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»Wir werden daran ersticken«

aus DER SPIEGEL 6/1991

Im März 1988 brachte die Regierungszeitung Iswestija die aufsehenerregende Meldung, daß ein sowjetisches Unternehmen sich geweigert habe, den staatlichen Produktionsplan zu akzeptieren. Es handelte sich um einen einzigartigen revolutionären Akt: Ein Betrieb irgendwo in der Provinz wagt es, das Zentrum der staatlich kontrollierten Wirtschaft zu provozieren.

60 Jahre lang, seit Stalin die Kommandowirtschaft durchgesetzt hatte, arbeiteten Heerscharen von Bürokraten in Moskau Jahr für Jahr Produktionspläne für jede Wirtschaftseinheit im Staat aus: für 46 000 Industriebetriebe, 50 000 Sowchosen und Kolchosen, 32 000 Baubrigaden sowie für Hunderttausende von Lagern, Kaufhäusern, Einzelhandelsgeschäften, Reparaturwerkstätten und Vertriebszentren. Diese Herkulesarbeit war unter der Federführung von Gosplan organisiert, dem staatlichen Plankomitee.

In der Stalin-Ära und dann unter Chruschtschow und Breschnew bekam das bloße Wort Gosplan eine mystische Dimension, die Macht und Autorität bedeutete. In den Augen der sowjetischen Marxisten veranschaulichte der Plan die wissenschaftlich rationale Organisation der Macht des Staates.

Der Plan war die Formel, mit der maximales Wachstum erreicht und der kapitalistische Westen überholt werden sollte. Der Plan stand für den sowjetischen Sozialismus, Gosplans Wort war Gesetz.

Leitende Angestellte der sowjetischen Industrie haben mir erzählt, daß der Plan in den Betrieben in Form überdimensionaler Bücher ankam, die so groß, so dick und so voller Kleingedrucktem waren wie das Telefonbuch Manhattans. Im Plan war bis ins kleinste Detail festgelegt, was der ganze Betrieb zu produzieren hatte, die Art und die Beschaffung des Materials, die Preise, der Kundenkreis, die Produktionszeit, die Zahl der Arbeiter, die Höhe der Löhne.

Diese dicken Bücher mit ihrem Wust an peniblen und detaillierten Anweisungen verkörperten die stalinistische Zentralplanung. Nun aber gab es auf einmal den Skandal, daß ein sowjetischer Betrieb sich respektlos gegen das System der dicken Bücher stellte: Uralmasch, einer der größten sowjetischen Industriegiganten, ein Schwerstgewicht der Rüstungs- und Maschinenbauindustrie.

Unter der Federführung von Gosplan hatte das Ministerium für Schwermaschinenbau das Produktionsziel von Uralmasch für das Jahr 1988 auf 610 Milliarden Rubel festgelegt. Uralmasch weigerte sich, dieses Produktionsziel zu akzeptieren und erhob massive Einwände gegen den Plan des Ministeriums.

Uralmasch argumentierte, daß einerseits die Berechnungsgrundlagen zu hoch angesetzt worden seien und daß es außerdem absurd sei, von dem Betrieb die Herstellung von Produkten zu verlangen, die seine Kunden in der Vergangenheit abgelehnt hatten. Des weiteren sehe sich Uralmasch weder in der Lage, die zur Produktion notwendigen Einzelteile in ausreichender Zahl zu bekommen, noch verfüge man über die erforderlichen Maschinen.

Ein Sprecher der Geschäftsführung und der Arbeiter des großen Betriebs bezeichnete die Anweisungen der Regierung als »realitätsfremden Plan«, der für die alte »willkürliche Planung« der Breschnew-Zeit charakteristisch sei und »im Widerspruch« zu der neuen Linie Gorbatschows stehe.

Wie die Iswestija berichtete, »appellierte Uralmasch an den Sinn für Realität: Man soll sich keinem Plan unterwerfen, dessen Erfüllung offensichtlich nicht möglich ist«.

In der Vergangenheit hatten Betriebsleitungen hinter den Kulissen versucht, die Produktionskontingente herunterzuhandeln, um die Arbeitslast zu verringern. Ein offener Konflikt, so wie ihn Uralmasch losgetreten hatte, bedeutete jedoch wirtschaftliche und politische Häresie.

In den Wochen danach versuchten dann auch 17 Betriebe dieselbe Taktik, wurden aber abgeschmettert. Lediglich Uralmasch war stark genug, eine Revision seines Plansolls durchzusetzen. Es war ein sehr seltener Sieg.

Im Juni 1987, zwei Jahre nach seiner Wahl zum Generalsekretär der KPdSU, verkündete Gorbatschow sein großes Wirtschaftsmanifest, eine schwere Anklage der starren stalinistischen Kommandowirtschaft, die er geerbt hatte, und ein Aufruf zu »revolutionären Veränderungen«, durch die sich die Sowjetunion von einem System zentralistischer Kontrolle und militärischer Prägung wegbewegen und sich auf ein System mit Elementen einer freien, flexiblen Marktwirtschaft hinbewegen sollte. In einer Rede vor dem Zentralkomitee, die gespickt war mit Begriffen wie Leistungsfähigkeit, Gewinn und Verlust, echter Wettbewerb, sprach sich Gorbatschow für »mehr Demokratie« in der sowjetischen Wirtschaft aus.

Den Industriebetrieben stellte er eine neue Unabhängigkeit in Form »wirtschaftlicher Verantwortung und Selbstverwaltung« in Aussicht. Er zeigte sich entschlossen, der lähmenden Schwerfälligkeit der dirigistischen Wirtschaft ein Ende zu machen und die Macht der zentralistischen Bürokratie zu beschneiden.

Doch so radikal er auch war, Gorbatschow war nicht bereit, die zentrale Wirtschaftsplanung aufzugeben, und noch viel weniger, sich dem Kapitalismus anzunähern. »Wir suchen eher im Sozialismus als außerhalb nach den Antworten auf alle sich stellenden Fragen«, erklärte Gorbatschow später. »Wir bewerten unsere Erfolge und Irrtümer gleichermaßen nach den Kriterien des Sozialismus. Wer hofft, daß wir den Weg des Sozialismus verlassen, wird eine große Enttäuschung erleben.«

Seine Kritik richtete sich jetzt gegen den Anspruch der zentralen Planer auf Allwissenheit und Allmacht. »Es ist eine Illusion«, erklärte er, »zu glauben, daß die zentrale Planung bei einer so großen Wirtschaft wie der unseren alles vorhersehen könne.« Globale Strategie ja, Planung bis ins Detail nein.

In einer Sprache, die eher die eines westlichen Marktanalytikers als die eines führenden kommunistischen Politikers war, griff Gorbatschow eine weitere heilige Kuh an: das System der festen Preise, die von den zentralen Planern für über 200 000 Güter festgelegt wurden.

»Wer Erzeugnisse produziert, deren Preise ungerechtfertigt niedrig sind, ist nicht daran interessiert, die Produktion zu erhöhen«, sagte er, »und wer aufgrund zu hoher Preise Gewinne erzielt, ist nicht daran interessiert, die Kosten zu verringern und wirtschaftlicher zu arbeiten. Bei diesem Stand der Dinge sind normale Wirtschaftsbeziehungen einfach nicht möglich.«

Gorbatschow zählte eine lange Sündenliste dessen auf, was die Reformer jetzt als das stalinistische »Kommandoverwaltungssystem« bezeichneten: Ermutigung zu massiver Verschwendung, ebenso massives Horten von Beständen in der Industrie, Beschäftigung unnötig vieler Arbeitskräfte, Päppeln unrentabler Betriebe. In späteren Reden beklagte Gorbatschow immer wieder das gedankenlose »Ausspucken hoher Bruttoproduktionswerte«.

Gorbatschow ging nicht auf die Hauptursache der wirtschaftlichen Probleme des Landes ein. An dem System der Zentralplanung hielt die sowjetische Führung nach wie vor fest. Das hatte ideologische Ursachen; vor allem aber bewertete man bestimmte Dinge historisch weiterhin als bedeutende Errungenschaften des zentralistischen Systems.

Gorbatschow gehört einer Generation an, die sich, trotz ihrer Abkehr von Stalin, noch daran erinnert, wie die militarisierte Kommandowirtschaft die Energien der Nation auf eine kleine Zahl von Prioritäten konzentriert hatte, auf Rüstung, Raumfahrt sowie bestimmte Elemente der Schwerindustrie. So war aus Sowjetrußland, das nach dem Ersten Weltkrieg in der Weltpolitik nur eine Nebenrolle gespielt hatte, eine atomare Supermacht geworden.

Die Planung hatte in einigen besonders wichtigen Sektoren funktioniert, in denen Quantität ein brauchbarer Erfolgsmaßstab war, wie bei der Stromversorgung und der Produktion von Rohöl, Gas, Eisenerz und Stahl. Doch handelte es sich hier um Rohmaterialien, nicht um Endprodukte, um die Produktion eines Entwicklungslandes, nicht um die hochentwickelten Güter eines modernen Industriestaates.

Als sich im Lauf der Jahre die Leitung einer modernen Wirtschaft als immer komplexeres Unterfangen erwies, traten die Schwächen und Grenzen des sowjetischen Systems deutlich zutage. Eine Wirtschaft der rauchenden Fabrikschlote konnte im Zeitalter der Information nicht mithalten. Das explosionsartige Aufkommen der Elektronik, ganz zu schweigen von der Differenzierung in Millionen verschiedenartiger, moderner Produkte, machte es illusorisch zu glauben, man könne einen einzigen Plan für die Wirtschaft aufstellen und diesen bis ins letzte Detail ausfeilen.

Da »Plansollerfüllung« bedeutete, daß wirtschaftlicher Erfolg in Quantität und nicht in Gewinnen gemessen wurde, kam es oft zu absurden Ergebnissen. Das System produzierte Zehntausende von Traktoren und Mähdreschern, für die es keine Ersatzteile gab. Millionen Paar Schuhe fanden keine Abnehmer, da sie keinem paßten.

In der Industrie entmutigte die »Plansollmentalität« Modernisierungsversuche, weil eine Unterbrechung der Produktion zwecks Aufbau neuer Maschinen unweigerlich bedeutete, hinter die Produktionskontingente zurückzufallen. Erfindungen und Innovationen störten die Plansollerfüllung nur, sie wurden als Ärgernis und nicht als Fortschritt empfunden.

Das Nebeneinander von enormer Verschwendung und gravierender Unterversorgung ist ein weiteres Merkmal der sowjetischen Wirtschaft. Die zentrale Planung legte nämlich nicht nur Produktionskontingente fest, sondern wies auch Rohstoffe und Einzelteile zu. Wegen der ewigen Engpässe stockten clevere Manager die Bestände an benötigten Teilen und Zubehör auf. Dies führte dazu, daß im großen Stil gehortet wurde, wodurch sich die Engpässe noch verschlimmerten - ein Teufelskreis.

Im übrigen gereichte es allen zum Vorteil, ein unsauberes Spiel zu spielen. Die Planer stiegen in der Gunst der Politiker, indem sie ehrgeizige wirtschaftliche Ziele setzten, die der Reformwirtschaftler Nikolai Schmeljow als »Phantasieplanziele« bezeichnete. Da Betriebsleitungen und Arbeiter für die Erfüllung dieser Ziele einen Bonus erhielten, gingen sie dazu über, ihre tatsächlichen Ergebnisse hinter falschen Berichten zu kaschieren. Betrug war endemischer Bestandteil des Systems.

Eine der wesentlichen Absichten, die Gorbatschow mit seinem neuen Wirtschaftsprogramm verfolgte, war offenkundig die, das System mit einer gehörigen Portion Offenheit von oben aus seiner Lethargie aufzurütteln und in die Realität zurückzuholen. In seinem Wirtschaftsmanifest vom Juni 1987 erklärte Gorbatschow, in vier Bereichen entscheidende Veränderungen vornehmen zu wollen. Es handelte sich um die Rechte der Betriebe, die Macht der Zentralbehörden, die Rolle der Preise und die Entwicklung eines umfassenden Marktes.

Eckpfeiler seiner neuen Politik war, die bürokratischen Kontrollen der Landwirtschafts- und Industriebetriebe sowie der Industriekombinate zu verringern. Gorbatschow: »Das Unternehmen erstellt, ausgehend von den tatsächlichen Bedürfnissen der Gesellschaft, einen Plan für Erzeugung und Verkauf seiner Produkte.«

Die Organe der Zentralverwaltung sollten zwar den Unternehmen weiterhin Produktionsvorgaben machen. Doch diese Produktionsvorgaben, sagte er, »sollten nicht als Weisungen verstanden werden, und das Unternehmen sollte sich bei der Ausarbeitung seines Plans nicht durch sie gebunden fühlen, sondern ihm vielmehr ausreichenden Spielraum lassen bei Entscheidungen und der Partnerwahl beim Abschluß wirtschaftlicher Vereinbarungen«.

Ferner versprach Gorbatschow eine radikale Preisreform, die zu Beginn des neuen Fünfjahresplans für 1991 bis 1995 greifen solle: »Ohne eine Preisreform ist eine völlige Umstellung auf den neuen Mechanismus nicht möglich. Preise müssen ein wichtiger Anreiz sein für eine bessere Nutzung der Ressourcen, die Verringerung der Kosten, eine höhere Produktqualität, für schnelleren Fortschritt in Wissenschaft und Technik sowie bei der Rationalisierung des gesamten Verteilungs- und Konsumsystems.«

Schließlich sprach er sich dafür aus, von dem System der zentralisierten Zuweisung von Rohmaterial und Einzelteilen, das in den Händen von Gossnab lag, abzugehen, und trat für die Einführung eines Großhandelssystems ein, bei dem die Betriebe das, was sie brauchen, einfach voneinander beziehen können. Während Mitte 1987 lediglich fünf Prozent der Industrielieferungen durch zwischen den Betrieben abgeschlossene Großhandelsverträge abgedeckt wurden, sollte dieser Prozentsatz 1992 auf 100 Prozent steigen.

Für die Industriemanager war das eine beeindruckende Vorstellung, ein weitaus kühneres Unterfangen als frühere Versuche einer Wirtschaftsreform unter Nikita Chruschtschow Ende der fünfziger Jahre und 1965 unter Ministerpräsident Alexej Kossygin. Gorbatschow ermunterte die Manager dazu, ihre eigenen Herren zu sein, selbständig zu investieren, Gewinne zu behalten und die Fabriken leistungsfähig zu machen.

Es gab allerdings einige beunruhigende Ungereimtheiten in Gorbatschows Entwurf des neuen »Wirtschaftsmechanismus«. Eine zentrale Planung werde es weiterhin geben, hauptsächlich zur Bestimmung längerfristiger nationaler wirtschaftspolitischer Ziele. Diese seien jedoch nicht verbindlich, sondern es handele sich eher um Orientierungshilfen als um unveränderliche Erlasse.

Die Ministerien könnten für die wichtigsten Güter und Dienstleistungen staatliche Aufträge vergeben. Die Ministerien trügen die Verantwortung für die Sicherstellung einer angemessenen Versorgung in jedem einzelnen Bereich sowie für die Kontrolle der Kosten- und Preisinflation in den Unternehmen, die in ihren Zuständigkeitsbereich fielen. Außerdem werde der Rahmen für Umfang und Prioritäten großer Investitionen in der Industrie weiterhin von Moskau vorgegeben.

Das waren die Bedingungen, die Ministerpräsident Ryschkow als wichtigster Mann der Wirtschaftspolitik und Hauptverteidiger der Bürokratie Gorbatschow abgerungen hatte. Ryschkow kam von Gosplan. Er war der Auffassung, daß die zentrale Planungsmaschinerie notwendig war, um Bedürfnisse und Produktion der Sowjetunion in Einklang zu bringen.

Gorbatschow selbst wollte vermeiden, daß seine Reformgedanken im Proletariat Besorgnis auslösen könnten. Zwar wiederholte er unermüdlich, daß die Arbeiter in der Sowjetunion mehr arbeiten und produzieren und daß überzählige Arbeitsplätze abgebaut werden müßten, versprach ihnen aber gleichzeitig, daß sein neuer Wirtschaftsmechanismus keine Arbeitslosigkeit zur Folge haben werde.

Kurz, Gorbatschows Worte klangen kühn und dramatisch, doch er versuchte sich praktisch in einem unmöglichen Balanceakt: Er vertrat zwei zueinander im Widerspruch stehende Prinzipien, das der Marktwirtschaft und das der zentralisierten Planwirtschaft. Er billigte die Macht zweier rivalisierender Kräfte, der Betriebe und der Ministerien.

Alles hing davon ab, wie das neue System in der Praxis funktionieren würde. Wenn es einen Betrieb gab, in dem die Reform eine gute Aussicht auf Erfolg hatte, dann konnte das nur Uralmasch sein, der aufmüpfige Riese.

Es war nicht leicht, zu Uralmasch zu kommen. Der Betrieb liegt in Swerdlowsk, der Hauptstadt des Ural, ungefähr 1500 Kilometer östlich von Moskau. Der Ural ist eine starke Industrieregion, reich an Eisen, Kohle und anderen Bodenschätzen. Swerdlowsk hat heute 1,4 Millionen Einwohner. 1918 waren hier Zar Nikolai II. und seine Familie von den Bolschewiken hingerichtet worden.

In Swerdlowsk gibt es viele Rüstungsbetriebe, jahrzehntelang war die Stadt für Ausländer gesperrt. Um eine Besuchserlaubnis zu bekommen, hatte ich die Regierung und das Zentralkomitee der KPdSU volle sechs Monate bearbeiten müssen. Schließlich mußte mein Antrag vom Büro des Ministerpräsidenten Nikolai Ryschkow entschieden werden. Er hatte lange Zeit, unter anderem als Generaldirektor, bei Uralmasch gearbeitet.

Uralmasch, also das Werk des Urals für Schwermaschinenbau, ist ein sprichwörtlich aus dem Boden gestampfter Industriegigant. Er wurde 1933 in Betrieb genommen, zu einer Zeit, als die großen Industrieanlagen zumeist in weit von Moskau entfernten Regionen erbaut wurden. Während im Pantheon des sowjetischen Sozialismus die Landwirtschaft immer so etwas wie ein Stiefkind gewesen ist, wurde das Hohelied der Schwerindustrie, deren Symbol Betriebe wie Uralmasch sind, nicht nur auf ideologischer Ebene von der Führung der Sowjetunion gesungen, sondern auch im buchstäblichen Sinn verbreitet. Uralmasch hat eine eigene Betriebshymne und ein eigenes, einstöckiges Museum.

Uralmasch ist heute ein Industriekoloß mit 50 000 Arbeitskräften. Der Betrieb hat gewaltige Hochöfen, Stahlpressen, Grobwalzwerke, Block-Brammen-Walzwerke.

Auf einer Fläche von acht Quadratkilometern steht Werkhalle an Werkhalle. Das Schienennetz auf dem Betriebsgelände ist über 160 Kilometer lang. Kurz gesagt: Uralmasch ist der Inbegriff des sowjetischen Traums von industrieller Größe.

Aber Uralmasch ist auch der Inbegriff der heutigen Wirtschaftskrise in der Sowjetunion. Mit seinen überalterten Produktionsanlagen und einer völlig veralteten Produktionsweise verkörpert der Betrieb die herkömmliche Industrie der rauchenden Schlote. Die brutalen Methoden des Stalinismus, die in den Anfangsjahren der Industrialisierung und im Krieg funktionierten, sind nun zu starr. Sie haben Innovationen abgewürgt und es nicht vermocht, die Arbeiter zu motivieren.

Unauslöschlich in meine Erinnerung eingeprägt hat sich eine Botschaft, die Arbeiter der Halle Nr. 15, der Metallverarbeitung, für die Kunden auf einige Streben gemalt hatten: »Frohes neues Jahr 1989«. Die Streben waren 1988, rechtzeitig zum neuen Jahr, fertiggestellt worden, und jetzt, im September 1989, lagerten sie noch immer in der Halle. Die Perestroika funktionierte offensichtlich nicht wie geplant.

Der Mann, der die Perestroika bei Uralmasch einzuführen hat, heißt Igor Iwanowitsch Stroganow, seit 1985 Generaldirektor des Werks.

Er paßt in das Klischeebild eines sowjetischen Machtmenschen - von bulliger Gestalt, 1,80 Meter groß, 2 Zentner schwer. Er spricht mit einem tiefen, kehligen Knurren und bewegt sich mit dem langsamen, athletischen Schritt eines Gewichthebers.

»Wir haben unzählige Probleme«, knurrt er. »An erster Stelle haben wir zuwenig Arbeitskräfte. Sehen Sie mal, das ist seine zweite Schicht«, sagt er und weist auf den neben ihm stehenden Werksleiter. »Er hat nur Arbeitskräfte für 40 Prozent der verfügbaren Maschinen.«

Sich an den Werksleiter wendend, fragt er: »In der dritten Schicht gibt es noch weniger Arbeiter, stimmt's?« »Stimmt«, erwidert dieser. »Zehn Prozent unserer Maschinen sind nicht ausgelastet, weil wir zuwenig Aufträge haben. Ungefähr 60 Prozent der Maschinen können nicht benutzt werden, weil uns die nötigen Facharbeiter fehlen. Der Rest arbeitet normal.«

Stroganow hatte bei Uralmasch als Arbeiter angefangen. Nach dem Militärdienst wurde er dort Schweißer, belegte Abendkurse am Institut für Bergbau in Swerdlowsk, arbeitete sich zum Vorarbeiter und Werksleiter hoch und wurde dann, nach einer ideologischen Schulung, Parteisekretär von Uralmasch. Danach wurde er zum Generaldirektor ernannt. Stroganow ist der Mann, der Gosplan und dem Ministerium für Schwermaschinenbau wegen des Plans für 1988 die Stirn bot.

Stroganow hatte versucht, Gorbatschows Reformen umzusetzen, indem er den einzelnen Werken mehr Entscheidungsspielraum in den Bereichen Produktion, Arbeitsplan, Zahlungen und Kosten einräumte. Als Bestandteil dieser Selbstverwaltung ermunterten Wirtschaftler und Inspektoren die Arbeiter zur Bildung kleiner Produktionseinheiten und boten als Anreiz zur Produktionserhöhung Beteiligung am Gewinn an. In einigen Werken führte dies zu einer bescheidenen Produktions- und Lohnerhöhung.

Es war Stroganow sogar gelungen, ein unrentables und weit entferntes Zweigwerk an eine neugegründete Industriekooperation zu vermieten. Im größten Teil seines Reiches führte die Perestroika jedoch zu mehr Problemen als Lösungen.

Viele Arbeiter stellten allerlei schwierige Fragen: Was für eine Selbstverwaltung ist das, wenn die Preise immer noch in Moskau gemacht werden? Warum braucht der Betrieb immer noch eine Zentralverwaltung, wenn jedes Werk unabhängig wird? Wie können wir gegenüber dem Westen aufholen?

»Was tun wir eigentlich, wenn wir davon reden, den Westen einzuholen, da wir doch 200 Jahre hinterherhinken?« höhnte ein älterer Mann. »Wir sitzen bloß da und warten, und unsere Bosse sitzen bloß da und tun nichts.«

Die neue Generation von Arbeitern ist nicht länger bereit, sich für den Staat aufzuopfern. Sie verlangt eine bessere Bezahlung, bessere Wohnungen, bessere Arbeitsbedingungen und modernere Produktionsanlagen. Die Arbeiter sind unzufrieden und sehen sich nach etwas Besserem um. Laut Georgij Pospelow, dem Werkssoziologen, hat Uralmasch innerhalb von 18 Monaten 10 Prozent seiner Arbeitskräfte, 5000 Leute, verloren. Ein spürbarer Aderlaß.

Die ständige Abwanderung unzufriedener Arbeiter hat sich zu einem derart ernsten Problem ausgewachsen, daß Uralmasch mit jedem, der den Betrieb verlassen will, ein Gespräch führt. Ich bin dabeigewesen, wie der Personalchef versuchte, eine junge Frau durch das Angebot einer Lohnerhöhung von einer Kündigung abzubringen. Doch nach fünf Jahren bei Uralmasch war sie entschlossen zu gehen. Der Personalchef erkundigte sich nach der Bezahlung, den Arbeitsbedingungen, der von Uralmasch zur Verfügung gestellten Werkswohnung und kam dann zum Kern. »Haben Sie denn schon eine neue Arbeitsstelle?« fragte er. »Ja, ich werde in einer privaten Kooperative arbeiten«, erwiderte sie.

»In einer privaten Kooperative«, wiederholte er angewidert. Dann versuchte er, den neuen konkurrierenden Wirtschaftssektor schlechtzumachen: »Glauben Sie denn, daß die Bewegung der privaten Kooperativen überleben wird?«

An dieser Stelle schaltete sich Pospelow, der Werkssoziologe, ein. »Werden Sie an Ihrem neuen Arbeitsplatz flexible oder eher festgelegte Arbeitszeiten haben?« fragte er die junge Frau. »Nun, bei meiner neuen Stelle heißt es: Je mehr ich arbeite, desto mehr Lohn bekomme ich.«

Pospelow erklärte mir, daß von den Arbeitern, die gekündigt hatten, 12 Prozent zu niedrige Löhne, 20 Prozent schlechte Arbeitsbedingungen und 40 Prozent die unzureichende Wohnung als Kündigungsgrund nannten.

Die Bereitstellung billiger Wohnungen für Arbeiter wird in der Sowjetunion von Großbetrieben erwartet, ein Beispiel für die sowjetische Spielart des Paternalismus. Uralmasch hatte in den letzten Jahren mit der steigenden Nachfrage nicht Schritt halten können. Stroganow sagte mir, daß derzeit 12 000 Arbeiter des Betriebes in unzulänglichen Wohnungen lebten.

Eines Sonntags morgens besichtigte er mit uns fünf- und sechsstöckige Wohnhäuser. Typisch war, daß eine vierköpfige Familie in einem Zimmer lebte und sich Bad und Küche mit anderen Familien teilte.

»Wie lange warten Sie schon auf eine eigene Wohnung?« fragte Stroganow die Frau.

»Seit 1981«, antwortete sie, »seit acht Jahren.«

»Welche Nummer auf der Warteliste haben Sie?«

»2844.«

»In drei Jahren werden Sie bestimmt eine Wohnung bekommen«, versicherte er ihr.

»Das bedeutet, daß wir noch sehr lange in diesem Zustand leben müssen«, entgegnete sie.

Man konnte Stroganow ansehen, wie unangenehm berührt und besorgt er wegen des Wohnungsproblems war. Es nagte an ihm, vor allem, weil das einer der Hauptgründe für die Kündigungen in seinem Betrieb war. Stroganow war deshalb auch bereit, einen Teil der Gewinne in neue Wohnungen, Schulen und Krankenhäuser zu investieren.

Die Sache hatte allerdings einen Haken. Im sowjetischen System genügt es nicht, Geld zu haben, wenn man bauen will.

Stroganow verfügte nicht über eigene Baubrigaden. Er war auf staatliche Bauunternehmen angewiesen. Diese aber stehen unter der Fuchtel der Provinzregierung von Swerdlowsk. Die Regierung kontrollierte auf diese Weise alle Ressourcen des Bauwesens am Ort: Facharbeiter, Maschinen, Steine und Mörtel. Alle größeren Bauvorhaben bedurften ihrer Genehmigung.

Während wir in Stroganows Büro waren, überbrachte sein Bauleiter die schlechte Nachricht, daß die Provinzregierung zwei Drittel seines 50-Millionen-Bauprojekts gestrichen hatte. Stroganow war spürbar frustriert. Er versuchte, über Telefon seine Parteiverbindungen zu mobilisieren, um eine Rücknahme dieser Entscheidung zu erreichen.

»Ihre Entscheidung ist doch absurd«, brach es aus ihm heraus. »Alle unsere Probleme hängen mit dem niedrigen Niveau der Sozialleistungen für unsere Arbeiter zusammen, dem Wohnungsmangel und der täglichen Versorgung. Die Beschneidung der Mittel für Industriebauten kann ich angesichts jüngster nationaler Entscheidungen noch nachvollziehen. Aber die Ablehnung unseres Antrags für den Bau von Wohnungen? Das ist völlig unverständlich!«

Das andere große Problem, vor dem Stroganow wie viele andere Manager steht, ist, wie er die Kontrolle über sein Werk erlangen und das von Gorbatschow verkündete Ziel erreichen kann: Gewinne erzielen, die Fabrik modernisieren und auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig sein. Auf den ersten Blick hat man den Eindruck, Uralmasch befände sich in einer beneidenswerten Lage. Das Werk hat das Monopol für die wichtigsten Schwermaschinen in der Sowjetunion: riesige Löffelbagger für den Bergbau, Bohrtürme für Tiefbohrungen nach Erdöl, Turbinen für Kraftwerke, Kräne, Brückenstreben, Eisenräder für Dampfmaschinen, Erzbrecher, gewaltige hydraulische Pressen und Industriezentrifugen.

Nur: Groß war nicht gleich rentabel. Die meisten Großmaschinen brachten kein Geld ein. Könnte Stroganow seine Vorstellungen von Perestroika umsetzen, würde er die Produktion von Schwermaschinen zum größten Teil einstellen, die Produktionspalette ändern und sich auf das Exportgeschäft werfen.

Er führte Belege dafür an, wie sich die eingefahrenen Wege negativ auf Uralmasch auswirkten. Das Ministerium für Erdölförderung kaufte von Rumänien Bohrtürme zum Preis von fünf Millionen Rubel, zahlte Uralmasch für ähnliche Bohrtürme aber nur eine Million Rubel und weigerte sich, seiner Forderung auf zwei Millionen Rubel zu entsprechen.

Am schlimmsten war es bei den Baggern. Für den Tagebau bevorzugte das Ministerium für Kohleindustrie riesige fahrbare Bagger mit einem 100 Meter langen Arm und einem Löffel mit einem Fassungsvermögen von 100 Kubikmetern, der allein schon zweimal so groß wie ein Wohnzimmer war. Uralmasch stellte in jedem Jahr sieben dieser mechanischen Dinosaurier fertig; die Bauzeit betrug insgesamt drei Jahre. Uralmasch verdiente nicht eine Kopeke daran.

Vor kurzem, erzählte Stroganow, habe Uralmasch für 11,5 Millionen Rubel einen Großbagger an das Kohlekombinat Kemerowo in Westsibirien verkauft. Auf einer Reise nach Kanada habe er ein ähnliches, vielleicht ein wenig ausgefeilteres Modell aus den USA gesehen, das 86 Millionen Dollar gekostet habe.

Stroganow hätte es vorgezogen, die Großmaschinen nicht mehr zu produzieren und statt dessen auf kleinere Bagger umzustellen, mit einem Löffel von fünf Kubikmetern, von der Größe eines VW-Käfers. Diese waren bei ausländischen Kunden sehr gefragt, etwa in Spanien, Österreich, der Bundesrepublik Deutschland, aber auch in Indien, Algerien, dem Iran und den osteuropäischen Ländern.

Der Festpreis für sowjetische Kunden lag bei 190 000 Rubel, im Ausland hingegen konnte man sie laut Stroganow für nicht weniger als 500 000 Rubel verkaufen. Uralmasch exportierte bereits 60 Stück pro Jahr; er wollte diese Zahl verdreifachen.

Doch ihm waren die Hände gebunden. Jedesmal wurde er von den Ministerien in Moskau gebremst. Sie argumentierten, daß andere sowjetische Betriebe ohne die Maschinen, die nur Uralmasch herstellte, zusammenbrechen würden. Das war die Zwickmühle, in der sich Stroganow befand.

Er mußte Staatsaufträge annehmen. Und jedes Ministerium nahm für sich die Befolgung von Gorbatschows Erlaß in Anspruch, daß die Ministerien die Befriedigung der Bedürfnisse der Nation sicherzustellen hätten.

»Wie hoch ist der Anteil staatlicher Aufträge?« fragte ich.

»100 Prozent bei unseren Großbaggern«, antwortete Stroganow, »95 Prozent bei Gußeisenprodukten, 78 Prozent bei Walzanlagen.«

»Ich dachte, Gorbatschow habe versprochen, die Zentralplanung zurückzustutzen«, bemerkte ich. »Hat man sie denn in keinem Bereich zurückgenommen?«

»Bei Kleinbaggern«, erwiderte er, »da haben wir nur 30 Prozent Staatsaufträge.«

»Also können Sie doch tun, was Sie wollen«, mutmaßte ich, »nämlich, mehr Kleinbagger produzieren und sie exportieren?« Stroganow schüttelte den Kopf. Wieder eine Zwickmühle.

Um das zu produzieren, was er möchte, braucht Stroganow große Mengen Rohmaterial, die wieder vom Staat genehmigt werden müssen. Und da bedient sich die Bürokratie in Moskau eines Tricks namens »Limiti«. Das sind in beschränkter Zahl vorhandene oder rationierte Güter, die von Gossnab, dem Staatskomitee für Materialversorgung, zugeteilt werden.

Nach Gorbatschows Plan sollte Gossnab bis Ende 1990 verschwinden, nach Stroganows Worten war es so mächtig wie eh und je, jetzt sogar noch mächtiger als Gosplan: Stroganow muß das produzieren, was der Staat will. Uralmasch war im Netz der immer noch von oben kontrollierten sowjetischen Wirtschaft gefangen.

»Man hat uns die Freiheit gegeben, sie uns aber dann durch Gossnab wieder genommen«, sagte Stroganow. »An die Stelle des Plans sind Staatsaufträge und staatliche Materialversorgung getreten. So oder so, über 95 Prozent unserer Produktion wird entschieden, und wir entscheiden nur über 5 Prozent.«

»Ich kann meine Probleme nicht lösen«, fuhr er fort, »weil die alten Strukturen immer noch existieren. Ich kann nicht einfach losgehen und die Dinge kaufen, die ich brauche, weil, milde gesagt, der offene Markt sehr eingeschränkt ist.«

»Wir haben gesagt: Sie müssen uns die Produkte durch Direktverträge zwischen anderen Firmen und uns verkaufen lassen. Und man sagte uns: Natürlich, das können Sie - irgendwann einmal«, erzählte Stroganow.

Je mehr Stroganow redete, desto mehr ärgerte ihn die Falle, in der er saß. Offenbar war er wegen derselben Themen oft mit der Moskauer Hierarchie in Konflikt geraten, was, wie er mir später erzählte, vielleicht einer der Gründe dafür war, daß er zu seinem Gehalt von 600 Rubel monatlich keine jährlichen Extrazahlungen bekam. Die Entscheidung, welche Direktoren in den Genuß dieser Sonderzahlungen kamen, lag beim Ministerium.

Am folgenden Nachmittag hatte Stroganow eine Sitzung mit einigen seiner Wirtschaftsberater. Wladislaw Grammatin, der Leiter des Tochterunternehmens von Uralmasch für Außenhandel, ließ seiner Frustration über die Stop-and-go-Politik Moskaus freien Lauf: »Da gab es dieses neue Gesetz, nach dem wir angeblich tun konnten, was wir wollten«, erinnerte Grammatin. »Man öffnete die Tore weit, und wir machten uns freudig auf den Weg. Dann aber haute man die Tore gerade vor unserer Nase zu. Es hieß: 'Kontrollen und Genehmigungen. Sie müssen eine Genehmigung vom Außenwirtschaftsministerium beibringen. Dort wird entschieden, ob ein Exportvorhaben rentabel ist oder nicht.'«

Grammatin war für den Export von Gütern im Wert von 150 Millionen Dollar jährlich verantwortlich: »Wir sind keine zwielichtige Firma, sondern ein seriöses Unternehmen mit einem gewaltigen Inventar und Kunden in 42 Ländern«, entrüstete er sich. »Unser Umsatz ist so groß, daß wir vertrauenswürdig sein und eine Generalgenehmigung für den Handel mit der ganzen Welt bekommen sollten. Mindestens 75 Prozent der harten Devisen, die wir einnehmen, sollten wir für Modernisierungen behalten dürfen.«

Das Thema Devisen war vermutlich das heikelste überhaupt. Uralmasch bemühte sich sehr um die Erschließung neuer Märkte im Westen und darum, für den Kauf modernster Anlagen Dollar, Yen und Deutsche Mark zu verdienen. Bei jedem Geschäft kassierte Moskau mindestens die Hälfte der von Uralmasch eingenommenen Devisen und sah es nur sehr ungern, daß der Rest in die Modernisierung investiert wurde.

Stroganow hatte gerade eine besonders schmerzliche Erfahrung hinter sich: Eine vielversprechende Partnerschaft mit einem japanischen Unternehmen war geplatzt. 1987 hatte Kobe Steel of Japan mit Uralmasch Verhandlungen über ein Joint-venture aufgenommen. Die Japaner waren bereit, 80 Millionen Dollar in die Modernisierung der wichtigsten metallverarbeitenden Werke bei Uralmasch zu investieren und diese mit den modernsten, computergesteuerten Anlagen für die Kaltmetallverarbeitung auszustatten.

Die gleiche Summe sollte Uralmasch aufbringen. Da es nicht genug Devisen hatte, wandte sich Stroganow an die Staatsbank der Sowjetunion mit der Bitte um Kredit. Dieser mußte wiederum von Gosplan genehmigt werden. Die Planungsbehörden aber wollten keine Devisenreserven dafür ausgeben - aus dem Geschäft mit den Japanern wurde nichts.

Der härteste Schlag war, daß die Bürokratie in Moskau Gorbatschows Ziel, die Leistungsfähigkeit der Industrie zu erhöhen, durch das Abziehen des größten Teils der Gewinne von Uralmasch unterlief. Laut Stroganow und seinem für Finanzangelegenheiten zuständigen Stellvertreter ging das so:

Nach Abzug aller Kosten - neben den normalen Kosten die Ausgaben für Wohnungsbau und Neuinvestitionen - hatte Uralmasch einen Bruttogewinn von 125 Millionen Dollar; die Steuern beliefen sich nur auf 13 Millionen Dollar. Aber die Moskauer Bürokraten hatten noch einen Posten auf die Rechnung gesetzt: »Otschislenije«, wörtlich »Abzug«, den horrenden Betrag von 83 Millionen Dollar, den Uralmasch als Beitrag zum Staatshaushalt und für das Ministerium für Schwermaschinenbau zu zahlen hatte.

Mit diesem Geld wurden andere Industriezweige und Unternehmen subventioniert, die in den roten Zahlen steckten. Die Verlierer wurden also nicht nur vor dem Bankrott bewahrt, sondern Uralmasch wurde obendrein für seine Leistungsfähigkeit bestraft.

Als wir uns aus Uralmasch verabschiedeten, versuchte Stroganow gute Miene zum bösen Spiel zu machen. »Ich muß Ihnen wirklich sagen, daß wir in letzter Zeit mehr Handlungsspielraum haben«, sagte er. »Die Dinge bewegen sich vorwärts, und wenn der nächste Fünfjahresplan ins Haus steht, werden wir alles diskutieren, und man wird den Unternehmen mehr Unabhängigkeit gewähren. Bis jetzt werden allerdings die wichtigen Dinge ausschließlich von Moskau entschieden. Moskau hat das Sagen.«

Als ich in Moskau mit Leonid Abalkin, einem der wichtigsten Wirtschaftsberater Gorbatschows, über meine Beobachtungen im Lande sprach, erwähnte ich auch verschiedene Klagen, die mir zu Ohren gekommen waren, etwa die von Stroganow. Er erwiderte rasch, daß Stroganow bei der Beschreibung seiner Beschränkungen übertreibe. »Sie müssen die Einstellung der sowjetischen Bevölkerung berücksichtigen. Wir kritisieren jetzt alles«, sagte er.

»Jeder klagt darüber, daß man ihn nicht machen läßt. Man sagt: 'Was kann ich tun? Ich bin nur ein kleines Rad im Getriebe.'« Die Situation sei schwierig, »doch wir können nicht alles über Nacht ändern«.

»Wenn ich«, so Abalkin weiter, »ein unbekanntes Terrain betrete und die ersten Schritte mache, muß ich zunächst einen Schritt tun, den sicheren Boden unter meinen Füßen spüren und mich versichern, daß ich mich nicht in einem Sumpf befinde. Erst wenn ich sicher bin, daß ich nicht im Sumpf untergehe, kann ich den zweiten Schritt machen. Steht mein Fuß wieder auf sicherem Boden, kommt der dritte Schritt.«

Er saß mir am Tisch gegenüber. Während er sprach, machte er mit den Händen die Bewegung eines sich langsam und vorsichtig vorwärts bewegenden Elefanten. Er kam mit einer Hand nach vorn, die Finger gespreizt, setzte sie langsam, überlegend auf, als prüfe der Elefant, ob der Boden sein Gewicht trägt. Abalkin bewegte dann die andere Hand, setzte die Finger wieder vorsichtig auf dem Tisch auf und so weiter. Seine langsame Pantomime, die ausdrucksreicher war als seine Worte, war ein treffendes Bild für den Schritt der Perestroika in der Wirtschaft.

»Wir leben zur Zeit in einer sehr angespannten sozialen Situation«, erläuterte Abalkin. »Die Wirtschaft geht den Bach hinunter. Folglich müssen wir jetzt die Dinge langsamer angehen und diesen Prozeß auffangen, die Verschlechterung der Wirtschaftslage, das Haushaltsdefizit, das Ungleichgewicht auf dem Verbrauchermarkt. Wir müssen den Prozeß des Verfalls aufhalten.«

Damit hatte Abalkin Gorbatschows Dilemma umrissen. Gorbatschow, nun ungefähr sechs Jahre im Amt, wollte das Wirtschaftssystem umstrukturieren und den fähigsten Managern mehr Handlungsspielraum geben, war aber von der Bürokratie und ihren Beschützern im Politbüro daran gehindert worden. Die ehrgeizigen Ziele des Wirtschaftsmanifests von 1987 waren durch den eisernen Widerstand von Gossnab, Gosplan und den Ministerien, die einen Verlust ihrer Macht nicht hinnehmen wollen, verwässert, blockiert, ja sabotiert worden.

Als erfahrener Politiker hätte Gorbatschow diesen Widerstand voraussehen müssen. Liberalisierende Reformen verringern per Definition die Macht der Bürokratie und werden deshalb von ihr abgelehnt. Gorbatschow hatte es nicht vermocht, die Macht der Bürokratie durch die Übertragung realer Befugnisse auf Industriemanager wie Igor Stroganow sowie durch die Einrichtung eines Großhandelssystems mit freien Preisen zu brechen.

Einige Wochen nach unserem Gespräch unterbreitete Abalkin der politischen Führung einen Plan zur Einführung der Marktwirtschaft bis Ende 1991, freie Preise eingeschlossen. Aber nicht nur die von Ryschkow angeführte Ministerialbürokratie, deren instinktiver Widerstand ihrem Überlebenstrieb entsprang, war gegen ihn, sondern auch die Öffentlichkeit.

Die Hoffnung der ersten Jahre Gorbatschows war einer allgemeinen Unzufriedenheit über die wirtschaftliche Situation gewichen. Der Staatschef hatte die wertvolle Zeit anfänglicher Beliebtheit durch seine Option für konservative Maßnahmen und durch sein Scheitern bei der Durchsetzung der wenigen progressiven Maßnahmen, die er ergriffen hatte, vertan.

Am 15. März 1990, nach seiner Wahl in das neugeschaffene Amt des Präsidenten, versprach Gorbatschow erneut radikale Wirtschaftsreformen. Wirtschaftswissenschaftler wie Stanislaw Schatalin und Nikolai Petrakow, zwei Berater Gorbatschows, initiierten eine neue Kampagne, um Gorbatschow, Ryschkow und den neuen Präsidialrat* davon zu überzeugen, alles zu riskieren und eine Roßkur zu versuchen. Sie drangen im Kreml darauf, dem Beispiel Polens zu folgen und die Marktwirtschaft sofort einzuführen.

In den Diskussionen wurde die polnische Formel als »Schocktherapie« für die Wirtschaft der Sowjetunion bezeichnet. Wochenlang wurde in den regierungseigenen Datschas westlich von Moskau in Arbeitsgruppen, denen 60 Wirtschaftswissenschaftler, Juristen und Regierungsbeamte angehörten, um Entwürfe, Optionen und Vorschläge gerungen.

Gorbatschow verwarf schließlich die radikalsten Vorschläge. Er sagte in mehreren Reden, daß er die »Schocktherapie« und die radikalen Pläne »ungeduldiger« enthusiastischer Befürworter der Marktwirtschaft abgelehnt habe. »Sie wollen alles auf eine Karte setzen. Wir sollen schneller vorangehen und entschlossen handeln, uns ein für allemal auf die Marktwirtschaft festlegen. Alles soll von heute auf morgen umgestoßen werden. Überall sollen Marktbedingungen herrschen. Freies Unternehmertum, grünes Licht für alle Eigentumsformen, Privateigentum. Alles soll privatisiert werden. Das Land, alles soll verkauft werden. Ich kann solche Ideen nicht unterstützen, so überzeugend und revolutionär sie auch scheinen. Sie sind unverantwortlich, einfach unverantwortlich.«

Einen Monat später, am 23. Mai, verkündete die Regierung ein weiteres Wirtschaftsprogramm. In seiner anfänglichen Begeisterung sprach Gorbatschow von einer historischen Wende, »vergleichbar mit der Oktoberrevolution«.

Das Programm traf die Leute wirklich: Es enthielt die Ankündigung, daß sich am 1. Juli der Preis für Brot, der 30 Jahre lang gleichgeblieben war, verdreifachen würde. Andere Nahrungsmittel, Textilien und Konsumgüter sollten später um 30 bis 130 Prozent teurer werden. Diese Nachricht löste eine Welle von panischen Hamsterkäufen aus: Innerhalb von 48 Stunden wurden in Moskau drei Viertel der für einen ganzen Monat vorgesehenen Nahrungsmittelreserven aufgekauft.

Gorbatschow appellierte an die Öffentlichkeit, »Ruhe zu bewahren«, überließ jedoch die Verteidigung des Plans allein Ryschkow, wodurch dieser zum potentiellen Sündenbock wurde. Das Paket trug Ryschkows Handschrift. Er bezeichnete es als einen langsamen Übergang zu einer »regulierten Marktwirtschaft«. Für ihn lagen die Akzente jedoch auf den Worten »langsam« und, vor allem in der Anfangsphase, auf »reguliert«.

Mit starkem Anklang an das nicht realisierte Wirtschaftsmanifest von 1987 sprach er von neuen Preisbildungsmechanismen, Wettbewerb und Unabhängigkeit für die Unternehmen, doch war sein Konzept zu zaghaft. Bei den Preisen legte Ryschkow den Akzent auf Preiserhöhungen und weniger auf Preisreformen. So war für 1991 vorgesehen, daß 85 Prozent der Preise unter staatlicher Kontrolle blieben und nur 15 Prozent durch Nachfrage und Angebot bestimmt würden.

Staatliche Monopole sollten durch die Umwandlung in Aktiengesellschaften aufgebrochen werden. Die Aktien sollten jedoch zunächst im Besitz der Regierung verbleiben. Größere Schritte zur Abschaffung der Kontrolle durch die Verwaltung und zur Einführung von realem Wettbewerb schienen erst für Mitte der neunziger Jahre vorgesehen.

Das Konzept Ryschkows ließ viel Raum für Schlupflöcher und bürokratische Bremsklötze. Von der einschneidenden und politisch riskanten Erhöhung der Nahrungsmittelpreise abgesehen, bot es nichts Neues. Es riskierte einen öffentlichen Aufstand, ohne die Garantie für eine wirkliche und wirksame Wende zur Marktwirtschaft zu bieten. Mit den Worten von Pawel Bunitsch, Reformwirtschaftler und Mitglied des Obersten Sowjet, verhieß das Konzept Ryschkows dem Volk die schlimmste aller Welten: »Das ist Schock ohne Therapie.«

Im Herbst 1990 machte Gorbatschow einen neuen Versuch. Diesmal brachte ihn sein alter Widersacher Boris Jelzin, mittlerweile Parlamentspräsident der Russischen Republik, dazu, einem Plan für eine 500-Tage-Übergangsphase in die Marktwirtschaft zuzustimmen; er stammte von Gorbatschows Wirtschaftsberater Stanislaw Schatalin und sah für die mutigen Maßnahmen einen klaren Zeitplan vor.

Aber Ryschkow bremste weiter, indem er erst mal einer Stabilisierungsphase von sechs Monaten das Wort redete, und so ging Gorbatschow unter Ausflüchten wieder auf Distanz. Mitte Oktober stellte sich auf sein Betreiben zwar der Oberste Sowjet hinter den Plan, erfolglose Staatsunternehmen zu privatisieren, allmählich die Preiskontrollen aufzuheben und die »freie Wirtschaft« zu schützen. Aber dieser Plan setzte keine Fristen, er hatte keinen Biß. Im Grunde lag er auf einer Linie mit Ryschkows Verzögerungstaktiken.

Die Diskussion über ökonomische Reformen verlor an Relevanz, je deutlicher der Mangel an Lebensmitteln wurde. Die Lebensmittelspenden aus dem Ausland, die über den Winter 1990/91 hinweghelfen, empfinden Moskauer als Erniedrigung. Die Progressiven warfen den Konservativen vor, sie sabotierten die Reform. Und das gewöhnliche Volk war nach sechs Jahren Gorbatschow des ganzen Geredes müde.

Im nächsten Heft

Die Kooperativen: Rettung oder Krebsgeschwür? - Wucherzinsen in Moskau - Ziegelsteine als Valuta

© 1991 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek. * Im Dezember 1990 wieder aufgelöst.

Hedrick Smith

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