Zur Ausgabe
Artikel 63 / 118

»Wir sind wieder wer«

aus DER SPIEGEL 52/1996

Als Spieler ist es ihm immer schwergefallen, sich vom Ball zu trennen - wer den Ball hat, hat die Macht. Und die teilte der eigensinnige Sepp Herberger nicht gern. Das blieb so seine ganze, beispiellose Karriere lang. 28 Jahre, von 1936 bis 1964, betreute er als Nationaltrainer das deutsche Fußballteam, ein Meister der Taktik und Strategie. In 162 Spielen unter seiner Regie gab es 92 Siege. Ihm machte keiner was vor: »Niemand in Deutschland versteht soviel von Fußball wie ich.«

Der von der Presse als »Wunder von Bern« gefeierte 3:2-Triumph über die als unschlagbar geltenden Ungarn bei der Weltmeisterschaft 1954 gab ihm die höheren Weihen. Neben Adenauer avancierte er zum populärsten Deutschen der frühen Nachkriegszeit, deren Ende nach diesem Sieg begann. »Wir sind wieder wer« - die Deutschen berappelten sich, ihr Selbstwertgefühl, nach Nazi-Greuelzeit und Weltkriegsniederlage auf dem Tiefpunkt, bekam Auftrieb.

Als der kleine Mann mit dem zerfurchten Gesicht 1964 in den Ruhestand ging, hörte er nicht auf, seinen Ruf als Fußball-Magier zu hegen, bestimmte Teile seines Lebens schirmte er aber weiterhin vor neugierigen Fragen ab. Seine »Erinnerungen«, die zu schreiben er sich vornahm, sollten Bismarcksches Volumen haben, mehrbändig. Alles, was dazu dienlich hätte sein können, hat der Perfektionist penibel gesammelt: Aufzeichnungen, Briefe, Berichte, Protokolle, Dossiers, Planspiele. Nach seinem Tod (1977) landete das Material, gehortet in 361 Ordnern, in der Obhut des Deutschen Fußball-Bundes, der es als »Goldschatz« deklarierte und diesen nur wenigen Auserwählten zugänglich machte. Jetzt hat SPIEGEL-Autor und Fußball-Liebhaber Jürgen Leinemann den Nachlaß durchforstet und eine fast 500 Seiten starke Biographie geschrieben. Sie erscheint unter dem Titel »Sepp Herberger. Ein Leben, eine Legende« Mitte Januar im Rowohlt Berlin Verlag, rechtzeitig zu Herbergers 100. Geburtstag im nächsten Jahr.

Leinemanns Buch, aus dem der SPIEGEL in einer zweiteiligen Serie vorab Auszüge veröffentlicht, befreit das historische Bild Herbergers vom hagiographischen Blattgold. Es enthält eine Fülle neuer Details über den »Chef« und seine Spieler, wie er sie traktierte und bemutterte. Herberger, Sohn eines Tagelöhners, Anfang der zwanziger Jahre Mittelstürmer beim »Proletenverein« SV Waldhof, wurde 1936 zum Nachfolger des Reichstrainers Otto Nerz berufen. Einsatzwille, Kameradschaft, Hingabe waren die Schlüsselwörter seiner Fußball-Pädagogik, die er auch nach 1945 als Bundestrainer seinen Kickern nahebrachte. Vom Kaiserreich über Weimarer Republik und Nazi-Diktatur zum demokratischen Wirtschaftswunderland Bundesrepublik - Herberger steht für die Kontinuitäten im Deutschland dieses Jahrhunderts mit seinen Zusammenbrüchen und Aufbrüchen. Der Fußball überlagerte bei ihm alles, war ihm ein willkommener Verdrängungsmechanismus. Und den hat er mit der Weltmeisterschaft 1954, schreibt Leinemann, »allen Deutschen zum Geschenk gemacht. Sie nahmen es nur allzu gern an«.

Zur Ausgabe
Artikel 63 / 118
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren