SPIEGEL: Mr. Thurow, alle reden von der Globalisierung der Wirtschaft, aber kennt eigentlich irgend jemand die Regeln des Spiels?
Thurow: Ich denke, das ist eines unserer Probleme. Im 19. Jahrhundert legte das britische Empire die Regeln für die Welt fest, und im 20. Jahrhundert machten das die Vereinigten Staaten. Im 21. Jahrhundert bestimmt niemand die Spielregeln für den Welthandel. Sehen Sie sich doch nur den Streit um Urheberrechte mit den Chinesen an. In Peking können Sie amerikanische Computersoftware, die Hunderttausende von Dollar wert ist, für 100 Dollar kaufen. Natürlich können wir die Chinesen nicht einfach aufs Haupt schlagen und sagen, ihr müßt euch an unsere Regeln halten.
SPIEGEL: Die Amerikaner möchten im Falle Kuba, Iran oder Libyen die Europäer aufs Haupt schlagen.
Thurow: Das ist ein treffendes Beispiel dafür, wie schwer es ist, sich auf Regeln für den Welthandel zu verständigen. In der guten alten Zeit sagten die Amerikaner einfach, das sind die Regeln, die wir haben möchten, und alle mußten strammstehen und sich daran halten. Wir leben derzeit in einer Welt, in der die Regeln nicht klar formuliert sind.
SPIEGEL: Wenn es keine Regeln gibt, ist dann die Globalisierung nur ein großer Bluff?
Thurow: Weite Teile der Wirtschaft sind global ausgerichtet, andere nicht. Sehen Sie sich den Arbeitsmarkt an: Der ist in gewisser Weise schon global, wenn auch viele Grenzübertritte illegal sind. Die Landwirtschaft ist kaum global, der Bereich der Dienstleistungen ebensowenig. Aber die Kapitalmärkte sind wirklich global geworden, und da ist die Entwicklung auch kaum zu stoppen.
SPIEGEL: Wegen der modernen Technik?
Thurow: Genau. Als man noch mit einem Rucksack voller Geldbündel von Italien in die Schweiz wandern mußte, konnte die italienische Regierung Kontrollen des Kapitalflusses durchsetzen. Aber das geht nicht mehr, wenn Sie über Ihren Personalcomputer beliebige Summen bewegen können. Es macht also kaum einen Unterschied, ob es Kontrollen gibt oder nicht - sie sind schwer durchsetzbar.
SPIEGEL: Im Prozeß der Globalisierung verlieren also nationale Regierungen oder Institutionen ständig an Kontrolle über das Wirtschaftsgeschehen?
Thurow: Ich glaube nicht, daß sie vollständig die Kontrolle verlieren, aber doch über vieles. Wenn ein deutsches Unternehmen Geld in den Vereinigten Staaten leiht, weil der Zins dort niedriger ist, dann unterläuft das die Politik der Bundesbank.
SPIEGEL: Regionale Blöcke und Handelsorganisationen verringern jetzt schon den Einfluß nationaler Institutionen.
Thurow: Ja, aber ich denke, sie sind notwendige Schritte im Prozeß der Globalisierung, weil man nicht mit einem Satz von der nationalen in eine globale Wirtschaft springen kann. Aber natürlich sieht es in einem regionalen Zusammenschluß wie der Europäischen Union ganz anders aus als in einer Freihandelszone. Der Gemeinsame Markt ist so erfolgreich, weil er - ob es den Briten nun gefällt oder nicht - eine Vision beinhaltet, die weit über das Ökonomische hinausgeht. Die nordamerikanische Freihandelszone Nafta beispielsweise ist dagegen das genaue Gegenteil. Da haben sich zwei kleinere Volkswirtschaften, Kanada und Mexiko, mit einer sehr großen verbündet, den USA, und die trifft alle Entscheidungen. Das wird die Globalisierung nicht voranbringen.
SPIEGEL: Fördert denn ein Zusammenschluß wie die Europäische Union tatsächlich immer den freien Welthandel, der ja schließlich unabdingbar für die Globalisierung ist?
Thurow: Natürlich versucht immer irgend jemand, die Regeln zu umgehen. Das Positive an einem gemeinsamen Markt ist aber, daß er notwendige Strukturinvestitionen fördert. Ich habe ein Jahr in Spanien verbracht, und wenn das Land damals in einer Freihandelszone gewesen wäre, dann hätte ich mir Sorgen wegen der deutschen Unternehmen machen müssen, die spanische Banken und andere Firmen aufkauften. Aber im Gemeinsamen Markt bekommen die Spanier ja etwas dafür. Sie bekommen Geld für ihre Infrastruktur, sie konnten die Autobahn von Madrid nach Barcelona bauen oder den Hochgeschwindigkeitszug von Madrid nach Sevilla.
SPIEGEL: Sie sehen also in der Europäischen Union einen wichtigen Schritt auf dem Wege der Globalisierung?
Thurow: Ja. Es ist doch logisch, daß sich die Gemeinschaft langsam nach Osten ausbreiten wird. Und ich vermute, die Europäer werden sich irgendwann auch auf ein Arrangement mit den nordafrikanischen Staaten verständigen; zur Zeit des Römischen Reiches oder im Mittelalter wurde die südliche Seite des Mittelmeeres als Teil Europas gesehen. Ich denke also, Europa wird im Prozeß der Globalisierung eine wichtige Rolle spielen.
SPIEGEL: Jetzt wissen wir, warum Sie sich für den letzten Euro-Optimisten halten.
Thurow: Man vergißt sehr leicht, daß in Europa 700 Millionen Menschen leben. Es ist ungefähr so groß wie China, weist aber beträchtliche Vorteile auf. Europa hat eine gute Infrastruktur, eine Menge Technik, und nirgendwo auf der Welt gibt es so viele Menschen, die so gut ausgebildet sind wie die Europäer. Länder wie Rußland verfügen über reiche Naturschätze. Europa hat also alles, was man für den wirtschaftlichen Erfolg braucht.
SPIEGEL: Aber haben die Europäer auch die richtige Politik, um das zu nutzen?
Thurow: Auf lange Sicht bin ich optimistisch. Zur Zeit steckt die europäische Integration in einer Phase, die ich »nonlinear« nenne - Sie wissen schon, zwei Schritte vorwärts, einen zurück, einen zur Seite.
SPIEGEL: Der Vertrag von Maastricht war zwei Schritte vorwärts?
Thurow: Der Vertrag war zwei Schritte vorwärts, die schwachen Mehrheiten für den Vertrag in den nationalen Parlamenten waren ein Schritt zurück. Und der Schritt zur Seite ist die Diskussion darüber, wer nun schließlich bei der Währungsunion mitmachen wird. Aber letztlich wird es in Europa nur eine Währung geben, weil es logisch ist. Es ist Geldverschwendung, dauernd die verschiedenen Währungen zu tauschen.
SPIEGEL: Was wird dabei herauskommen, wenn überall auf der Welt die nationalen Regierungen an Einfluß und Kontrolle verlieren?
Thurow: Wir bewegen uns auf eine neue Art von Kapitalismus zu. Eine der Ursachen ist eindeutig die Globalisierung der Wirtschaft. Eine andere ist die Tatsache, daß es keine beherrschende Macht mehr gibt, die Regeln festlegt. Der Zusammenbruch des Kommunismus ändert auch vieles, ebenso wie der Übergang von Industrien, die auf natürlichen Ressourcen aufbauten, zu Industrien, die auf der menschlichen Hirnenergie beruhen, also Biotechnik oder Mikroelektronik. Und: Wir werden die erste Gesellschaft in der Geschichte der Menschheit sein, die zahlenmäßig von den Alten dominiert wird.
SPIEGEL: Also, wie wird der neue Kapitalismus denn aussehen?
Thurow: Das weiß niemand so genau. Ich kann nur die Kräfte analysieren, die uns auf etwas Neues zutreiben. Nehmen Sie einmal das Problem der Urheberrechte. Mit Sicherheit müssen wir da eine Lösung finden, aber wie die aussehen soll, werden weder Sie noch ich wissen. Was immer die Lösung sein wird, Industrien wie die Softwareproduktion oder die Unterhaltungsbranche werden davon nicht unberührt bleiben.
SPIEGEL: Die Unterhaltungsindustrie ist schon global.
Thurow: Kultur ist in der Tat die stärkste Industrie der Welt. Kinofilme und Fernsehprogramme sind der wichtigste Export der Vereinigten Staaten, sie bringen in Dollar doppelt soviel ein wie Flugzeuge. Auf der anderen Seite sehen Sie hier wieder sehr deutlich die Probleme der Globalisierung. Die Franzosen verlangen, den Marktanteil amerikanischer Film- und Fernsehproduktionen auf 40 Prozent zu begrenzen. Das ist einerseits ein legitimes kulturelles Interesse. Aber andererseits - hey! dies ist Wirtschaft, und wenn du Filme nicht frei handeln darfst, dann wirst du überhaupt keinen freien Handel haben.
SPIEGEL: Die Unterhaltungsindustrie wird allerdings wohl kaum ein unabdingbarer Teil einer globalisierten Wirtschaft sein.
Thurow: Nein, die neue Welt, auf die wir uns zubewegen, wird uns stärkere Investitionen in Forschung und Entwicklung abverlangen. Die heißesten wirtschaftlichen Felder in den Vereinigten Staaten sind derzeit die Biotechnik und das Internet - und wie sind diese Industrien entstanden? Im Falle Biotechnik hat irgend jemand am National Institute of Health Ende der fünfziger Jahre damit begonnen, zwei bis drei Milliarden Dollar pro Jahr in die Biophysik, wie das damals hieß, zu stecken. Und erst nach 30 Jahren massiver staatlicher Investitionen ist ein großer und wichtiger Produktionszweig entstanden.
SPIEGEL: Dann spielen also staatliche Institutionen - und staatliche Gelder - doch noch eine bedeutsame Rolle in der globalisierten Wirtschaft?
Thurow: Ja. Nehmen Sie das Internet, das fast täglich neue Milliardäre hervorbringt, Menschen, die alle Vorteile der modernen Kommunikation für ihre Geschäfte nutzen. Es entstand, weil das amerikanische Verteidigungsministerium vor 25 Jahren entschied, es müsse ein atombombensicheres Kommunikationssystem haben. Nun, 20 Jahre lang zahlt das Verteidigungsministerium dafür, 10 Jahre lang zahlt die National Science Foundation, und heute ist daraus eine ungeheure private Industrie geworden, in der Leute reich werden. Aber auch hier wieder waren 30 Jahre staatlicher Investitionen erforderlich.
SPIEGEL: Aber wie können nationale Regierungen, wenn sie einerseits Schritt für Schritt die Kontrolle über die Wirtschaft verlieren, solche dramatischen Veränderungen in der Wirtschaft durchsetzen?
Thurow: Die Antwort ist, daß sie es wahrscheinlich gar nicht können. Der wirkliche Testfall werden die Alten sein. In unserer Gesellschaft haben wir ihnen Versprechen gegeben, die wir nicht halten können, wenn die Zahl der Alten zunimmt. Die Frage ist, wie wir aus diesen Versprechen rauskommen. Im Jahre 2025 werden Menschen über 65 in einigen unserer industrialisierten Gesellschaften eine Mehrheit in der Wählerschaft darstellen. Und wie beschneidet man die Leistungen für Leute, die den größten Wählerblock bilden?
SPIEGEL: Das wird in einer Demokratie schwierig sein.
Thurow: Es muß aber gemacht werden. Wenn die Demokratie es nicht schafft, dann wird es eine andere Regierungsform geben.
SPIEGEL: Sie meinen, die Demokratie kann die anstehenden Probleme gar nicht lösen?
Thurow: Das Häßliche an diesen Problemen ist die Tatsache, daß sie sich langsam und allmählich entwickeln. Im Laufe von vielen Jahren ist die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland von zwei auf vier Millionen Menschen gestiegen, ohne daß etwas Entscheidendes dagegen getan wurde; der letztlich dramatische Zuwachs verteilte sich über einen längeren Zeitraum. In den Vereinigten Staaten sind die Reallöhne für 60 Prozent der Arbeitnehmer um 20 Prozent gefallen - aber in 25 Jahren, also jährlich um etwa ein dreiviertel Prozent. Es ist schwer, in einer Demokratie mit Problemen umzugehen, die sich sehr langsam, aber stetig entwickeln; es ist einfach unmöglich, die öffentliche Meinung zu mobilisieren und zu sagen: Mein Gott, wir müssen etwas tun.
SPIEGEL: Was wird also Ihrer Ansicht nach in einer modernen globalisierten Wirtschaft geschehen?
Thurow: Wir testen das System: Wie tief können die Löhne fallen, wie hoch kann die Arbeitslosenquote steigen, ehe das System bricht. Ich glaube, daß die Menschen sich immer mehr zurückziehen. Sie flüchten zum Beispiel in religiösen Fundamentalismus, und die Gesellschaft bricht auseinander. Im Mittelalter waren alle europäischen Städte von Mauern umgeben. In Amerika mauern sich immer mehr Gemeinden auch ein und lassen sich von bewaffneten Wächtern beschützen.
SPIEGEL: Wie kann Ihrer Meinung nach das System davor bewahrt werden auseinanderzubrechen? Wie erklären Sie den Millionen von Menschen, die wegen der weltweiten Konkurrenz ihren Job verlieren, was Globalisierung bedeutet?
Thurow: In der Tschechischen Republik oder in Polen liegen die Löhne, einschließlich Zusatzleistungen, bei 2 Dollar die Stunde. Unmittelbar hinter der Grenze sind es 30 Dollar. Das ist nicht durchzuhalten, stimmt''s? Ein tschechischer Arbeiter ist doch einem deutschen verblüffend ähnlich. Und natürlich lautet die Antwort: Die tschechischen Löhne werden steigen, die deutschen Löhne werden fallen.
SPIEGEL: So einfach ist das nicht.
Thurow: Im Kern ist es einfach, selbst wenn Sie berücksichtigen, daß in Deutschland ganz andere Bedingungen herrschen. Aber letztlich ist auch die Tatsache, daß die Tschechische Republik unmittelbar neben Deutschland liegt, ohne Bedeutung. In einer globalisierten Wirtschaft liegt auch China unmittelbar neben Deutschland. Und da sind 1,2 Milliarden Chinesen, deren Löhne sich gewiß nicht allzu schnell anpassen werden. Wenn man also mit den Chinesen im Wettbewerb steht, dann muß man die Löhne senken oder sich aus dem Geschäft verabschieden.
SPIEGEL: Das wird schwer zu akzeptieren sein.
Thurow: Ich bin überzeugt, daß der Mensch in der Regel erst dann die Notwendigkeit einsieht, Dinge zu ändern, wenn er in eine Krise gerät. Sehen Sie sich IBM an. Ein Jahr vor ihrem ersten großen Verlust machte die Firma sechs Milliarden Dollar Gewinn. Nehmen Sie mal an, Gottvater hätte in dem guten Jahr den Chef von IBM besucht und gesagt: »Hören Sie mal, Mr. Akers, ich sag'' Ihnen jetzt die Wahrheit.« Und dann hätte Akers vom Berg herunterkommen und 380 000 Beschäftigten erklären müssen: »Hört mal, Leute, wir haben zwar gerade sechs Milliarden Dollar verdient, aber in zwölf Monaten bricht hier alles zusammen.« Niemand hätte ihm geglaubt.
SPIEGEL: Niemand hat Moses geglaubt, als er vom Berg kam.
Thurow: Er mußte zweimal laufen, wenn ich die Geschichte richtig in Erinnerung habe. Und es gab damals eine Krise. Die Leute saßen alle mitten in der Wüste und hatten Hunger.
SPIEGEL: Globalisierung bedeutet weltweit verschärften Wettbewerb, der die Unternehmen zu weiterer Rationalisierung zwingt. Viele Menschen verlieren ihre Arbeit, die Löhne in den alten Industriestaaten sinken. Ist Globalisierung schlecht für den Durchschnittsbürger?
Thurow: Kommt drauf an, wo er lebt. Wenn er in China oder Indien arbeitet, ist Globalisierung gut für ihn. Aber auch in den industrialisierten Ländern kann Globalisierung zu mehr Wachstum und Arbeitsplätzen führen, wenn die Regierungen nicht auf die Bremse treten und etwa aus Angst vor Inflation die Zinsen erhöhen. Man kann eine verdammte Menge von Telefonen in China verkaufen, aber gleichzeitig muß man den Chinesen auch einige Textilien abnehmen, damit sie die Telefone bezahlen können.
SPIEGEL: Teilt die Regierung in Washington Ihre Visionen und Ihre Bedenken zum Thema Globalisierung?
Thurow: Im einzelnen sicher nicht. Das Problem ist doch, und das wird in Deutschland nicht anders sein, daß die Politiker immer sagen: Ja, wir haben auf lange Sicht diese Probleme, aber wir müssen erst die drängenden aktuellen Probleme lösen; mit den anderen befassen wir uns nächstes Jahr. Und das nächste Jahr kommt nie.
SPIEGEL: Mr. Thurow, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Das Gespräch führten die Redakteure Peter Bölkeund Siegesmund von Ilsemann.