»Wir sind von allen verraten«
Das Lügen fällt Amada Molina schwer. »40 bewaffnete Contras haben uns überfallen«, behauptet die Sandinistin, die seit zwölf Jahren in der Landwirtschaftskooperative Corinto im Norden Nicaraguas arbeitet: »Gangster mit Granaten, die wollten uns das Land wegnehmen!«
Ihre Stimme klingt zu laut, ihre Gebärden wirken zu theatralisch. Es gelingt ihr nicht, ihre Unsicherheit zu verstecken. »Jetzt haben wir hier nichts mehr zu essen, seht doch, wie die Kinder hungern!« Mit aufgesetzter Empörung weist sie auf die Kleinen zu ihren Füßen. Andere Frauen, die mit ihr vor der armseligen Baracke hocken, stimmen ihr pflichtschuldig bei: »Die Hurensöhne von der Contra haben hier 70 wehrlose Frauen und Kinder überfallen!«
Ganz so wehrlos kann sie nicht sein, die sandinistische Kooperative Corinto. Immerhin wurden aus ihrer Baracke heraus fünf Menschen erschossen - unbewaffnete Kleinbauern aus dem benachbarten Dorf Pueblo Nuevo. Die Campesinos, einst von den Sandinisten enteignet, waren am Morgen des 28. Februar nach Corinto marschiert, um mit der Kooperative über die Rückgabe von Land zu verhandeln, das ihnen die neue Regierung versprochen hat. 50 Meter vor der Baracke wurden sie von einer Gewehrsalve gestoppt. Vier Männer und eine Frau starben im Kugelhagel, ein Kind wurde schwer verletzt.
»Wir durften nicht einmal die Leichen mitnehmen«, erzählt Jorge ChavarrIa Gutierrez, der in Pueblo Nuevo einen kleinen Laden betreibt. »In der Kooperative hielten sich mindestens 40 bewaffnete Männer auf. Fünf haben auf uns geschossen. Wir haben der Polizei ihre Namen genannt, aber drei von ihnen laufen noch frei herum.«
Das ist nicht verwunderlich, denn die Polizei ist sandinistisch - genauso wie die Armee, die nach dem Zwischenfall Corinto besetzte. Als die Soldaten den Landwirtschaftsbetrieb besetzten, lieferten sie sich ein Scheingefecht mit den Kooperativisten, um den verängstigten Campesinos von Pueblo Nuevo zu imponieren. Aber zwischen Kooperativen und Streitkräften herrscht prächtiges Einvernehmen.
Die Einwohner von Pueblo Nuevo fühlen sich dagegen hilflos - sie haben vor einem Jahr für die konservative Präsidentin Violeta Chamorro gestimmt. »Dona Violeta«, wie die Verlegerwitwe respektvoll genannt wird, hatte ihnen Land versprochen, ebenso wie etwa 22 000 Contra-Rebellen samt Familien, die im Juni vergangenen Jahres ihre Waffen niederlegten und damit den Bürgerkrieg beendeten.
Doch Dona Violeta hat zwar die Wahlen gewonnen, nicht aber die Macht im Land. Um die Sandinisten, die immer noch stärkste politische Kraft, für ihr Programm der nationalen Versöhnung zu gewinnen, ließ sie ihnen die Kontrolle über Armee, Polizei und Staatssicherheit - ein politischer Balanceakt, der die Sandinisten politisch zwar einbindet, langfristig aber die Autorität der Präsidentin aushöhlt. Denn über die Macht in Nicaragua entscheiden immer noch die Gewehre und nicht Wählerstimmen.
»Bereits Stunden nach der Wahl am 25. Februar vergangenen Jahres haben die Sandinisten etwa 100 000 Kalaschnikows und Granatwerfer an ihre Anhänger verteilt«, sagt der Argentinier Roberto Menendez, ein Mitarbeiter im Büro der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) in Managua, welche die Wiederansiedlung der ehemaligen Rebellen überwacht. Erst Anfang Februar dieses Jahres hob die Regierung ein Waffenlager in der Sandinistenkneipe La Lucha (Der Kampf) aus - unter dem Schankraum lagerte genug Kriegsgerät, um 300 Mann auszurüsten.
Mindestens 70 Menschen starben bisher bei Landstreitigkeiten zwischen Sandinisten und Regierungsanhängern. »Die Landfrage ist eine Zeitbombe, die den gesamten Friedensprozeß blockiert«, befürchtet OAS-Beobachter Menendez. »Die Polizei kollaboriert eng mit den Sandinisten«, heißt es in einem OAS-Bericht. Sie verteile nicht nur Waffen an die Kooperativen, sondern biete auch Mördern Unterschlupf.
»Die Polizei foltert und schlägt die ehemaligen Rebellen«, bestätigt der Uruguayer Marco Tullio, der OAS-Vertreter in Matagalpa. »De facto herrschen hier drei Armeen: die Polizei, die Streitkräfte und die Staatssicherheit.«
General Humberto Ortega, der Armeechef und Bruder des früheren Präsidenten Daniel Ortega, ist bei den Ex-Contras die meistgehaßte Person im Land. Vergebens haben sie bislang seine Ablösung gefordert; nur auf eine Reduzierung der 75 000 Mann starken Streitkräfte, der damals größten Armee in Mittelamerika, ließ die Präsidentin sich ein. Sie schickte rund 50 000 Soldaten nach Hause - aber es gibt keine Arbeit für sie, viele von ihnen ziehen jetzt marodierend durchs Land.
Am 16. Februar wurde der Contra-Führer Enrique Bermudez vor dem Hotel Inter-Continental in Managua erschossen. Der Mord an einem der prominentesten Chefs des Widerstands verschärfte das Klima der Gewalt. Die Rebellen machen die Sandinisten für die Tat verantwortlich.
»Wer sonst«, fragt der Contra-Führer Comandante Ruben, »sollte ein Interesse an seinem Tod haben? Enrique Bermudez war unser wichtigster politischer Führer.«
Aber auch die Contra-Kämpfer haben sich nicht zu friedfertigen Bürgern gewandelt. Die meisten haben nicht alle Waffen abgegeben, wie es das Abkommen vom Juni vergangenen Jahres vorsah, sondern horten Gewehre, Granatwerfer und sogar Raketen in geheimen Depots in den Bergen. »Die Contras sehen, daß die Regierung ihre Versprechungen nicht erfüllt, also sammeln sie wieder Waffen«, sagt Marco Tullio.
Ehemalige Rebellen rotten sich zu Banden zusammen, rauben Vieh und überfallen Reisende. Vor allem im Norden, in den fruchtbaren Tälern um die Städte Jinotega und Matagalpa, beherrschen Wegelagerer nachts die Straßen.
Der Norden ist die konfliktträchtigste Region des Landes. Hier tobten bereits während des Bürgerkriegs die heftigsten Kämpfe, hier hatten die Contras immer den stärksten Rückhalt bei den Campesinos - schließlich sind die meisten Rebellen selbst Kleinbauern, die von den Sandinisten enteignet wurden. Ihr Propagandabild vom Contra als meuchelndem Söldner im US-Auftrag haben sogar die Sandinisten inzwischen korrigiert.
Im Landschacher sind die Bauern meist nur Spielfiguren - gleich, ob sie dem Widerstand angehören oder der sandinistischen Partei. Rebellenführer gehen längst Geschäfte mit sandinistischen Provinzfürsten ein, wenn es ihnen zum Vorteil gereicht.
»Wir sind von allen verraten worden«, schimpft ein ehemaliger Contra. Mit etwa 100 Mitstreitern haust er in einigen Bretterverschlägen in der Wildnis auf der Ostseite des Nicaragua-Sees. Verbittert läßt er einige schrumpelige Bohnen durch seine Finger rieseln: »Von diesen Almosen müssen wir leben. Seit zwei Monaten ist hier kein Regierungsbeamter _(* Während des Generalstreiks 1990. ) vorbeigekommen, und unsere Comandantes lassen sich auch nicht mehr blicken. Die haben jetzt klimatisierte Geländewagen und feine Büros in Managua.«
Die einst berüchtigten Contra-Haudegen schätzen inzwischen das Leben als Regierungsangestellte. Comandante Franklin, der noch bis zum Sommer vergangenen Jahres drohte, mit seinen Männern den bewaffneten Kampf wiederaufzunehmen, arbeitet heute als Direktor im Innenministerium. Und Comandante Ruben, einst Verhandlungsführer der Contra bei den Friedensgesprächen mit der Regierung, leitet das »Institut für Repatriierung« in Managua und plant die Gründung einer rechtsradikalen Partei.
»Bislang hat nicht einmal die Hälfte unserer Leute von der Regierung Land bekommen«, bekennt er. »Aber sehen Sie, in welchem Zustand die Sandinisten Nicaragua hinterlassen haben! Kein Präsident der Welt könnte in dieser Situation seine Versprechen erfüllen.«
In der Tat hat Dona Violeta von den Sandinisten nicht nur eine durch Krieg gespaltene Gesellschaft, sondern auch eine zerrüttete Volkswirtschaft übernommen. Nicaragua ist, dem Pro-Kopf-Einkommen nach, auf den Rang eines der ärmsten Länder Amerikas abgerutscht. Wirtschaftsminister Silvio de Franco vergleicht es mit Haiti, Polen und dem Libanon zugleich.
Daniel Ortega hinterließ seiner Nachfolgerin eine Hyperinflation von 4000 Prozent und elf Milliarden Dollar Auslandsschulden. Die Sandinisten machen das US-Handelsembargo und den zehnjährigen Krieg für die Wirtschaftskatastrophe verantwortlich - doch das ist nur ein Teil der Wahrheit. Mißwirtschaft und Korruption haben zu dem Elend auch beigetragen. Privat gestehen selbst die Sandinistenbosse ein, daß die Wahlniederlage das Beste war, was ihnen geschehen konnte:
»Hätten wir die Wahlen gewonnen, wären wir in eine unbeherrschbare Situation geraten«, bekennt der sandinistische Parteiführer Luis Carrion. »Wir hätten kein Notprogramm mehr auflegen können, weil wir kein Geld mehr für irgendwelche Programme hatten. Wir waren absolut bankrott.«
Doch der Schwenk zum Kapitalismus brachte dem Land auch nicht den erhofften Segen. Von der zugesagten US-Hilfe in Höhe von 541 Millionen Dollar sind bislang erst 207 Millionen nach Nicaragua geflossen.
Die Arbeitslosigkeit liegt bei 40 Prozent, die Inflation erreichte monatlich 30 bis 40 Prozent. Nicaragua, bis vor einem Jahr wegen des Schwarzmarktkurses eines der billigsten Länder Lateinamerikas für Dollarbesitzer, wurde nach einer Währungsreform zum teuersten Land der Region. Selbst einige ausländische Botschaften weigerten sich, ihre Strom- und Wasserrechnungen zu bezahlen.
Für die Campesinos, die zumeist nicht einmal 30 Dollar im Monat verdienen, begann ein Sturz ins Elend. Überall im Land wuchsen neue Slums aus dem Boden. In der Hauptstadt, deren Zentrum seit dem Erdbeben 1972 weitgehend einer Buschlandschaft mit Ruinen gleicht, schoben sich die Barackensiedlungen bis an die US-Botschaft heran.
Jeden Morgen durchwühlen Hunderte von Straßenkindern die städtische Müllkippe auf der Suche nach Verwertbarem. Drogenhandel und Kriminalität nehmen dramatisch zu, vor der Luxusdisco »Lobo Jack« warten zwölfjährige Mädchen auf Freier.
Hunderte von Geldwechslern, »coyotes« genannt, säumten noch Anfang März die Straßen Managuas. Sie mußten gleichzeitig mit drei verschiedenen Währungen hantieren: der »chanchero« (Schweinegeld) genannten gängigen Landeswährung Cordoba, dem neu eingeführten Gold-Cordoba und dem US-Dollar, dem einzig dauerhaften Zahlungsmittel im inflationsgeplagten Nicaragua. Bis zu 22 Millionen Cordobas zahlten die Coyotes damals noch für einen Dollar - dann, am 6. März, verschwanden die Geldwechsler über Nacht von den Straßen.
Im Zuge eines verzweifelten Stabilisierungsprogramms hatte die Regierung das alte Geld abgeschafft, den »Gold-Cordoba« zur offiziellen Landeswährung erklärt und Preiserhöhungen von bis zu 400 Prozent angeordnet. »Wenn dieses Programm scheitert, trete ich zurück«, verkündete Präsidialamtsminister Antonio Lacayo, der Schwiegersohn und engste Vertraute von Präsidentin Chamorro.
Die sandinistischen Gewerkschaften heulten empört auf. Bereits im vergangenen Jahr hatten sie das Land mit einem Generalstreik an den Rand des Bürgerkriegs zurückgeführt. Doch diesmal blieb es bei rhetorischen Ausfällen - auch die Gewerkschaftsführer haben inzwischen erkannt, daß ihnen eine Radikalkur nicht erspart bleibt, wenn die Inflation gestoppt werden soll.
»Niemand kann mit dieser Inflation leben«, sagt der Chef der sandinistischen Arbeitergewerkschaft FNT, Lucio Jimenez. »Aber die Anpassung muß schrittweise erfolgen.«
Die ungewohnt sanften Töne sind verständlich: Die Sandinisten sind zu Dona Violetas wichtigster Stütze im Parlament geworden. Die Präsidentin hat die Ex-Revolutionäre als »verlorene Söhne« akzeptiert. Ihr Schwiegersohn Antonio Lacayo arbeitet so eng mit hohen Sandinistenchefs zusammen, daß viele Regierungsanhänger der Präsidentin Verrat an ihrer konservativen Regierungsallianz _(* Slumbewohner beim Durchwühlen der ) _(städtischen Müllkippe. ) vorwerfen. Längst ist die im Wahlkampf mit US-amerikanischer Hilfe geschmiedete antisandinistische Koalition zerbrochen; ihrem Vizepräsidenten Virgilio Godoy, inzwischen einer der schärfsten Kritiker der Präsidentin, hat Dona Violeta nicht einmal ein Büro im Regierungspalast zugestanden. Verbittert amtiert Godoy in einem verstaubten Hinterzimmer der Bibliothek seiner Liberalen Partei und zieht über die »sandinistische Co-Regierung« her.
Der frustrierte Vize ist mit seinem Zorn nicht allein. Das ganze Land hat eine antisandinistische Stimmung erfaßt - eine Reaktion auf die ungebrochene Selbstherrlichkeit der einstigen Revolutionsführer. »Ihr seid wohl Freunde der Sandinisten«, pöbelt ein betrunkener Kriegsveteran eine Gruppe von Europäern auf dem Marktplatz der Provinzhauptstadt Rivas an - leger gekleidete Ausländer werden schnell für »sandalistas« gehalten, wie die Mitglieder der Solidaritätsbewegung wegen ihrer bevorzugten Fußbekleidung verspottet werden.
Touristen beschweren sich inzwischen über die »Ausländerfeindlichkeit« vieler Nicaraguaner, eine Folge des Zorns über die Sandalistas, die unter den Sandinisten viele Privilegien genossen.
Vor allem aber hat die sandinistische »pinata« die Volkswut angestachelt. La Pinata, in Lateinamerika die Bezeichnung für eine mit Bonbons gefüllte Puppe, die zum Kindergeburtstag geschlachtet wird, nennen die Nicaraguaner die sandinistische Selbstbedienung nach der Wahlniederlage.
Hemmungslos ließen viele sandinistische Regierungsbeamte aus ihren Büros alles mitgehen, was brauchbar und verkäuflich war. In der nicaraguanischen Botschaft in Kuba verschwand der komplette Wagenpark, Schreibmaschinen und Büromaterial, in Ministerien fehlten plötzlich Computer und Arbeitstische; altgediente Companeros entlohnte die Partei schnell mit Ländereien und Häusern, bevor die neue Regierung darauf Zugriff hatte.
Rasch entdeckten viele Comandantes zudem den Reiz des Kapitalismus. Sie gründeten oder beteiligten sich an Dutzenden von Firmen aller Art. Von seiner Residenz im Sandinistenstadtteil El Carmen dirigiert Comandante Bayardo Arce, der Vermögensverwalter der Partei, das Firmenimperium. Unter seiner Aufsicht steht das riesige Vergnügungszentrum La Pinata, die Parteizeitung Barricada, der Zeitschriftenverlag und das gleichnamige Druckhaus »El Amanecer«, der sandinistische Fernsehsender »Canal 4«, vier Radiostationen, ein Buchverlag sowie eine Reihe von Diskotheken, Restaurants, Ferienhäuser, Nachtklubs und etwa 50 gemeinnützige Gesellschaften. Ganz im Stile eines Topmanagers fährt der Comandante in einem roten Volvo von Termin zu Termin.
Zwei andere Parteifinanziers, Samuel Santos und Neville Cross, kontrollieren die Kaufhäuser Mercomundo und Multitienda sowie einige Restaurants und Hotels, darunter auch das Stundenhotel Los Laureles. Jetzt will Santos das erste Fünf-Sterne-Hotel des Landes bauen.
Die regierungsnahe Tageszeitung La Prensa vermutet, daß Einnahmen aus insgesamt etwa 300 Privatfirmen die Parteikassen der Sandinisten auffüllen. Schon zu Regierungszeiten hatten die Sandinisten zu diesem Zweck Dutzende von internationalen Handelsgesellschaften gegründet. Dennoch klagt Finanzchef Santos: »Wir sind eine ausgesprochen arme Partei.« Um die rund 700 Parteifunktionäre - nach Santos'' Darstellung sind es heute nur noch halb so viele - weiter bezahlen zu können, seien »außergewöhnliche Opfer« nötig.
So machten die geschäftstüchtigen Parteibosse selbst vor den Heiligtümern der Revolution nicht halt: Einen monströsen Betonkasten an der Plaza Carlos Fonseca, einst nach Moskauer Vorbild als Mausoleum für verstorbene Comandantes geplant, verwandelten sie in die Kneipe »El Malecon«.
Das ehemalige sandinistische Kulturzentrum »Ateneo« dient heute seiner Leiterin, Rosario Murillo, als Ausstellungsraum für allerlei exklusiven Kitsch - die exzentrische Ex-Gattin von Daniel Ortega verkauft den Tand allerdings nur gegen Dollar.
Aus der Operationszentrale der sandinistischen Staatssicherheit wurde ein Vergnügungszentrum mit dem unschuldigen Namen »Coro de los Angeles« (Engelschor). Statt konspirativer Sitzungen gibt es dort jetzt Kasperletheater und Konzertabende.
Noch ungenierter benahmen sich Parteifunktionäre auf dem Land. In vielen Dörfern herrschten sandinistische Provinzfürsten auch nach der Wende wie kleine Sonnenkönige. »Hier kamen sandinistische Parteiabgeordnete vorbei und haben eigenmächtig die Zuckerpreise festgesetzt«, bekennt Orlando Giron, Vertreter der Organisation sandinistischer Landkooperativen (Unac) in dem Dorf San Rafael del Norte. »Der Bürgermeister war die Regierung, und er hat gemacht, was immer er wollte.«
In der Hauptstadt üben sich derweil die Sandinisten in Selbstkritik. Vor jeder Rede legen Parteifunktionäre Reuebekenntnisse ab. »Wir haben längst noch nicht genug Selbstkritik geübt«, gesteht Parteiführer Luis Carrion. »Wir waren der Arroganz der Macht verfallen«, sagt Ex-Innenminister Tomas Borge.
Auf einem Parteikongreß im Juli - dem ersten seit dem Machtverlust - wollen die Sandinisten die Parteistrukturen demokratisieren und erstmals ihr Führungsdirektorium von der Basis wählen lassen. Vor allem einer wird dann Schaden nehmen: Daniel Ortega, der einst als roter »Kampfhahn« gefeierte Wahlverlierer. Die Parteibasis wirft dem Ex-Präsidenten vor, daß er sich zuviel auf Auslandsreisen als Revolutionsheld spreize, aber die Parteiarbeit vernachlässigte.
Einen populären Parteiführer hätten die Sandinisten dabei jetzt nötiger als je zuvor: Noch immer wirkt der Schock über die Niederlage nach. Vom revolutionären Elan bei den einfachen Mitgliedern ist nichts mehr zu spüren, die Partei treibt auseinander. In der Krise, das bekommen die Sandinisten jetzt zu spüren, driftet das Land nicht nach links, sondern weiter nach rechts.
Längst wird das gesellschaftliche Leben in Managua wieder von der alten Oligarchie bestimmt. Die Hotels sind voll von ehemaligen Großgrundbesitzern, die aus ihrem Exil in Miami oder Los Angeles zurückgekehrt sind, um ihre Ländereien zu reklamieren. Vor »Lobo Jack« fahren allabendlich die Söhne dieser »Miami Boys« in Sportwagen und aufgemotzten Jeeps vor. Bei Musik-Videos und hämmernder Musik schnupfen sie Kokain und schlagen die Zeit tot - »Managua ist halt nicht Miami«, seufzt ein modisch gestylter Teenie.
Im Hotel Inter-Continental, seit jeher das gesellschaftliche Zentrum der Hauptstadt, trifft sich unterdessen die intellektuelle Rechte. Der peruanische Schriftsteller und gescheiterte Präsidentschaftskandidat Mario Vargas Llosa, US-Botschafter Harry Shlaudeman, Präsidentin Violeta Chamorro und der konservative Kardinal Obando y Bravo plaudern am Pool über die demokratische Zukunft Lateinamerikas - der einstige linke Paria Nicaragua ist bei Konservativen wieder salonfähig, die Kampfanzüge der Sandinisten sind Smoking und langen Abendkleidern gewichen. Die Präsidentin persönlich verbot Angestellten in ihrem Regierungspalast das Tragen von Miniröcken.
Als hätte es die Sandinistenzeit nie gegeben, trägt Nicaraguas Oberklasse wieder ihre alte Arroganz zur Schau. Junge Mädchen fahren mit den Luxuswagen ihrer Eltern vor den Eisdielen an Managuas Plaza Espana vor und drücken gleichaltrigen Straßenkindern ein Almosen in die Hand, damit sie auf die Autos aufpassen.
Managuas rechter Bürgermeister Arnoldo Aleman spendierte eine Million Mark aus der verschuldeten Stadtkasse, um seine Mitarbeiter mit drei Dutzend neuer Toyota-Geländewagen und Limousinen auszurüsten. Der Ewigen Flamme auf dem Grabmal des sandinistischen Revolutionshelden Carlos Fonseca drehte der Sandinistenhasser die Gaszufuhr ab - die Revolutionäre hatten sich geweigert, die Gasrechnung zu bezahlen.
Außer Wandparolen ist im Straßenbild Managuas fast nichts geblieben von der Revolution - auch nicht das Korps solidaritätsbewegter Ausländer, die in den achtziger Jahren Nicaragua wie einen Wallfahrtsort aufsuchten.
Wer noch ausharrt wie Dieter Stadler, hat die Fehler der Sandinisten längst erkannt. Der Österreicher leitet Dietmar Schönherrs Solidaritätsprojekt »Haus der drei Welten« in Managua. Er macht sich keine Illusionen mehr über die Revolution: »Die Sandinisten waren zu verwöhnt von der internationalen Hilfe«, sinniert er. »Es ist unendlich viel Geld den Bach hinuntergeflossen.«
Im »Haus der drei Welten« scheint dennoch die Welt stehengeblieben. Naive Bilder sandinistischer Maler schmücken die Wände der Galerie, einige unentwegte Sandalistas aus den USA warten, um im Hinterzimmer eines der bekanntesten Symbole des sandinistischen Nicaraguas zu bestaunen: Padre Ernesto Cardenal.
Der ehemalige Kulturminister lebt zurückgezogen in diesem Refugium. Er dichtet und verkauft Bilder seiner Künstlergemeinde, aber auf viele seiner einstigen Revolutionsgenossen ist er nicht mehr gut zu sprechen. »Viele Campesinos sind von der Konterrevolution gewonnen worden«, sagt er ein wenig melancholisch, »weil sie von der Revolution nichts hatten.« o
* Während des Generalstreiks 1990.* Slumbewohner beim Durchwühlen der städtischen Müllkippe.