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»Wir oder sie auf Leben und Tod«

Erbitterter denn je ist die Auseinandersetzung zwischen Justiz und Terroristen. In den Haftanstalten steht den Ärzten das Dilemma zwischen Zwangsernährung und Sterbenlassen »bis oben hin«. Draußen nahm ein RAF-Kommando den Generalbundesanwalt ins Visier eines Raketenwerfers. Staatsschützer befürchten »noch viele Tote«.
aus DER SPIEGEL 36/1977

Von Ulrike Meinhof, die einst für den westdeutschen Untergrund das Feuer mit der Bemerkung freigab, »natürlich« dürfe geschossen werden, stammt auch dieses Wort: »Dem Ziel -zum Teufel jagen, vernichten, befreien -- nähern wir uns mit allen Mitteln, wo und wenn möglich mit Gewehr, wo und wenn nötig mit so was Schmierigem wie Hungerstreik.«

Letzte Woche taten Terroristen das eine, ohne das andere zu lassen. Nach den Anschlägen auf Generalbundesanwalt Buback und Bankchef Ponte richteten Attentäter einen 42läufigen Raketenwerfer auf den Amtssitz des Buback-Nachfolgers Rebmann, derweil nahezu sämtliche inhaftierten Terroristen in der dritten Woche hungerten und vorgeblich auch dursteten -- eine dramatische Zuspitzung des Konflikts zwischen Staat und Untergrund; und die Entschlossenheit der Anarchos drinnen, ihr Leben durch Auszehrung aufs Spiel zu setzen, wirkte dabei ebenso beklemmend wie die unumwunden geäußerte Gewißheit von Staatsschützern, es werde »noch viele Tote geben

Kaum fünf Monate nach dem Mord an Buback ist der neue Chefankläger buchstäblich in das Visier der Terroristen geraten -- nach dem großspurig zynischen Slogan »Kommt Zeit, kommt RAF«, wie in einem Untergrundblatt zu lesen war. Rebmann seinerseits hat wissen lassen, was zu tun sei -- nach der kruden Devise: »Die Bevölkerung will, daß man diese Leute hart anfaßt, so, wie sie es nach ihren brutalen Straftaten verdienen.«

Kein Zweifel, die Konfrontation hat den bislang höchsten Härtegrad erreicht. Häftlinge nehmen Tote aus den eigenen Reihen billigend in Kauf, der Generalbundesanwalt läßt sich von dieser Vision nicht erschrecken.

Verteidiger Schily: »Die Auffassung des Generalbundesanwalts, die eiskalt den Tod der Gefangenen einkalkuliert, muß als zynisches Pokern um Menschenleben bezeichnet werden.«

BM-Ankläger Rebmann: »Die Bundesanwaltschaft spielt nicht mit dem Leben von Gefangenen, sie hat vielmehr Häftlinge und Verteidiger wiederholt aufgefordert, den durch nichts gerechtfertigten Hunger- und Durststreik zu beenden.«

Wer da pokert, ist gar nicht so leicht auszumachen -- die Justiz, die auf Beendigung des Hungerstreiks besteht, ehe sie den Terroristen Hafterleichterungen einräumt, oder die Häftlinge, die Haftverbesserungen zugesichert haben wollen, ehe sie ihren Streik abbrechen.

Gegen den erklärten Willen, sich »nicht mehr erpressen zu lassen« (Rebmann), setzen die Anarchos die Parole ihres Hungeropfers von 1974, Holger Meins: »Entweder gewinnen oder sterben.« Seit Wochen vollzieht sich in den Haftanstalten ein immer gleiches Ritual, das jedem Augenzeugen nachgerade gespenstisch erscheint. In Berlin-Moabit offeriert, so am Donnerstag letzter Woche, eine Beamtin den Inhaftierten Ilse Jandt, Monika Berberich und Waltraud Siepert das Mittagsmahl -- Seeaal, gebraten, mit Zitrone, Salzkartoffeln, zum Nachtisch Obst, Bananen. Reaktion: »Hau ab, du alte Fotze, leck mich« -- in Varianten so geschehen seit 25 Tagen.

In Hamburg, wo zehn BM-Leute einsitzen, gab es am Donnerstag gekochte Eier auf Schinkenkartoffeln, dazu Kopfsalat in saurem Rahm. Die Strafvollzugsbeamten, die von der Inhaftierten Margrit Schiller schon mal ein »Hau ab, du Sau, friß es selber« zu hören bekommen hatten, vernahmen diesmal: »Friedhof oder Stammheim.«

In Stuttgart-Stammheim fanden am selben Tag die Schließer im 7. Stock der Strafvollzugsanstalt die RAF-Häftlinge Gudrun Ensslin, Raspe und Baader morgens ohnmächtig in ihren Zellen. Wenige Minuten später hingen die drei am Tropf und erhielten Infusionen, die -- so ein Mediziner -- »im wesentlichen aus einer Kochsalzlösung zur physischen Stabilisierung des Körpers bestehen«, keine Zwangsernährung, sondern, wie der Stuttgarter Justizsprecher Rupert Hauser definiert, »medizinische Notfallmaßnahme«.

In Zelle 102, Block 1, der Justizvollzugsanstalt im Kölner Stadtteil Ossendorf lehnte Häftling Bernhard-Maria Rößner den vorgelegten Leberkäse wie üblich ab, Kommentar diesmal: »Du Sadist, du Nazischwein.« Danach begann für Rößner der wegen des Anschlags auf die deutsche Botschaft in Stockholm zu lebenslanger Haft verurteilt ist und seit 19 Tagen jegliche Nahrung verweigert, eine Prozedur, die auch Anstaltsarzt Jürgen Bechtel »immer wieder widerlich« findet: Zwangsernährung.

Der Patient wider Willen wird auf einer fahrbaren Trage aus der Zelle in die Intensivstation gebracht, von vier Wächtern festgehalten Öder mit breiten Ledergurten an Armen und Reinen festgeschnallt. Ein Wärter setzt sich -- wenn nötig -- zusätzlich auf die Knie, ein anderer muß den Kopf festhalten, bis die Nasensonde aus Plastik, rund fünf Millimeter im Durchmesser, durch den Nasen-Rachen-Raum in den Magen eingeführt ist.

Dann wird dem Häftling künstliche Nahrung eingeflößt -- Im Fall Rößner täglich fünf Portionen der Kunstnah-

* Bei der Vorlage eines Schießgeräts für einen Anschlag auf die Bundesanwaltschaft.

rung »Biosorbin«, ein Konzentrat aus Milch, Eigelb, Sahne, Traubenzucker, Vitaminen und Mineralien. Das Pulver wird in 1100 Kubikzentimeter Wasser aufgelöst, auf 37 Grad erhitzt und mit einer Spritze in den Schlauch gedrückt, »In 20 Minuten«, so ein Vollzugsbeamter, »sind 2000 Kalorien weg.«

Ob in Stammheim oder Hamburg: Wo immer letzte Woche inhaftierte Terroristen die Nahrung verweigerten, sahen sich Mediziner und Strafvollzieher den gleichen Problemen gegenüber, wenn auch Gefangenen in unterschiedlicher körperlicher Verfassung. Unter Anwendung von Zwang wurden in nordrhein-westfälischen Haftanstalten neben Rößner fünf weitere Häftlinge, im rheinland-pfälzischen Zweibrücken die Insassen Manfred Grashoff und Klaus Jünschke ernährt.

In Berlin schien bis Ende letzter Woche weder Zwangsernährung noch Kochsalz-Infusionen geboten -- ein medizinisches Wunder, falls die Inhaftierten, die fließend Wasser in den Zellen haben, nicht getrunken haben.

Im Hamburger Zentralkrankenhaus wurden die zehn BM-Leute, wie seit knapp drei Wochen alle paar Tage, in je dreistündigen »Behandlungen gegen die Folgen des Durststreiks« -- so der stellvertretende Leiter des Hamburger Strafvollzugsamts, Jens Donandt -- künstlich mit Flüssigkeit versorgt. Weil sie sich meist »ganz flott dagegen gewehrt haben«, wurden die Patienten »wie in der Psychiatrie gefesselt« (Donandt) und erhielten .per Tropf in Ellbogen- und Oberschenkelvenen Glukose- und Kochsalzlösungen.

In Stammheim wirkte Gudrun Ensslin schon arg mitgenommen, während Baader und Raspe noch Gewicht hielten -- jeweils zwei Doktoren und ein Krankenpfleger »schieben rund um die Uhr ihre Schicht«. Medizinern wie Kölns Bechtel stand letzte Woche »der ganze Mist bis oben hin«.

Die Versorgung der Bewußtlosen am Tropf« die direkte Zufuhr kreislaufstabilisierender Kochsalzlösung ohne oder mit nur geringem Nährwert, war für alle Beteiligten noch die annehmbarste Prozedur. Der Eingriff ersparte den Häftlingen, physischen Widerstand gegen Zwangsernährung aufzubieten, den Vollzugsbeamten, diesen Widerstand zu brechen, und den Ärzten, »den Schlauch runterzuwürgen« -- vorläufig.

Denn es war nur eine Frage der Zeit, bis die in Düsseldorf und Rheinland. Pfalz bereits vollzogene Zwangsernährung auch für Stammheim anstand -- eine »ungeheuer schwierige Entscheidung«, wie Anstaltsarzt Helmut Henck sagt, denn Zwangsernährung bedeutet immer, »ein gestörtes Feld noch störanfälliger zu machen«.

* Vorletzte Woche auf dem Transport zu einer Untersuchung im Stuttgarter Robert-Bosch-Krankenhaut.

Die Irritationen waren allenthalben in der Bundesrepublik spürbar. »Sollen wir sie sterben lassen?« fragte »Die Zeit« -- und präsentierte zu dieser Gewissensfrage auch gleich die Ergebnisse einer Repräsentativ-Umfrage: wenn es nach der Mehrheit der Deutschen ginge, ja. 74 Prozent der befragten Bundesbürger waren »dagegen, daß Terroristen, die einen Hungerstreik machen, gegen ihren Willen künstlich ernährt werden«.

So entbrannte unversehens die alte Diskussion aufs neue, die erst 1975 mit der Neufassung des Paragraphen 101 des Strafvollzugsgesetzes erledigt schien. Jetzt zeigt sich, daß der damals in aller Eile verfertigte politische Kompromiß kaum brauchbar ist.

Das Gesetz enthält weder ein uneingeschränktes Recht noch eine vorbehaltlose Pflicht zur Zwangsernährung. Joachim Wagner, Strafrechtsprofessor in Berlin: »Eine rechtlich wie politisch bedauerliche Fehlkonstruktion.«

Dürften die Vollzugsbehörden sich auf das Angebot von Nahrung beschränken und auf Zwangsernährung verzichten, würde dem Hungerstreik dadurch -- so Wagner -- »als politische Waffe ein Teil seiner Schärfe genommen, weil der Gefangene auch in kritischen Phasen nicht mehr damit rechnen kann, daß ihm geholfen wird, und ein Hungerstreik gerade erst in diesen kritischen Phasen politisch effektiv zu werden beginnt«.

Der neue Paragraph zwingt die Ärzte indessen, hungernde Häftlinge auch gegen ihren Willen und Widerstand zu ernähren, allerdings erst dann, wenn sie in Lebensgefahr schweben. Vorher sind solche Maßnahmen unzulässig.

Die Indikation der »Lebensgefahr« oder »schweren Gesundheitsgefährdung« aber rechtzeitig festzustellen, ist für den Arzt oft gar nicht möglich, speziell wenn die Inhaftierten Untersuchungen verweigern. Anstaltsarzt Henck: »Der Schwarze Peter liegt prompt beim Arzt.«

Aktuelles Beispiel Stammheim: Da die Patienten einerseits auf keinen Fall Nahrung aufnehmen wollen, andererseits aber eine Untersuchung ablehnen (Baader: »Das könnte euch pigs so passen"), ist der Zeitpunkt, zu dem die Zwangsernährung einsetzen muß, schwer zu bestimmen.

Schwebt der Hungerstreikende erst in akuter Lebensgefahr, dann ist die Möglichkeit zu seiner Rettung schon fraglich. So ergab die Obduktion der Leiche von Meins, daß unter anderem seine Rückenmarksfunktionen schon zwei Tage vor seinem Tode so herabgesetzt waren, daß er nicht mehr zu retten war, obwohl er sich in diesen Tagen noch vernünftig unterhalten konnte.

»Sie müssen sich darüber im klaren sein«, sagte denn auch Häftling Raspe schon zum Stammheimer Anstaltschef Nusser, »daß Sie auch mit den medizinischen Tricks nicht verhindern, daß mehrere RAF-Häftlinge sterben.«

Das Risiko erhöht sich zwangsläufig bei Gefangenen, die, wie die RAF-Leute, sich zumeist mit besonderer Vehemenz gegen die Zwangsernährung wehren. Ein geschwächtes Herz etwa, wie es die Ärzte der Inhaftierten Ensslin bescheinigen, könnte dabei leicht kollabieren -- und der Arzt bekäme womöglich noch ein Verfahren wegen fahrlässiger Tötung. Auch können beim Einführen der Magensonde durch heftige Reaktionen des Häftlings Schleimhautverletzungen entstehen, was ein erhöhtes Infektionsrisiko bedeutet. »Das Gesetz«, so ein Mediziner, »ist eben nicht für solche gemacht« -- gemacht schon, aber wenig geeignet.

Wo das Gesetz des Handelns liegt, hatte Baader schon beim Hungerstreik 1974 klargemacht: »Worum es jetzt geht, ist, für jeden das Gewicht soweit runterzubringen, daß er alles bestimmen kann, wann das läuft: akute Lebensgefahr, Krise, Koma. Ich bin sicher, daß das ganz einfach ist.«

So leicht es solchem Tätertyp fällt, über Krise und Koma zu verfügen, so selbstverständlich beanspruchen die BM-Kader seit ihrer Inhaftierung 1972, aus den Zellen heraus die Bomben-Strategie zu bestimmen -- frei nach dem Kassiber-Kommando: »Dem Staat die Machtfrage in ihrer Totalität zu stellen: wir oder sie auf Leben und Tod.«

Nie waren die Stammheimer Zellen Zwischenstationen Gestrauchelter auf dem Weg zur Resozialisierung, nie etwas anderes vielmehr als Ursprungsort für Parolen wie »Das Wesentliche ist die Knarre« (Baader) und Schaltstelle für terroristische Aktionen.

Der Bombenanschlag auf die Ehefrau des Karlsruher Bundesrichters Buddenberg, bei dem Ulrike Meinhof als Urheberin gilt, war der Maßstab für alle späteren Aktionen von BM-Niveau. »Darunter«, so Baader in einem Befehl an die Kombattanten, »läuft nichts, was RAF heißt.« Bömbchen im Schließfach ohne Verletzte oder »Kirchen vollschmieren«, entschied der BM-Führer, »denunzieren uns nur und machen uns lächerlich«.

Die Todesschüsse der Bewegung »2. Juni« auf den Berliner Kammergerichtspräsidenten von Drenkmann freilich, die hatten aus RAF-Sicht das richtige Kaliber, waren »notwendig« und als »Teil der Solidarität mit den Gefangenen zu verstehen« (RAF-Papier). Den Anschlag auf die deutsche Botschaft in Stockholm (vier Tote) feierte Ulrike Meinhof, die ein Jahr danach Selbstmord beging, als das »Dien Bien Phu der Revolution in Deutschland«, und Siegfried Buback schließlich wurde im RAF-Jargon »hingerichtet«, weil er »direkt verantwortlich« gewesen sei für den Hungertod von BM-Mitglied Meins, auch dafür, daß der Stockholm-Attentäter Hausner seine Brandverletzungen nicht überlebte, auch dafür, daß Ulrike Meinhof Selbstmord beging.

Daß ein RAF-Kommando, mit der Unterschrift Susanne Albrechts, schließlich auch den Ponto-Mord reklamierte, entsprach ganz der BM-Linie, die nach Meinung von Staatsschützern in eine bestimmte Richtung weist: Hungerstreik drinnen »bis zum Ende«, draußen Entführungen mit dem Ziel der »Big Raushole«.

Baader spielt in dieser gegenwärtigen Phase offensichtlich wieder eine be-

* Im Zentralkrankenhaus der Untersuchungshaftanstalt Hamburg.

herrschende Rolle. Siegfried Bassler, Vorsitzender des Beirats bei der Vollzugsanstalt Stuttgart, nahm das wahr, als er auf Bitten der Anstaltsleitung von Stammheim an einer Zwangsernährung von Gudrun Ensslin teilnehmen sollte. In einem Leserbrief an die »Stuttgarter Zeitung« schrieb Bassler letzte Woche:

Zusammen mit dem Anstaltsleiter, dem Arzt und einigen Vollzugsbediensteten betraten wir den Zellentrakt, wo die 5 Häftlinge gerade UmschluB hatten. Als der Anstaltsleiter Frau Ensslin eröffnen wollte, daß sie wegen ihres schlechten Gesundheitszustandes nunmehr, um Schlimmeres zu verhüten, zwangsweise ernährt werden müsse, wurde er von Herrn Baader unterbrochen, welcher das Gespräch an sich riß und im folgenden fast ausschließlich bestritt.

Herr Baader behauptete dem Arzt gegenüber, der Gesundheitszustand von Frau Ensslin sei noch nicht so schlimm, sie sei schließlich schon öfter im Hungerstreik gewesen, wenn aber die Anstaltsleitung trotzdem zur Zwangsernährung schreite, komme es -- so Herr Baader drohend -- »zur Katastrophe«.

An jenem Nachmittag fand dann kein Versuch zur zwangsweisen Ernährung statt, weil Frau Ensslin nach Zustimmung von Herrn Baader sich schließlich bereit erklärte, sich von einem Arzt ihres Vertrauens untersuchen zu lassen. Ich hatte bei der ganzen gespenstischen Szene -- Herr Raspe stand in der Türfüllung einer Zelle und sprach kein einziges Wort, Frau Ensslin höchstens 3 oder 4 Sätze -- den Eindruck, daß Herr Baader die 4 anderen Gefangenen absolut beherrsche, daß er bereit sei, Frau Ensslin zu »opfern«, um für seine Sache einen Märtyrer zu schaffen. Sie ist offenbar von ihm so stark abhängig, daß sie alles tut, was er anordnet, auch wenn es sie das Leben kosten sollte.

Anschaulicher lassen sich die inneren Zwänge und Abhängigkeiten der Gruppe kaum schildern, die außerdem nach dem Urteil von Medizinern noch beladen sind mit einem hohen Maß von Realitätsverlust und Selbsttäuschung. Die Autosuggestion beispielsweise mag einen Häftling ebenso leicht in einen Hungerstreik hineinzwingen, wie es ihm Rauschzustände durch Nahrungsentzug unmöglich machen, ihn von sich aus wieder abzubrechen.

Genau solche Komplikationen machen es schwierig, die wahre Absicht des Häftlings zu erkennen, seinen freien Willen -- und das genau macht das vielzitierte »englische Modell« kaum tauglich für deutsche Verhältnisse. Die Engländer überlassen einen Hungerstreikenden derzeit seinem Schicksal es sei denn, ein beamteter und ein freier Arzt stellen fest, daß »die Urteilskraft des Häftlings durch Krankheit, geistige und körperliche, beeinträchtigt ist« (so die englische Vorschrift).

Eine Übernahme dieser Praxis aber würde in den deutschen Haftanstalten kein anderes Ergebnis zeitigen: Die Gefangenen, die sich derzeit weigern, die exakte Lebensgefahr feststellen zu lassen, würden erst recht eine Prüfung ihrer Geistesverfassung ablehnen.

So bleibt Deutschlands Strafverfolgern und Haftrichtern nur, mit dem unzulänglichen Gesetz auszukommen, das nach dem Willen der Sozialliberalen auch nicht geändert werden soll (Justiz-Staatssekretär Erkel: »Es gab einen einstimmigen Beschluß von Bundestag und Bundesrat, dabei bleibt's."). Bei den Sozialliberalen überwiegt die Einstellung, daß der Staat sich bis zum äußersten um die Erhaltung von menschlichem Leben zu bemühen habe -- ganz abgesehen davon, daß nach derzeitigem Recht das Verhungernlassen sogar den Straftatbestand der unterlassenen Hilfeleistung erfüllen kann.

»Drohender Selbstmord ist polizeirechtlicher Eingriffstatbestand, die Polizei hat also Selbstmorde zu verhindern«, erläutert Berlins freidemokratischer Justizsenator Professor Jürgen Baumann.

Aus der Sicht der Terroristen und mancher ihrer Rechtsvertreter würde das ohnedies keinen Unterschied machen; entweder haben die Staatsschutzbehörden danach den Häftling verhungern lassen, oder sie haben ihn durch Zwangsernährung zu Tode gefoltert -- siehe Fall Meins: Als der BM-Mann 1974 zwangsernährt wurde, erstatteten seine Vertrauensanwälte bei der Staatsanwaltschaft Trier Strafanzeige gegen den Anstaltsarzt wegen Verdachts der Körperverletzung im Amt, als Meins dann verhungerte, erstatteten sie Anzeige wegen Mordes.

Und wie damals Generalbundesanwalt Buback dafür »verantwortlich« gemacht wurde, so werden im Falle eines weiteren Hungeropfers die RAF-Kader mit Sicherheit Bubacks Nachfolger beschuldigen. Schon heute ist er für sie, so die BM-Gefangene Ingrid Schubert in einem »Protokoll«, »dieser Schwabe, der im wahrsten Sinn des Wortes über Leichen Karriere gemacht hat«; die Vorwürfe reichen von »massivster Hetze« bis zum Bruch einer »verbindlichen Zusage«.

Das weist auf den unmittelbaren Anlaß der Eskalation in Stammheim: auf die Frage, warum es eigentlich zum Hungerstreik der BM-Häftlinge kam -- die Haftbedingungen.

Ursprünglich unterlagen die fünf Mitglieder des harten BM-Kerns zu Beginn ihrer Untersuchungshaft wegen »erheblicher Verdunklungsgefahr« verschärften Haftbedingungen« etwa der »Anordnung strenger Einzelhaft«.

Mit der Zeit wurden die Haftbedingungen gelockert, Kontakte jeweils zwischen weiblichen und männlichen Häftlingen erlaubt, später der Umschluß zu viert. Dann eine weitere Erleichterung: Im Juni folgte Rebmann, damals noch im baden-württembergischen Justizministerium, einem Mediziner-Rat, den Stammheimer Kern zu vergrößern. »Durch Zusammenlegung einer Gruppe von 15 bis 20 Häftlingen«, so Professor Rasch, »würde ein soziales Feld angeboten, das ein realisierbares Maß an Interaktionen erlaubt.« Sein Kollege Mende hatte Gruppen von zehn bis vierzehn Häftlingen vorgeschlagen.

Rebmann beugte sich auch im Hinblick auf die ungewöhnliche Haftdauer -- gemeinhin maximal sechs Monate, bei den BM-Insassen aber schon fünf Jahre -- der Empfehlung und ließ Gudrun Ensslin durch den Stammheimer Gefängnisdirektor Hans Nusser ausrichten, man wolle die Gruppe »erweitern«.

Ob mit der Erweiterung des Stammheimer Traktes auf zuletzt zehn Häftlinge das Versprechen erfüllt war, wie das Stuttgarter Justizministerium meint, oder ob noch weitere Genossen hinzukommen sollten, wie die Häftlinge meinen, ist vermutlich nie zu klären. Ensslin-Anwalt Otto Schily meint offenbar, auch die zehn auf einem Fleck seien den Behörden schon zu viel gewesen.

Das Experiment ging jedenfalls nicht gut. »Seit der letzten Woche -- nach Ponto -- kulminiert das hier«, notierte die BM-Frau Irmgard Möller am 9. August. Ein Schließer schildert's aus seiner Sicht: »Das hältst du doch im Kopf nicht aus, wenn du nur noch Fäkalienausdrücke hörst und immer nur »Scheißer« und »dumme Sau« tituliert wirst.« Und ein anderer Beamter: »Die waren darauf aus, zu provozieren. Seitdem die Gruppe größer war, wollte jeder den anderen darin übertreffen.«

Am Montag, dem 8. August, zur ersten Umschlußzeit um zehn Uhr, als die Häftlinge einer Anweisung nicht folgen wollten, kam es zum Handgemenge mit Justizbeamten. Im Durcheinander ging Beers Brille zu Bruch, Pohl büßte Stücke seiner Schneidezähne ein, Gudrun Ensslin trug Kratz- und Schürfwunden davon.

Die Häftlinge wurden in die Zellen gedrängt und nach einer Stunde auseinandersortiert. Sie verloren alle Privilegien wie zusätzliche Einkaufserlaubnis« Hofgang, Fernsehen oder Zeitungsbezug; sie antworteten mit Hungerstreik.

Inzwischen wurden drei Häftlinge nach Hamburg zurückverlegt, und daß es jemals wieder eine größere Konzentration geben wird, ist eher ungewiß. Auf die Frage, warum man nicht einfach größere Gruppen von BM-Gefangenen zusammenlege, antwortete der liberale Berliner Justizsenator Baumann lapidar: »Es würde sich kein Mensch ohne Maschinenpistole in diesen Raum überhaupt hineinwagen.«

Und Baumanns Kollege in Nordrhein-Westfalen, der Sozialdemokrat Diether Posser, ehemals Strafverteidiger in Staatsschutzsachen: »Ich glaube nicht, daß es gut wäre, wenn man alle in eine Anstalt legen würde, denn sofort käme der Vorwurf, wir würden ein Konzentrationslager errichten und uns erleichtern, sie umzubringen.« Hinzu komme, »daß in einer Anstalt, in der sehr viele dieser Häftlinge gleichzeitig untergebracht sind, sie die ganze Justizverwaltung lahmlegen können, etwa bei der Durchführung eines Hungerstreiks«.

Und wenn die Strafen der U-Häftlinge erst einmal rechtskräftig sind, können sie laut Justizstaatssekretär Erkel kaum damit rechnen, daß sie zusammenbleiben. Erkel: »Es kann sein, daß Frau Ensslin dann ins Frauengefängnis zu Vera Brühne kommt.«

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