»Wir verleugnen unsere Geschichte nicht«
SPIEGEL: Senator Chiaromonte, Ihre Partei hat bis Ende Januar die christdemokratische Regierung Andreotti mitgetragen, dann gestürzt. Wollen Sie mit den Christdemokraten nichts mehr zu tun haben?
CHIAROMONTE: Die DC trägt die Hauptschuld daran, daß die Regierungsmehrheit zerbrach und jetzt Neuwahlen unvermeidlich sind. Wir bekämpfen deshalb die jetzige konservative Politik der DC -- und hoffen, daß sie sich ändert. Denn wir bleiben dabei, daß Italien zur Bewältigung seiner Krise eine Regierung aller demokratischen Kräfte braucht.
SPIEGEL: Welche Abmachungen, die Ihre Partei zwischen 1976 und 1978 mit der DC traf, hat die Minderheitsregierung Andrèotti mißachtet?
CHIAROMONTE: Sie hat zu wenig für den italienischen Süden getan -- denken Sie nur mal an die vielen arbeitslosen Jugendlichen in Neapel. Sie verschleppte Reformen im Bildungswesen und bei der Polizei. Außerdem hat sie die schon beschlossene Reorganisation der Geheimdienste nicht verwirklicht. Infolgedessen kann der Staat die Terroristen nicht wirksam bekämpfen.
SPIEGEL: Es war wohl eine Illusion zu glauben, die KPI könne mit der eher rechten DC linke Reformen verwirklichen.
CHIAROMONTE: Wir mußten so handeln, und die Zusammenarbeit mit der DC hat dem Land auch genützt. Das demokratische System geriet trotz der Terroranschläge nie wirklich in Gefahr; überdies konnte eine Finanz- und Währungskatastrophe vermieden werden.
SPIEGEL: Also lieber Stabilitätspolitik als Reformen?
CHIAROMONTE: Wir Kommunisten haben die Interessen Italiens immer den Interessen unserer Partei vorangestellt. Die DC hingegen versuchte nach und nach, unsere verantwortungsvolle Politik für sich auszunutzen. Und da konnten wir nicht mehr mitmachen.
SPIEGEL: Ihre Partei drängt auf Regierungsbeteiligung, was die DC ablehnt. Andererseits schlug die KPI auf ihrem Parteitag wieder Klassenkampf-Töne an und präsentierte sich als Oppositionspartei.
CHIAROMONTE: Sehen Sie, die KPI war immer eine regierungswürdige, staatstragende Partei, auch in der Opposition. Sogar während des Kalten Krieges, als man uns Kommunisten verunglimpfte, verhielten wir uns wie Demokraten und Patrioten. Darin liegt unsere Stärke -- im Unterschied zu anderen KPs in Westeuropa. So haben wir uns immer für die praktische Lösung von Problemen eingesetzt und nicht bloß Propaganda gemacht für einen schönen Sozialismus, der irgendwann einmal kommen soll.
SPIEGEL: Fast alle Prognosen für die Juni-Wahlen sagen voraus, daß die KPI weit unter ihrem Ergebnis von 1976, nämlich 34 Prozent Stimmenanteil, bleiben wird. Also ein Vertrauensschwund bei den Wählern?
CHIAROMONTE: Ich bin nicht so pessimistisch. Wir stehen zu dem, was wir seit 1976 gemacht haben, wir brauchen uns bei den Wählern nicht zu entschuldigen. Wir werben sogar um mehr Stimmen, ohne uns dabei festzulegen, ob wir in der Opposition bleiben oder Regierungsverantwortung übernehmen.
SPIEGEL: Hängt das nicht in erster Linie vom Wahlergebnis ab?
CHIAROMONTE: Nein, um Himmels willen.
SPIEGEL: Im jetzt beginnenden Wahlkampf verkündet die KPI, daß der italienische Sozialismus nur auf einem »dritten Weg« zwischen So
* Auf dem KPI-Parteitag vergangene Woche in Rum.
wjetkommunismus und Sozialdemokratie zu erreichen sei. Und auf ihrem Parteitag hat die KPI vergangene Woche erstmals ein Programm des »dritten Weges« beschlossen. Wie soll dieser Weg aussehen?
CHIAROMONTE: Da müßte man weit ausholen, deshalb hier nur Stichworte: Obwohl die KPI aus historischen Gründen mit Lenin und der Sowjet-Union verbunden ist, können wir die sozialistischen Länder Osteuropas nicht zum Modell für uns machen. Aber wir wollen auch nicht den Sozialdemokraten Westeuropas folgen, weit sie, statt den Kapitalismus zu überwinden, diesen nur abwandeln. Unser »dritter Weg« ist kein Rezept, sondern in erster Linie ein Erforschen.
SPIEGEL: Offenbar hat er aber noch zu keinen nennenswerten Lösungen geführt. Auch Berlinguer hat auf dem Parteitag nur kurz und vage vom »dritten Weg« gesprochen.
CHIAROMONTE: Nun, einige Punkte sind doch schon klar. Beispielsweise im Wirtschaftsbereich: Wir lehnen eine umfassende Verstaatlichung der Produktionsmittel ab und wollen der privaten Unternehmer-Initiative Raum lassen -- im Rahmen einer demokratischen Planung des Wirtschaftswachstums natürlich. In anderen Bereichen überlegen wir noch. Beim »dritten Weg« ist es ja nicht wie beim katholischen Katechismus, wo Fragen und Antworten schon feststehen.
SPIEGEL: Der Parteitag hat im übrigen die Verpflichtung jedes Mitgliedes zum Marxismus-Leninismus aus den Statuten gestrichen. Aber Berlinguer rühmte Lenin und die Sowjet-Union als Schrittmacher des Sozialismus. Ein Widerspruch?
CHIAROMONTE: Das finde ich nicht. Die betreffende Bestimmung wird nämlich schon lange nicht mehr angewandt. Oftmals ist nicht die Ideologie, sondern unser politisches Programm für den Parteibeitritt ausschlaggebend. Dieser Wandel hindert uns aber keineswegs, Lenin auch weiterhin als bedeutendste Persönlichkeit des 20. Jahrhunderts anzusehen, und zwar als Führer der Revolution und als Theoretiker. Niemand kann verlangen, daß wir unsere Geschichte verleugnen. Umgekehrt fordern wir dies ja auch nicht von anderen Parteien, nicht einmal von den deutschen Sozialdemokraten.