 Autos: Das entspricht einer Schlange, die von Frankfurt bis fast nach Hannover reicht. Die Verbrennungsmotoren und das Abriebgeräusch der Reifen sorgen für einen Lärmpegel von 77 bis 80 Dezibel.
Von 65 Dezibel an drohen erhöhte Gesundheitsgefahren, Herz-Kreislauf-Erkrankungen beispielsweise. Wie die Anwohner an Frankfurts Alleenring sind nach Schätzungen des Umweltbundesamts insgesamt 15 Prozent aller Stadtbewohner Lärmbelastungen durch den Straßenverkehr ausgesetzt, die oberhalb dieser Grenze liegen.
Spurenwerte von Blei im Blut beeinflussen die Blutbildung. Stickoxide können bei Dauerbelastung zu chronischen Schäden der Atemorgane führen. Kohlenmonoxid verringert die Sauerstoffaufnahme im Blut, führt in hohen Konzentrationen zu Kopfschmerzen, Schwindel und Übelkeit. Benzol kann Leukämie hervorrufen.
Die Stadtregenten kennen das alles. Sie wissen, daß spielende Kinder und Radfahrer durch Raser in Wohngebieten gefährdet werden. Sie wissen, daß der massive Ausstoß an Autoabgasen die Menschen krank macht und Bauten oder Denkmäler schädigt.
Die meisten Kommunalpolitiker reden zwar ständig über die Lebensqualität ihrer Bürger, doch sie tun nichts dafür. Sie wissen zwar, wieviel Millimeter Niederschlag den Bewohnern im Jahr drohen. Sie wissen aber nicht, wieviel Schadstoffe die Anrainer einzelner Straßen einatmen müssen.
Die Luftmeßstationen der Städte, errichtet nach der Technischen Anleitung (TA) Luft, ermitteln nur Durchschnittswerte für weite Gebiete. Sie müssen einen Mindestabstand von den Straßen wahren, und sie messen die Luft in über vier Metern Höhe.
Niemand hindert die Städte, zusätzliche Meßstationen einzurichten. Aber erst in jüngster Zeit, vor allem, nachdem die EG-Behörde die Kommunalpolitiker dazu aufgefordert hat, stellen sie Meßstationen entlang der innerstädtischen Verkehrswege auf.
Stresemannstraße in Hamburg: Auf dem Parkstreifen steht ein grauer Bauwagen. Die erste Luftmeßstation der Hansestadt direkt an einer Straße ist erkennbar ein Provisorium. Zwei Plastikrohre ragen aus dem Wagen. Sie sind zusammengesetzt aus mehreren Teilen, auf denen noch die Preisschilder des Baumarkts kleben.
Durch die Rohre wird jene Luft eingesaugt, die Meßgeräte im Wagen automatisch analysieren. Die Ergebnisse zeigen auf das Mikrogramm genau, wie ungesund das Leben in dieser Straße ist.
In 1,5 Metern Höhe werden in einem Monat durchschnittlich 278 Mikrogramm Stickstoffdioxid pro Kubikmeter Luft gemessen. Bei 200 Mikrogramm liegt bereits der Grenzwert, den die Europäische Gemeinschaft noch für zulässig hält.
Ähnlich schlimme Ergebnisse werden in anderen Städten registriert, wenn mal in Straßennähe gemessen wird. Für 1989 lag der Wert am Neumarkt in Köln bei 245 und an der Großen Eschenheimer Straße in Frankfurt bei 253 Mikrogramm.
Bei Benzol, das Krebs erzeugen kann, sind schon geringste Konzentrationen gefährlich. Diskutiert werden derzeit Grenzwerte von zehn Mikrogramm. An Hauptverkehrsstraßen werden nach Angaben des Umweltbundesamts aber 20 bis 30 Milligramm erreicht, »örtlich und zeitlich begrenzt auch Spitzenwerte« - bis über 100 Mikrogramm.
Der Lärm und die Abgase sollten für die Kommunalpolitiker Grund genug sein, den Autoverkehr in den Städten zurückzudrängen. Zum Handeln gezwungen werden die Politiker, früher oder später, durch ein ganz anderes Problem: Soviel Platz, wie der ständig wachsende Automobilverkehr benötigt, kann ihm keine Stadt zur Verfügung stellen.
Die urbanen Zentren, meist vor Jahrhunderten angelegt, bieten nur eine begrenzte Fläche. Die Straßen können kaum noch verbreitert, die Parkplätze kaum noch vermehrt werden.
In München sind 600 000 Pkw zugelassen. Für jedes Fahrzeug stehen in der Stadt, rein rechnerisch, noch nicht einmal vier Meter Straße zur Verfügung. Wenn alle fahren wollen, kann keiner mehr fahren.
Selbst Automobilmanager erkennen langsam, daß die Grenzen des Verkehrs in den Städten erreicht sind. Renault-Chef Raymond Levy klagte auf der letzten Internationalen Automobil-Ausstellung in Frankfurt, die Durchschnittsgeschwindigkeit in London betrage gerade noch 20 Stundenkilometer, in Paris 15 und 7 in Athen. »Viel langsamer«, so der Automanager, »ist man zu Fuß auch nicht.«
VW-Vorstand Daniel Goeudevert warnt seit längerem davor, daß das Auto, massenhaft verbreitet, sich selbst behindert: »Das Fahrzeug wird zum Stehzeug.«
Ehe die Kunden den Spaß am Auto verlieren, wollen deshalb Hersteller wie Daimler-Benz, BMW und VW herauszufinden versuchen, wie der endgültige Zusammenbruch des Verkehrs zu vermeiden ist. Der geplagte Großstädter wird von diesen Bemühungen nicht viel profitieren: Der Versuch ist im Ansatz falsch.
Die Autohersteller gehen nämlich davon aus, daß die Autofahrer die vorhandenen Straßen noch nicht optimal nutzen. Würde der Verkehr nur richtig gesteuert, könnte er besser fließen.
Dieser Ansatz kann auf Dauer nur dazu führen, das vorhandene Chaos in ein noch größeres zu verwandeln. Eine Computersteuerung, die alle Verkehrsströme analysiert und alle Ampeln schaltet, kann zwar die Fahrer in die letzten Lücken dirigieren. Aber eine perfekte Steuerung wirkt nur wie eine weitere Fahrspur. Sie läßt den Verkehr für kurze Zeit besser fließen, zieht dann so viel zusätzliche Wagen an, daß bald wieder alles steht. Dann sorgen noch mehr Autos für Dreck und Lärm.
Hans-Georg Retzko, Professor für Verkehrsplanung und Verkehrstechnik an der TH Darmstadt, hat wenig übrig für diese Versuche. Wer sich von neuen Leitsystemen die Lösung erhoffe, sei »entweder gutgläubig oder wenig sachkundig, oder er drückt sich um verkehrspolitische Grundsatzentscheidungen herum«. Oder er will einfach nur noch mehr Autos verkaufen.
So bleibt die Aufgabe letztlich doch an den Stadtvätern hängen. Sie müssen die Flut der Autos in ihren Citys eindämmen. Aber wie?
Bürgermeister und Verkehrsplaner aus ganz Europa fahren, wenn sie in ihren Städten wirklich eine neue Ära einleiten wollen, als erstes nach Zürich. Diese Stadt gilt als Beispiel für eine einzigartig gelungene Verkehrspolitik, als Beleg: Es geht auch anders, Städte müssen sich dem Autoverkehr nicht hilflos ausliefern.
Präsentiert wird die Züricher Verkehrspolitik auswärtigen Besuchern meist von drei Personen: von Ruedi Aeschbacher, dem obersten Verkehrsberuhiger; von Hans Peter Oehrli, einem Verkehrs-Polizeichef mit klammheimlicher Freude am Stau, und von Ernst Joos, dem Vizedirektor der Verkehrsbetriebe, der mit seinen Straßenbahnen »das Auto zum Zweitwagen« machen will.
Ferrari-Besitzer Aeschbacher kann herzlich lachen, wenn er von dem Aeschbacher erzählt, der vor 13 Jahren Vorsteher des Bauamts wurde. Ganz stolz war er damals auf den Parkplatz direkt vor der Behörde, »schön breit, so daß mein Ferrari auch Platz hatte«.
Kaum im Amt, begann jedoch jene wundersame Wandlung des Ruedi Aeschbacher, die aus dem Autonarren einen hartnäckigen Kämpfer wider den Autoverkehr machte.
Der Bauamtschef mußte sich immer häufiger mit Protesten von Anwohnern beschäftigen, die sich bei ihm über die unerträgliche Situation in ihrer Straße beklagten. Aeschbacher sah sich die Situation so oft vor Ort an, daß er gar nicht umhin konnte, schließlich seine Meinung zu ändern. Eine Straße wirkt nun mal anders, wenn sie vom Bürgersteig aus und nicht durch die Windschutzscheibe betrachtet wird.
Aeschbacher ließ »mal an dieser, mal an jener Straße herumbasteln«, die Fahrbahn verengen, Tempo 30 einführen. Der einzige Effekt: Bald erschienen die Anwohner der Nebenstraßen protestierend im Amt. Der Verkehr hatte sich nur verlagert. So kam Aeschbacher »vom Kleinen auf''s Große«.
Das Große: Zürich. Die Stadt drohte an ihrem Verkehr zu ersticken. Wer es sich leisten konnte, floh. Zürich verlor seit 1962 ein Fünftel seiner Einwohner. Gleichzeitig stieg die Zahl der Arbeitsplätze in der Stadt. Der Pendlerstrom wuchs dadurch gewaltig an.
Aeschbacher führt seinen Kampf gegen den Autoverkehr seitdem mit einer Doppelstrategie. Bussen und Bahnen verschafft er freie Fahrt, den Autos legt er immer neue Hindernisse in den Weg - freiwillig, das weiß er längst, wird niemand auf seinen Wagen verzichten.
Für die Züricher Baubehörde gilt deshalb ein Grundsatz Aeschbachers, den kein deutscher Stadtrat öffentlich zu formulieren wagte: Alles sei richtig, was die Benutzung des Autos in der Stadt unattraktiver macht.
Aus drei Spuren für den Autoverkehr wurden in Zürich seitdem häufig zwei, und aus zweien schon mal eine. Busse bekamen im Gegenzug 16 Kilometer eigene Fahrbahnen. Und ein sehr altes Transportmittel wurde in das moderne Verkehrssystem für die Stadt verwandelt: die Zürcher Straßenbahn.
Ernst Joos, Vizechef der Verkehrsbetriebe, macht mit Besuchern gern den Minutentest: am Parade-Platz beispielsweise, an dem die Linie 7 laut Fahrplan um 13.06 Uhr ankommen müßte. Als die Uhr auf 13.06 springt, fürchtet Joos schon den Vorführeffekt. Doch dann rollt die blaue Tram heran und hält, noch bevor die 13.07 auf der Uhr erscheint.
Auch an anderen Haltestellen, zu anderen Zeiten fahren die Straßenbahnen mit einer fast unglaublichen Pünktlichkeit. 16 Verkehrscomputer und 2000 Detektoren sorgen für die Verläßlichkeit. Die feine Technologie kann Besucher Zürichs schon ein wenig erschrecken.
In der Bahnhofstraße beispielsweise fährt die Straßenbahn munter auf die Kreuzung Urania-Straße zu. Autos, deren Ampel grün zeigt, kreuzen in dichter Folge. Der weiße Querstrich auf dem Signal fordert die Tram von weitem zum Halten auf, doch der Fahrer beschleunigt noch.
300 Meter vor der Kreuzung hat seine Bahn eine Kontaktschleife überfahren. Der Computer der Leitstelle errechnete, wann Linie 7 die Kreuzung erreicht. 100 Meter vor der Ampel ist eine zweite Kontaktschleife. Der Computer konnte seine Berechnung überprüfen, er schaltet die Ampel so, daß die Bahn durchfahren kann ohne abzubremsen.
Polizeichef Hans Peter Oehrli hat das System entwickelt und damit brutal gegen hergebrachte Grundsätze verstoßen: Nicht der fließende Autoverkehr ist sein Ziel, sondern die Vorfahrt für Busse und Bahnen. Autos sind in Oehrlis Verkehrswelt Nebensache.
Seine Kollegen in deutschen Städten halten die grüne Welle noch immer für eine große Errungenschaft. Dabei behindert der fließende Autoverkehr konsequent die Fahrt von Bussen und Bahnen. Beide müssen an Haltestellen stoppen, können nicht in gleichmäßigem Tempo bis zur nächsten Kreuzung fahren. Sie haben meist eine rote Welle.
Den Stau, den Polizeichefs üblicherweise als ihren ärgsten Feind ansehen, betrachtet Oehrli geradezu als Mittel der Verkehrspolitik: »Wir müssen den Verkehr so mühsam machen, daß keiner zusätzlich auf die Idee kommt, mit dem Auto zu fahren, und daß, im Gegenteil, einige vielleicht lieber Tram fahren.«
Die blauen, ein wenig altmodisch wirkenden Straßenbahnen Zürichs sind den modernen, schnörkellos glatten U-Bahnen anderer Städte weit überlegen. Keine U-Bahn kann in einem so dichten Netz mit so vielen Haltestellen die ganze Stadt erschließen. Keine U-Bahn bietet dem Fahrgast das Prestige der Züricher Tram.
Wer in der Züri-Linie fährt, setzt sich nicht dem Verdacht aus, ihm fehle das nötige Geld für ein Auto. In den Bahnen sitzen, ganz selbstverständlich, die grauen Zweireiher mit dem Aktenköfferchen: Bankiers, Politiker, Manager.
An den meisten Haltestellen stehen Lautsprecher, über die Fahrgäste sofort informiert werden, wenn eine Bahn ausnahmsweise mal verspätet ist. Auch das ist für Joos selbstverständlich: »Wir sind doch kein Kies-Transport-Unternehmen.«
Der Erfolg des Züricher Modells ist nachweisbar. Jeder Einwohner fährt im Jahr durchschnittlich 470mal mit öffentlichen Verkehrsmitteln. In Frankfurt und Düsseldorf, Köln und Stuttgart liegt diese Ziffer nicht mal halb so hoch.
Die Zustimmung der Bürger zur Verkehrspolitik ist meßbar. Den Stadtrat Aeschbacher haben die Züricher schon dreimal wiedergewählt.
Die Wirtschaftskraft der Stadt hat unter der Einschränkung des Autoverkehrs nicht gelitten. Im Gegenteil. Daß Konzerne wie ABB ihren Hauptsitz in Zürich errichtet haben, will Aeschbacher als einen Erfolg seiner Politik gewürdigt wissen: »Spitzenmanager wollen nicht in einer Betonwüste arbeiten.«
Das Modell Zürich hat nichts Geniales. Es ist nur eine Ansammlung vieler kleiner Veränderungen, die so oder ähnlich jede Stadt verwirklichen könnte.
Die Bus-Spur ist keine Erfindung des Herrn Aeschbacher. In den meisten Städten wurden schon Straßen in Fußgängerzonen verwandelt. Und ein Leitsystem für die Straßenbahnen kann die Stadt kaufen oder von deutschen Computerexperten entwickeln lassen.
In kaum einer deutschen Stadt jedoch hatten die Politiker bislang den Mut, den Autoverkehr wirklich konsequent zurückzudrängen. Allenfalls beruhigen sie mal wie in Hamburg die Wohnquartiere mit Tempo-30-Zonen. Doch das Langsamfahrgebot verlagert den Verkehr nur auf die Hauptstraßen, an denen ebenfalls Hunderttausende wohnen.
Vor nichts scheinen Politiker mehr Angst zu haben, als vor dem Zorn der Autofahrer und den Klagen der Geschäftsleute. Die einen pochen auf freie Fahrt als freie Bürger, die anderen sagen den Untergang ihres Gewerbes voraus, falls einige Straßen gesperrt und Parkplätze abgebaut werden.
Dabei ist längst erwiesen, daß die Einnahmen der Kaufläden nicht von den Parkplätzen abhängig sind. Dieter Apel und Michael Lehmbrock vom Deutschen Institut für Urbanistik kamen in einer Untersuchung für 30 westdeutsche Städte zu dem Ergebnis: »Ein größeres Parkplatzangebot für Kunden und Besucher ist nicht mit einem höheren Umsatz im Einzelhandel verbunden. Es deutet sich eher eine umgekehrte Tendenz an. Einige Städte mit überdurchschnittlicher Umsatzziffer haben ein relativ geringes Parkplatzangebot.« Dort nämlich läßt sich ohne die stete Lärmkulisse der Kraftfahrzeuge an den Schaufenstern entlangflanieren.
An absurdes Theater erinnert angesichts dieser Erkenntnisse das Geschrei, das stets anhebt, wenn eine Stadt ein paar Parkplätze streicht und ein paar Straßen sperrt. Hamburgs Umweltsenator Jörg Kuhbier etwa muß sich vorwerfen lassen, er träume »wie ein Dorfbürgermeister in der Lüneburger Heide von einer autofreien Stadt« (Welt am Sonntag).
Immerhin: Zur Weihnachtszeit im vergangenen Jahr wurde in einigen Straßen der Hamburger Innenstadt privater Autoverkehr verboten. Kaum war das Fest vorüber, wurden die Straßen wieder freigegeben.
Wie verzagt und ängstlich Politiker in Sachen Verkehrsberuhigung vorgehen, wird seit einiger Zeit auch den Frankfurter Bürgern vorgeführt. Dort hatte vor knapp zwei Jahren eine rotgrüne Koalition die Regierung übernommen. Viele Bewohner hofften, nun würde ihr Frankfurt mit weniger Autos wieder liebenswerter.
Die Zwischenbilanz nach zwei Jahren Rot-Grün ist trostlos: Parkplaketten für Anwohner, die Pendlern das Parken in Wohnquartieren verleiden sollen; ein paar Meter Bus-Spur; und schließlich jene Verkehrsberuhigung an der Großen Eschenheimer Straße, die mehr nach Kabarett als nach verantwortlicher Politik aussieht.
An dieser dreispurigen Innenstadtstraße mußte dem Autoverkehr eine Fahrbahn gesperrt werden. Der Kaufhof wollte seine Filiale aufstocken, und der Kran hatte nur auf der Straße Platz. Nachdem es während der Bauarbeiten nicht zu schlimmen Staus gekommen war, beschlossen die Politiker ganz mutig, diese Spur auch nach Abzug des Krans für den Autoverkehr zu sperren.
Umweltdezernent Tom Koenigs (Die Grünen) und Planungsdezernent Martin Wentz (SPD) baten Lokalreporter vor Ort, um das historische Ereignis zu präsentieren. Einige Blumenkübel sperren die rechte Fahrspur auf einer Länge von rund 100 Metern. Dahinter können die Autos wieder weiterfahren wie gewohnt: auf drei Spuren.
Immerhin sind manche Stadtväter inzwischen dabei, wenigstens den öffentlichen Nahverkehr auszubauen und den Menschen zu Fuß freundlicher zu behandeln. Die meisten Städte erweitern ihr Bus- und Bahnnetz, einige führen wieder Straßenbahnen ein. Für Fußgänger und Radfahrer werden breitere Wege angelegt.
In Münster führt eine Allee nur für Radler, der Wallring, rund um die Innenstadt. Bis zu 1400 Radfahrer stündlich nutzen die Straße ohne Autoverkehr als schnelle Verbindungsstrecke. Im Zentrum der westfälischen Stadt wird dem umweltfreundlichsten Verkehrsmittel so viel Platz eingeräumt, daß Münster als »Radler-Hochburg« gilt. _(* Neuer Wall in Hamburg; oben: während ) _(des Fahrverbotes Weihnachten 1990. )
In Lübeck wird der historische Stadtkern, von den Vereinten Nationen als »Weltkulturgut« ausgezeichnet, am Wochenende für den privaten Autoverkehr gesperrt. Zwischen zehn Uhr vormittags und sechs Uhr abends dürfen nur öffentliche Busse, Taxen und Anwohner in das Zentrum fahren. Lüneburg will dem Beispiel folgen und vom 2. April an den privaten Autoverkehr in seinen schmalen Altstadtstraßen verbieten.
Ein deutscher Professor sorgte in Bologna für Verkehrsberuhigung. Bernhard Winkler von der TU München entwarf den Plan, nach dem Besucher nicht mehr mit dem Auto in den Kern der italienischen Stadt vordringen können. Inzwischen wurde Winkler auch von anderen Städten beauftragt, Wege aus dem Verkehrschaos zu suchen.
Noch sind Lübeck und Bologna die Ausnahme. Noch scheuen sich die meisten Kommunalpolitiker, den Autoverkehr zurückzudrängen. Doch sie werden auf Dauer nicht umhinkommen, die Freiheit der Autofahrer einzuschränken.
Solange es noch möglich ist, mit dem Auto in die Stadt zu fahren, steigen viel zu wenige auf Busse und Bahnen um. Solange sind Investitionen in den öffentlichen Verkehr häufig reine Geldverschwendung.
Der Zürcher Stadtrat Aeschbacher hat das längst erkannt. Konsequent kämpft er deshalb weiter gegen den Autoverkehr an. Vorwärts getrieben wird er dabei vom Protest der Anwohner gegen den Lärm und den Gestank.
Den Anwohnern der Haldenstraße beispielsweise konnte Aeschbacher bisher nicht helfen. Vergebens versuchte er, zumindest ein Fahrverbot für Lastwagen durchzusetzen.
Der Baudirektor des Kantons wußte das zu verhindern. Für Hauptverkehrsstraßen ist die Regionalbehörde zuständig, und die will den Lastwagen die schnelle Verbindung zwischen zwei Nationalstraßen offenbar nicht streitig machen.
Aeschbacher verweist bei seinen Aktionen gern auf einen speziellen Stadtplan, der ein beängstigenden Bild von Zürich zeigt. Die Stadt erscheint auf dieser Karte in den Schattierungen blaßrosa bis dunkelrot. Schadstoffimmissionen werden so dargestellt. Und fast über der gesamten Innenstadt und den angrenzenden Wohnquartieren dominieren die dunklen Farbtöne: Dort ist die Luft besonders stark verschmutzt.
Deutsche Bürgermeister wären wohl recht zufrieden mit diesen Ergebnissen. Sie orientieren sich an Obergrenzen von 80 Mikrogramm Stickstoffdioxid. Die Schweizer aber wollen, so haben sie in ihrer »Luftreinhalte-Verordnung« festgeschrieben, ihren Bürgern allenfalls 30 Mikrogramm zumuten.
Die roten Farbtöne ärgern Aeschbacher immer wieder und treiben ihn an. Die Autos müssen weitgehend raus aus seiner Stadt, »ein Drittel weniger Straßenverkehr« ist das neue Ziel des Stadtrats. Noch mehr Parkplätze in der Stadt müssen beseitigt, noch mehr Straßen gesperrt werden. Der Widerstand der Autofahrer und einzelner Geschäftsleute wird Aeschbacher kaum stoppen. In ein oder zwei Jahren, sagt er, »ist der Kampf bei uns ausgestanden.«
In anderen Städten wird er dann wohl erst richtig anfangen. o
* In Hamburg.** Heiner Monheim, Rita Monheim-Dandorfer: »Straßen für alle«. Raschund Röhring Verlag, Hamburg; 532 Seiten; 68 Mark. * Lärmschutz inEssen.* Ein Bus transportiert 60 Autofahrer.* Neuer Wall in Hamburg; oben: während des Fahrverbotes Weihnachten1990.