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Wir tragen das Nessosgewand

aus DER SPIEGEL 9/1991

Für viele Israelis ist dieser Krieg ein Wunder Gottes. Amerika zerschlägt die irakische Kriegsmaschine, die uns bedroht hat. Ein altes hebräisches Sprichwort sagt: »Der gerechte Mann wird dadurch belohnt, daß ein anderer seine Arbeit verrichtet.«

Zwar hatten wir Dutzende von Raketeneinschlägen, aber im ersten Kriegsmonat kosteten sie nur zwei Todesopfer - etwa die Zahl der Verkehrstoten an einem Tag. Trotz Angst und Streß und beinahe täglicher - eigentlich nächtlicher - Alarme ist dieser Krieg für uns ein »Krieg de luxe«, so der ehemalige Verteidigungsminister Jizchak Rabin.

Unsere politische Situation hat sich gewaltig verbessert. Wir sind nicht mehr der Gewaltstaat, der Beirut bombardiert, Palästinenser unterdrückt, Intifada-Kinder erschießt. Jetzt sind wir wieder ein kleines und braves Volk, das sich gegen seine bösen Nachbarn verteidigen muß und trotzdem auf Vergeltung verzichtet.

Die Palästinenser auf der anderen Seite, die noch gestern Opfer der Unterdrückung waren, sehen jetzt ganz anders aus. Haben sie nicht dem Tyrannen von Bagdad zugejubelt? Haben sie nicht auf den Dächern geklatscht, als die Raketen auf unsere Städte fielen? Sie haben ihren Platz am Verhandlungstisch verloren, davon sind viele Israelis, auch sogenannte Linke, überzeugt.

Einige Jahre lang war alles falsch. Wir sahen wie Goliath aus, die Palästinenser wie David. Jetzt ist wieder alles in Ordnung. Wir sind David, sie Goliath.

Unsere Regierung ist entschlossen, diese Gewinne sofort umzusetzen. Die Ziele haben sich nicht verändert: den Status quo zu erhalten, die PLO auszuschalten, jede Friedensinitiative zu unterbinden, die zu einem Verzicht auf »Judäa, Samaria und den Bezirk Gaza« führen könnte. Wenn man auf dieser Basis zu einem Vergleich mit den Nachbarstaaten kommen kann - gut. Wenn nicht - auch gut.

Wir waren schon einmal in einer solchen Lage, damals 1967. Auch damals geschah uns ein Wunder. Israel steckte in Wirtschaftskrise und seelischer Depression. Plötzlich, so aus blauem Himmel, kamen die ägyptischen Divisionen und bedrohten unsere Grenzen. Drei Wochen lang bangte man um die Existenz unseres Staates. Dann brach unsere Armee in alle Richtungen aus, zerschlug drei arabische Heere und eroberte ganz Palästina, ganz Sinai und die Golanhöhen. Euphoria.

Heute weiß mancher, daß dieser Segen ein verkappter Fluch war. Die eroberten Gebiete sind ein Nessosgewand - wie jenes Hemd, das der Centaur Nessos der DeIanira, der Frau des Herakles, geschenkt hat und das angeblich Liebeszauber enthielt. Der listige Pferdemensch hatte es aber mit Gift beschmiert. Als Herakles es angezogen hatte, konnte er es nicht wieder abstreifen, so starb der arme Held.

Die besetzten Gebiete vergiften langsam unseren Volkskörper, Glied um Glied. Aber wir können sie nicht loswerden, wir sind in sie verliebt.

Der Sechs-Tage-Krieg sieht wie eine jener bösartigen Spielereien aus, mit denen gelangweilte griechische Götter sich ihre Zeit in der Ewigkeit vertrieben. Der Segen war ein Fluch. Das Geschenk war vergiftet. Die Untergangsstimmung vor dem Krieg, der atemberaubende Sieg, die unglaublichen Eroberungen - alles war so inszeniert, als hätte ein tückischer Gott die israelische Führung ihrer Sinne berauben wollen. Und so, statt den Sieg zu nutzen, um den Palästinensern sofort einen eigenen Staat und Frieden anzubieten (einige von uns schlugen es damals vor), waren unsere Führer durch den Sieg mit Blindheit geschlagen, sie haben das Nessosgewand angezogen.

Ich befürchte, daß nach diesem Kriege wieder etwas Ähnliches passieren wird. Die Angst vor Raketen und Giftgas, die Wut auf den bösartigen Feind, die Sympathie der ganzen Welt - für uns ist es eine gefährliche Mischung.

Jizchak Schamir genießt jetzt in Israel ein Ansehen wie kein Regierungschef seit der unseligen Golda MeIr. Er hat das schon genutzt, um Rechawam Seewi, den Apostel der Volksvertreibung ("Transfer"), wie einen trojanischen Maulesel in sein Kabinett einziehen zu lassen. Der nationale Konsensus erstreckt sich jetzt von der klassischen Rechten bis zu den Neofaschisten.

In dieser Atmosphäre kann man kaum erwarten, daß unsere Regierung die logischen Folgerungen aus der Situation zieht: einen Frieden zu schließen, solange der Kurs unserer Aktien auf dem Weltmarkt so hoch steht, den Palästinensern einen Staat und den anderen Arabern einen ehrenhaften Frieden anzubieten. Nicht unter Druck von außen, sondern als freiwilliger, souveräner Beschluß eines starken Israel. Mit anderen Worten: die Gelegenheit zu nutzen, die wir 1967 so leichtfertig verworfen haben. Aber wie zieht man ein Nessosgewand aus?

In der politischen Wüste, in der die israelische Friedensbewegung sich jetzt befindet, schaut sie gebannt auf eine Fata Morgana. Sie erscheint immer in schlimmen Stunden: der »diktierte Frieden«, made in America.

Das sieht so aus: Nach dem Krieg, in dem amerikanische Soldaten ihr Leben geopfert haben, werden die lokalen Konflikte im Nahen Osten den Amerikanern zu übel werden. Genug, werden sie sagen, never again. Jetzt, Kinder, macht Schluß.

Dazu kommt, daß die Amerikaner ihre arabischen Klienten, die der Intervention die notwendige Legitimierung gegeben haben, auch entschädigen müssen. Berühmte Demokraten wie Assad in Damaskus, Fahd in Riad, Mubarak in Kairo, Hassan in Rabat sowie assortierte Ölscheichs, die jetzt in ihren Ländern als Quislinge angeprangert werden, müssen sich schnell den Mantel des arabischen Patriotismus anziehen. Sie können das nur durch die Lösung des Palästina-Problems erreichen.

Das sieht logisch aus, und nicht umsonst macht sich Schamir Sorgen. Aber nicht zu sehr. Er verläßt sich auf seine bewährten Hilfstruppen jenseits des Ozeans.

Der israelische Einfluß im amerikanischen Kongreß und den Medien, der immer stark ist, hat sich noch verstärkt. Es ist fraglich, ob das Weiße Haus auch nach dem Sieg mächtig genug sein wird, um sich dagegen zu behaupten. Schamir glaubt nicht daran, und er mag recht haben.

Die Sowjetunion und Europa können Israel nichts gegen den Willen Amerikas aufzwingen. Der Sowjet-Tiger benimmt sich wie eine Hauskatze, die um eine Schüssel Dollar bettelt. Beggars can''t be choosers. Europa ist groß und fett, aber ohne wirklichen politischen Willen, wenn es darum geht, eigene Interessen gegen Amerika zu behaupten. Das hat sich auch in dieser Krise gezeigt.

Man muß sich fragen: Warum sind alle grandiosen Nahost-Friedensinitiativen amerikanischer Präsidenten im Sande versickert, wie Tropfen in der Wüste? Wer hat sie torpediert?

Die jüdische Lobby? Die Waffenindustrie, die in diesem Kriege sicher eine bedeutende Rolle spielte? Der Wille, Israel als Geisel zu benutzen, um widerspenstige Ölstaaten brav in Reih und Glied zu halten? Oberflächliche ideologische Analogien (Indianer gleich Palästinenser, Pioniere gleich Chaluzim, Puritaner gleich Juden)? Eine Mischung aus allem?

Das weiß keiner. Auch nicht die Amerikaner selbst. Aber eins ist sicher: Keiner dieser Faktoren hat sich durch den Krieg verändert. Einige haben sich sogar verstärkt. Gewiß, die Krise hat neue Komponenten geschaffen, aber die werden wohl kaum stark _(* Mit irakischer Flagge und Porträts von ) _(Saddam Hussein und Arafat. ) genug sein, um die alten Hindernisse zu überwinden.

Wahrscheinlich werden nach dem Kriege irgendwelche diplomatische Bemühungen zustande kommen, um einen neuen »Friedensprozeß« ins Leben zu rufen. Man redet ja immer über »Friedensprozesse«, wenn man nicht über den Frieden selbst reden will.

Schamir hofft, daß Amerika eine Art Camp David II mit Syrien zustande bringt, um so die Palästinenser wieder zu umgehen und die besetzten Gebiete endgültig für Israel zu sichern. Aber so ein »Friede«, der das Hauptproblem ungelöst läßt, ist nur ein Verband über der eiternden Wunde, die den Körper weiter vergiften wird.

Viel hängt natürlich davon ab, wie dieser Krieg zu Ende geht. Und das hängt wiederum davon ab, wofür eigentlich gekämpft wird. Das ist schwer zu beantworten, denn dieser Krieg ist im wahren Sinne des Wortes un-sinnig.

Was Saddam wollte, ist klar. Nach einem langen Krieg hatte er ein riesiges Heer und sonst nichts. Er wollte das Heer benutzen, um seine Finanzen aufzubessern. Wer Eisen hat, hat Brot. Er hatte sich verrechnet. Wieder einmal.

Aber was will Bush eigentlich? Kleine Staaten vor bösen Nachbarn beschützen? Da muß man an Grenada, Nicaragua, Panama denken. Tyrannen abschaffen? Auch da kann man sich an einige Namen erinnern. Pinochet, Noriega, argentinische Generale. Und sogar Bundesgenosse Assad, den seine eigene Mutter kaum von Saddam unterscheiden könnte. Es hat Amerika auch nicht besonders gestört, daß Saddam den Iran überfallen und kurdische Untertanen mit Giftgas getötet hat - als er noch amerikanischen Interessen diente. Amerika ist nun mal genauso zynisch wie alle Großmächte in der Geschichte.

Krieg für Demokratie? Das offizielle Kriegsziel ist es, den Scheich von Kuweit wieder einzusetzen - ein korruptes Überbleibsel aus dem Mittelalter, der die Demokratie selbst dann nicht erkennen könnte, wenn man sie ihm auf einem silbernen Tablett servieren würde.

Uno-Beschlüsse durchsetzen? Amerika hat nie gezögert, unbequeme Beschlüsse der Uno-Mehrheit durch ein Veto zu verhindern.

Eine »neue Ordnung« in der Welt? Den Worten haftet ein übler Geschmack an. Und bis heute hat Bush vergessen, der Welt zu sagen, woraus diese herrliche neue Ordnung eigentlich bestehen soll.

Also, ein Krieg für das Öl? Auch das ist Unsinn. Saddam kann doch das Petroleum nicht trinken. Er muß es den alten Kunden verkaufen. Er kann auch nicht mit den Preisen wuchern. Die Saudis haben genug Ölreserven, um den Preis beliebig (den Amerikanern beliebig) zu senken.

Saudi-Arabien beschützen? Dafür brauchte man keinen Weltkrieg. Eine Garnison hätte genügt.

Angst vor Massenvernichtungswaffen? Israel hat gezeigt, daß man einen Atomreaktor im richtigen Augenblick zerstören kann, ohne ein ganzes Land zu vernichten. Und warum sind irakische ABC-Waffen schlimmer als syrische, die Israel mehr bedrohen? Und wie kann man diese Art Waffen im Nahen Osten abschaffen, ohne Frieden und kontrollierte Abrüstung?

Zyniker können sagen, dieser Krieg ist ein Paradies für Waffenhändler aller Art. Eine große Zahl neuer Waffensysteme wird zum erstenmal ausprobiert. Statt überflüssige, in Deutschland stationierte Waffen auszurangieren, schickt man sie an den Golf und läßt sich das von Deutschland, Saudi-Arabien und Japan bezahlen. Aber wer wird glauben, daß das für Bush den Ausschlag gab?

Die Unsinnigkeit dieses Krieges wird ganz offensichtlich, wenn man an die Weltsituation denkt. Unsummen werden im Wüstensand versenkt, um einen kleinen Diktator zu stürzen - Milliarden, die nötig wären, um eine Katastrophe in Osteuropa zu verhindern. Dort passieren jetzt Dinge, die das Antlitz der Welt im 21. Jahrhundert bestimmen werden.

Schreckliche Gefahren drohen in der Sowjetunion und bei ihren ehemaligen Trabanten: Neo-Stalinismus, Rechtsdiktatur, Bürgerkrieg zwischen Zwergrepubliken mit Atomwaffen. Um die Demokratie dort zu retten, braucht man auch Geld. Geld, das jetzt massenhaft vergeudet wird, um einen riesigen Wild-Ost-Film am Golf zu drehen - Sheriff Bush gegen Desperado Saddam, Mann gegen Mann, mit der ganzen Welt als CNN-Publikum. Karl May hätte es sich nicht träumen lassen.

Also, worum geht es wirklich?

Die USA haben immer befürchtet, daß ein charismatischer arabischer und/ oder Moslem-Führer den ganzen Nahen Osten vereinigt, das amerikanische Monopol bricht und die riesigen Ölreserven von Saudi-Arabien, Iran, Irak und Kuweit in einer Hand vereinigt. Darum hat die CIA Mossadek im Iran gestürzt, darum hat Amerika Israel geholfen, Gamal Abd el-Nasser 1967 zu zerschlagen.

Es ist kein Zufall, daß dies die erste Krise nach der Beendigung des Kalten Krieges ist. Nach dem dritten Weltkrieg, dem zwischen West und Ost, hat nun der vierte angefangen. Nord gegen Süd, Industrie- gegen Rohstoffstaaten. Petroleum ist der wichtigste Rohstoff.

Amerika will Saddam beseitigen, um ein Exempel zu statuieren: kein Aufstand in der Dritten Welt. Auch wenn Saddam selbst nicht an die ganze Dritte Welt dachte, sondern nur an den arabischen/islamischen Raum. Das ist seine Welt. Dort wollte er seine persönlichen und irakischen Ambitionen verwirklichen. In seinen eigenen Augen ist er Hammurabi und Nebukadnezar, Saladin und Nasser. Der Führer des arabischen und islamischen Aufstandes gegen den Westen, der jetzt der Norden ist.

Von allen möglichen Szenarien, dieses ist das gefährlichste. Es hängt nicht von einem Sieg Saddam Husseins ab, es kann sich auch verwirklichen, wenn Saddam umkommt. Vielleicht dann noch mehr. Tote Helden können gefährlicher sein als lebendige. In unserer Gegend machen Legenden Geschichte.

Die meisten Israelis haben diesen Krieg begrüßt, sie waren froh, daß Amerika die Gefahr beseitigt, die unser Leben bedroht hat. Aber sie haben sich keine Gedanken darüber gemacht, was danach im Irak passieren soll.

Es besteht eine große Wahrscheinlichkeit, daß nach dem Zusammenbruch des Saddam-Regimes der Irak eine islamisch-schiitische, fundamentalistische Republik wird, ein iranisches Protektorat, ein Herd der islamischen Revolution im ganzen Raum. Das würde einen israelischen Alptraum wahrmachen: die »östliche Front«, die vereinigte Macht von Iran, Irak, Syrien und Jordanien, gegen Israel ausgerichtet, mit den Massenvernichtungswaffen versehen, von denen Saddam nur träumen konnte.

Das ist die wirkliche Gefahr. Es ist noch nicht zu spät, ihr vorzubeugen, sich mit den säkular-nationalen Elementen, und besonders der PLO, zu verständigen. Das kann den wichtigsten Giftherd unschädlich machen, den Ausbruch des Vulkans verhindern und uns jedenfalls aus der Feuerlinie ziehen.

Leider sieht es nicht so aus, als ob Israel dazu imstande wäre. Wir haben das Nessosgewand an.

* Mit irakischer Flagge und Porträts von Saddam Hussein und Arafat.

Uri Avnery
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