»Wir waren einer Katastrophe noch nie so nah«
SPIEGEL: Herr Pollard, wie nahe waren wir auf Three Mile Island bei Harrisburg einer nuklearen Katastrophe?
POLLARD: In Amerika jedenfalls waren wir ihr noch nie so nahe wie in den letzten Tagen. Bis heute ist nicht zu übersehen, welche Schäden am Reaktor und am Brennstoff entstanden sind. Aber eins steht fest: Wir sind der nuklearen Katastrophe nur mit knapper Not entgangen.
SPIEGEL: Und wie hätte diese Katastrophe ausgesehen?
POLLARD: Als sich am Sonnabend vorletzter Woche eine Wasserstoffblase im Reaktor gebildet hatte, hielt ich regelmäßig Kontakt mit dem Operations Center der »Nuclear Regulatory Commission« (NRC) und mit einer Reihe von Technikern, die vor Ort waren. Zu jenem Zeitpunkt gingen die Experten davon aus, daß entweder das Reaktorgebäude explodiereren, der Reaktor durchbrennen oder aber daß beides passieren könne.
SPIEGEL: Wäre es da nicht richtig gewesen, zumindest die Menschen zu evakuieren, die im nahen Umkreis leben?
POLLARD: Genau das haben wir empfohlen. Wir haben am vorletzten Sonnabend vorgeschlagen, sofort mit der Evakuierung zu beginnen.
SPIEGEL: Welchen Grund hatten Sie für diese Empfehlung?
POLLARD: Selbst die Experten vor Ort wußten nicht genau, was in dem Reaktor passierte und was in den nächsten Stunden passieren würde.
SPIEGEL: Die Experten saßen doch im Kontrollraum mit allen Instrumententafeln und Warnlichtern.
POLLARD: Die Instrumente geben nicht genau diejenigen Informationen, die im Notfall gebraucht werden. Dafür nämlich sind sie nicht ausgelegt. Das Operationszentrum war darauf angewiesen, aus einer Reihe von Meßwerten auf jenen Wert zu schließen, der für die jeweilige Situation entscheidend war, Häufig genug mußte man sich dabei mit einer Mischung aus Wissen und Vermutungen abfinden.
SPIEGEL: Wissen die Experten denn heute, was in dem Reaktor geschieht?
POLLARD: Nein, im Gegenteil, sie wissen es wahrscheinlich noch weniger als vor einigen Tagen. Aus einer Reihe von Gründen ist die Situation noch keineswegs bereinigt.
SPIEGEL: Ist das nicht alles üble Schwarzmalerei?
POLLARD: Kaum. Lassen Sie mich ein Beispiel geben: Bei der Notkühlung des Reaktors werden Pumpen eingesetzt, die mit dem normalen Strom vom E-Werk betrieben werden. Würde dieser Strom zum Beispiel durch ein Gewitter ausfallen, käme der Reaktor sofort wieder in eine überaus kritische Phase.
SPIEGEL: Auf dem Gelände gibt es aber doch dieselgetriebene Notstromaggregate, die den Antrieb der Pumpen übernehmen könnten.
POLLARD: Aber diese Aggregate sind viel zu schwach. Für die Kühlung ist das Kraftwerk auf den normalen Netzstrom angewiesen.
SPIEGEL: Warum wissen die Techniker über die Zustände im Reaktor nicht genauer Bescheid als vor einigen Tagen?
POLLÄRD: Viele Instrumente zeigen heute viel ungenauere Meßwerte an als vor einer Woche. Die Strahlung im Reaktorgebäude ist so unglaublich stark, daß sich zum Beispiel die physikalischen Eigenschaften von Kabeln verändern.
SPIEGEL: Halten Sie denn entgegen allen Versicherungen der Regierungsvertreter und der Techniker vor Ort die Situation im Harrisburg-Reaktor noch immer für gefährlich?
POLLARD: Ich weiß es einfach nicht. Ich glaube den Sprechern der Atomkommission ebensowenig wie anderen Experten. die behaupten, sie verfügten über sichere Informationen. Während der letzten Tage wurde mir soviel erzählt, was vernünftig klang, sich aber später als falsch herausstellte, daß ich einfach nicht mehr bereit bin, irgendwelche Thesen zu akzeptieren.
SPIEGEL: Ist das befürchtete Durchbrennen des Reaktors etwa noch immer möglich?
POLLARD: Dieser äußerste Fall ist glücklicherweise unwahrscheinlich geworden, das ist nicht mehr das Problem.
SPIEGEL: Und was ist jetzt das Problem?
POLLARD: Die Strahlung im Reaktorgebäude erreicht ungefähr 30 000 rem pro Stunde, ein Vielfaches jener Dosis, die für Menschen absolut tödlich ist. Wenn zum Beispiel jetzt irgendein anderes Bauteil des Reaktors versagt, wenn zum Beispiel wieder ein Ventil klemmt, dann hätte das schon sehr unangenehme Folgen.
SPIEGEL: Welche Folgen hätte ein Durchbrennen gehabt? Wäre zum Beispiel das rund 200 Kilometer entfernte New York mit seinen acht Millionen Einwohnern in Gefahr geraten?
POLLARD: Gehen wir doch einmal von jener Studie aus, die von hochangesehenen Experten ausgearbeitet und von der Reaktorindustrie in Amerika und Deutschland beinahe als Bibel geschätzt wurde ...
SPIEGEL: ... Sie meinen den Rasmussen-Report*?
POLLARD: Ja, diesem Bericht kann wirklich niemand vorwerfen, er verstoße gegen die Interessen der Industrie Lind spiele die Gefahren von Atomkraftwerken hoch. Im ungünstigen der bei Rasmussen analysierten Fälle -- nicht der möglichen Fälle -- sollte sieh folgende Todesbilanz ergeben: 3300 Menschen würden relativ rasch sterben, ungefähr 45 000 würden in den folgenden 10 bis 45 Jahren an den Folgen des Unfalls vorzeitig sterben.
Ferner seien 45 000 Fälle von Krebs und 5100 Fälle von Mißbildungen bei Neugeborenen in der ersten Nach-Unfall-Generation wahrscheinlich. darüber hinaus Sachschäden von 14 Milliarden Dollar und eine radioaktive Verseuchung von 3000 Quadratmeilen.
SPIEGEL: Hätte eine Reaktorkatastrophe in Harrisburg auch diese Folgen gehabt?
POLLARD: Ich habe noch nicht die Zeit gehabt, die Region und ihre Bevölkerungsdichte zu analysieren. Aber abgesehen davon: Der Reaktor liegt an einem unserer großen Flüsse, der in eine fischreiche Bucht mündet. Wenn es ein Durchschmelzen gegeben hätte, wäre eine ganze Region auf Jahre oder Jahrzehnte ruiniert worden.
SPIEGEL: Sie und andere Techniker behaupten, der in Harrisburg von
* Normart C. Rasmussen vom angesehenen Massachusetts Institute of Technology hat 1975 im Regierungsauftrag eine Expertise über die Sicherheit von Atomkraftwerken ausgearbeitet. Darin findet sieh unter anderem die These, Unfälle wie der von Harrisburg seien mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschließen.
der Firma Babcock & Wilcox gebaute Druckwasserreaktor-Typ sei besonders störanfällig und gefährlich. Meinen Sie damit das Verfahren -- andere Firmen bauen beispielsweise sogenannte Siedewasserreaktoren -, oder meinen Sie dieses bestimmte Reaktormodell?
POLLARD: Gerade die Druckwasserreaktoren von Babcock & Wilcox haben ihre besonderen Probleme, das ist auch in dieser Affäre wieder deutlich geworden. Ihr ganzes Kühlwassersystem ist nicht in Ordnung.
SPIEGEL: Wenn dieser Reaktortyp tatsächlich gravierende Schwächen hat, wieso sind diese Schwächen dann nicht vorher entdeckt worden, und wieso hat die staatliche Nuclear Regulatory Commission neun Reaktoren dieser Bauart die Betriebserlaubnis gegeben?
POLLARD: Die Mängel waren durchaus bekannt, auch die NRC hat von diesem Konstruktionsfehler gewußt. Die zuständigen Prüfer des Reaktors bei Harrisburg standen im letzten Jahr vor einer unangenehmen Situation: Bei einer Verweigerung der Erlaubnis hätten sie indirekt zugegeben, daß sie vorher acht unsichere Anlagen für sicher erklärt haben.
SPIEGEL: Sie schätzen die Urteilsfähigkeit und die Unabhängigkeit der Atomkommission ziemlich gering ein?
POLLARD: Deshalb bin ich ja vor drei Jahren dort ausgestiegen. Das Genehmigungsverfahren in den Vereinigten Staaten ist eine ziemliche Schande. Als ich in der Kommission arbeitete, sind Anlagen genehmigt worden, von denen gewissenhafte Experten wußten, daß sie. erhebliche Mängel hatten und eigentlich nicht genehmigt werden durften.
SPIEGEL: Warum wurden sie dann genehmigt?
POLLARD: Ach wissen Sie, das ist meistens ziemlich einfach. Man nimmt einen Experten. bezahlt ihm eine Menge Geld und fragt ihn: Halten Sie den Bereich, für den Sie verantwortlich sind und den Sie gut kennen, für sicher? Natürlich ist die Antwort ja. Sollten die Experten von der NRC etwa sagen: »Wir haben zwar 70 Reaktoren genehmigt, aber viele sollten besser gestoppt werden, denn unser Urteil war falsch«? Es ist nur zu menschlich, daß ein solcher Widerruf ausbleibt. Daneben mag gelegentlich auch Bestechung eine Rolle gespielt haben. Auch die Tatsache, daß manche Experten der Regierungskommission aus der Industrie stammen und umgekehrt Regierungsfachleute in die Industrie gegangen sind, hat sicher nicht zu einem objektiven Urteil beigetragen.
SPIEGEL: Sind eigentlich die verschiedenen Reaktortypen unterschiedlich sicher? st beispielsweise der Siedewasserreaktor der Deutschen weniger unfallträchtig als der in den USA verbreitete Druckwasserreaktor?
POLLARD: Grundsätzlich hat jeder Typ von Reaktor, jedenfalls jeder Reaktortyp, den ich kenne ...
SPIEGEL: ... kennen Sie denn die deutschen?
POLLARD: Durchaus. Ich habe zum Beispiel an Hearings über die Kernkraftkomplexe in Wyhl und in der Nähe von Bremen teilgenommen. Dabei habe ich die Eigenarten der deutschen Reaktoren recht genau studieren können.
SPIEGEL: Sind die deutschen Reaktoren sicherer als die amerikanischen?
POLLARD: Grundsätzlich ist bei keinem der jetzt bekannten Reaktortypen die Gefahr eines Durchbrennens mit absoluter Sicherheit auszuschließen, bei keinem amerikanischen und bei keinem deutschen. Sehen Sie, wir alle müssen abwägen, auf der einen Seite stehen gewisse Unbequemlichkeiten einer schlechten Stromversorgung und höhere Preise, auf der anderen Seite mehr Gesundheit und mehr Sicherheit.
SPIEGEL: Ist das nicht arg vereinfacht?
POLLARD: Wenn man das Problem konsequent durchdenkt, kommt man irgendwann an diesen Punkt. Das Durchgehen eines Atomkraftwerks, das Schmelzen des Kerns, ist nun einmal so etwas wie die Detonation einer kleinen Atombombe. Und die Gesellschaft muß sich darüber klar werden, ob sie dieses Risiko hinzunehmen bereit ist. SPiEGEL: Empfehlen Sie, alle Kraftwerke zu schließen?
POLLARD: Ich zögere mit der Antwort, denn das ist eine hochkomplizierte Entscheidung, zu der ich allenfalls als Bürger, nicht als Atomtechniker Stellung nehmen kann. Angesichts der unleugbaren Gefahren der Atomkraft, angesichts der ungelösten Probleme der Wiederaufbereitung und der Lagerung hin ich zumindest skeptisch. Ich würde eher dafür plädieren, daß wenigstens ein Teil der Mittel, die in die Atomkraft investiert wurden, in Energiesparmaßnahmen und in die Entwicklung alternativer Energiequellen gesteckt wird.
SPIEGEL: Die geplante Wiederaufbereitung und die Lagerung des Atommülls hat in Deutschland eine heftige Kontroverse ausgelöst. Wie beurteilen Sie diese Probleme?
POLLARD: Ich halte sie für prinzipiell unlösbar. Die Menschheit hat bisher nicht bewiesen, daß sie intelligent genug ist, gefährlichen Abfall 200 000 oder 250 000 Jahre lang ohne jedes Risiko für die in der Nähe lebende Bevölkerung zu lagern. Im Paradies, wo niemand einen Fehler macht, könnte das Ganze gutgehen. Aber in der realen Welt, wo Fehler einfach unvermeidlich sind, ist es nun einmal anders. Ich glaube nicht, daß wir mit den Problemen in absehbarer Zeit wirklich fertig werden. Die ganze Sache ist einfach zu komplex und zu gefährlich.
SPIEGEL: Neben der Atomaufbereitungs- und -lagerungsanlage, die in Gorleben entstehen soll, bauen die Deutschen an einem neuen Kraftwerkstyp, dem Schnellen Brüter. Halten Sie diesen Typ für genauso gefährlich wie die Anlage von Harrisburg?
POLLARD: Ganz ohne Zweifel ist er noch gefährlicher. SPIEGEL: Warum?
POLLARD: Nun, wenn in dem Schnellen Brüter etwas Vergleichbares passiert wie in dem von Harrisburg, dann ginge es nicht nur um ein Durchbrennen, denn ein Brüter würde hochgehen wie eine Atombombe.
SPIEGEL: Sie haben viele Jahre bei der Entwicklung von Reaktoren mitgeholfen. Was hat Sie eigentlich bewogen, Ihre Ansicht so radikal zu ändern und sich auf die Seite der Atomkraftgegner zu schlagen?
POLLÄRD: Der erste Zweifel kam vor etlichen Jahren. Damals war ich als Marineoffizier auf einem Atom-U-Boot für den Nuklearbereich zuständig. Jahrelang habe ich meinen Leuten gesagt, daß der Reaktor absolut sicher sei; gefährliche Zwischenfälle könne es einfach wegen der umfassenden Sicherheitssysteme nicht geben. Dann trat einer dieser Zwischenfälle ein. Wir hatten Glück und bekamen ihn unter Kontrolle. Aber für mich hatte sich Entscheidendes getan.