»Wir werden diese Apparate abbauen«
Schon am 10. September, einen Tag nach Ende des Madrider Folgetreffens der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), stand das Schlußdokument im SED-Zentralorgan »Neues Deutschland« ("ND") - zwar nur in der Ost-Berliner Ausgabe, die ein gutes Drittel der Gesamtauflage ausmacht, aber in vollem Wortlaut. In der übrigen »ND«-Auflage erschien das Werk vorletzte Woche, ebenfalls ungekürzt.
Die sowjetische »Prawda«, die gemeinhin im Ostblock den Ton angibt, folgte erst am 20. September mit einer redaktionellen Zusammenfassung des KSZE-Papiers. Und die war in der für die kommunistischen Staaten besonders heiklen, in Madrid auch lange umstrittenen Frage der »Zusammenarbeit in humanitären und anderen Bereichen« überaus wortkarg.
Der »Prawda«-Leser mußte sich mit vagen Hinweisen auf »Bestimmungen« über »Kontakte zwischen den Menschen« und über »Familienzusammenführung« begnügen. Für nähere Einzelheiten verwies ihn das Parteiblatt auf die Zeitschriften »Internationales Leben« und »Neue Zeit« - die freilich, gemessen an der sowjetischen Bevölkerungszahl, unter Ausschluß der Öffentlichkeit erscheinen.
Am Dienstag letzter Woche war Ost-Berlin dem großen Bruder schon wieder voraus. Nach ordentlicher deutscher Art gossen die SED-Oberen die Madrider Vereinbarungen in eine Verordnung, die die Ausreise von DDR-Bürgern zu im »Ausland«, mithin auch in der Bundesrepublik lebenden Verwandten ersten Grades und Ehepartnern regelt.
Das stiekum im DDR-Gesetzblatt veröffentlichte, dem größten Teil der ostdeutschen Bevölkerung bisher aus den _(Bei Niedergandern in der Nähe von ) _(Göttingen am Donnerstag letzter Woche. )
West-Medien bekannte Paragraphen-Werk ist Teil eines Maßnahmepakets, mit dem Ost-Berlin sein Interesse am Ausbau der deutsch-deutschen Beziehungen kundmacht und sich zugleich für den Milliarden-Kredit vom Sommer erkenntlich zeigt. Parallel zur Ausreise-Verordnung wurde bekanntgegeben, daß Kinder bis zum vollendeten 14. Lebensjahr bei DDR-Besuchen ab sofort vom Zwangsumtausch befreit sind.
SED-Chef Erich Honecker hätte den Bonnern gern noch etwas mehr rübergereicht. Nach einer mit seinem Segen vom Zentralkomitee für das Politbüro erarbeiteten Vorlage sollten auch Rentner kein Eintrittsgeld mehr bezahlen müssen. Doch damit konnte sich der oberste Einheitssozialist nicht durchsetzen. Anders als bei den Kindern, argumentierten die Kritiker, würde die Befreiung der Rentner zu einem erheblichen Anstieg der Besucherzahlen führen, und damit wachse die innere Belastung der DDR.
Statt dessen kamen die Genossen einem alten Honecker-Wunsch entgegen und schlugen den Abbau der Selbstschußanlagen an der innerdeutschen Grenze vor. Um die Sicherheitsfanatiker um den Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke, ruhigzustellen, beschloß das Politbüro zugleich, die Grenzanlagen im Hinterland - also Minengürtel und Sperranlagen, Kontrollzonen, Zäune und Mauern - für Fluchtwillige noch unüberwindbarer zu machen.
Zuletzt im Gespräch mit Berlins Regierendem Bürgermeister Richard von Weizsäcker bestätigte der DDR-Boß, was westdeutsche Grenzschützer an einigen Abschnitten der Demarkationslinie schon seit Anfang September beobachtet hatten. Honecker: »Wir werden diese Apparate abbauen.«
Die Entfernung der Schußautomaten war besonders als Dank an den Krediteinfädler Franz Josef Strauß gedacht. Ein SED-Mann: »Die Grenze bleibt sicher, und Strauß hat den Erfolg, den er braucht.« Zugleich, so die Hoffnung der SED-Spitze, könne man mit dieser großzügigen Geste, die Ost-Berlin nichts kostet, die Scharfmacher auf der Bonner Rechten zufriedenstellen. Denn die hätten seit Jahren vor allem gegen diese Anlagen gezetert.
Honeckers Zusage geriet letzten Donnerstag ins Zwielicht, als aus Bayern gemeldet wurde, DDR-Grenzer hätten alte gegen neue Automaten ausgetauscht. Prompt reagierte der Innerdeutsche Minister Heinrich Windelen in der »Tagesschau«, es wäre eine »schlimme Sache«, wenn Ost-Berlin die Bundesregierung zu täuschen versuche.
Im Kanzleramt, wo Staatsminister Philipp Jenninger ebenso effektiv wie geräuschlos die Deutschlandpolitik organisiert, stießen Windelens eilfertige Sprüche auf Befremden. »Wir haben eine Zusicherung«, so ein Beamter, »und nun heißt es in Ruhe abwarten, wie sich die Sache weiterentwickelt.«
Daß der auf die internationale Reputation seiner Republik bedachte Honecker tatsächlich bestrebt ist, die Sperranlagen etwas weniger mörderisch erscheinen zu lassen, dafür sprechen auch andere Beobachtungen. In diesem Jahr wurden keine tödlichen Schüsse auf Flüchtlinge registriert.
Die beiden Ost-Berliner Jugendlichen, die vor drei Wochen über die Mauer flohen, waren sich gewiß, daß die DDR-Grenzer absichtlich danebengezielt hatten (SPIEGEL 37/1983). Bei der Flucht zweier Bauarbeiter nach Schleswig-Holstein am vergangenen Donnerstag wurde überhaupt nicht geschossen. Und mit Interesse vermerkten die Analytiker im Innerdeutschen Ministerium Anfang September zwei Meldungen im »Neuen Deutschland« über die Festnahme westlicher »Grenzverletzer«, beide mit dem ausdrücklichen Hinweis: »Ohne Anwendung der Schußwaffe.«
Auch sonst können sich die Bonner über die anderen Deutschen derzeit nicht beklagen, weder im Kleinen noch im Großen. Die Abfertigung an den Grenzübergängen ist höflicher geworden, die Verdachtskontrollen auf den Transitstrecken wurden erheblich reduziert. Auf allen Ebenen laufen wieder Sachverhandlungen - als nächstes, am 25. Oktober, im Bonner Innenministerium Expertengespräche über Strahlenschutz.
Sogar im sensibelsten Bereich der deutsch-deutschen Beziehungen, den »besondern Bemühungen« um Häftlingsfreikauf und Familienzusammenführung, zeigt sich die DDR nach anfänglicher Zurückhaltung gegenüber der konservativen Bundesregierung kooperationsbereit, bisweilen sogar großzügig. Jenninger: »Man spürt, daß die Dinge flotter und reibungsloser gehandhabt werden.«
Schwarz auf weiß festlegen läßt sich Ost-Berlin bei den »menschlichen Erleichterungen« aber auch künftig nicht: Die neue Verordnung beschränkt den Kreis der Berechtigten, die sich künftig auf das DDR-Gesetzblatt berufen können, auf minderjährige Kinder und deren Eltern und engt die Ausreisegenehmigung zudem durch eine lange Liste von Auflagen ein. Die Paragraphen können, je nach politischer Wetterlage, jederzeit großzügig oder restriktiv gehandhabt werden.
Gleichwohl findet Jenninger es »sehr positiv«, daß damit »ein zwar kleiner, aber menschlich gewichtiger Bereich rechtlich sauber geregelt worden ist«.
Ob die gute Praxis der letzten Monate andauert, ob sich Ost-Berlin doch noch zu weiteren Zugeständnissen etwa beim Reisealter für DDR-Bürger bereit findet und dafür auf neue finanzielle Hilfen aus Bonn rechnen darf, das alles hängt wohl zuallererst vom Ausgang der Raketenverhandlungen der beiden Supermächte ab. Ein wenig könnte es aber auch abhängen vom Verhalten westdeutscher Politiker, die - sei es aus Unkenntnis, sei es aus Großmannssucht - Deutschlandpolitikern in der SED das Geschäft erschweren.
Im Kanzleramt häufen sich Ost-Berliner Beschwerden über Sprücheklopfer in Bonn und anderswo, die durch ihr öffentliches Gerede die DDR in den Geruch mangelnder Souveränität bringen.
So fühlt sich der SED-Chef von seinem Sommergast, dem Krediteinfädler Franz Josef Strauß, beschwert. Der Bayer hatte herausposaunt, daß dank seiner
Intervention mehreren DDR-Bürgern die Ausreise gestattet wurde, und darüber hinaus den Empfang für einen der Freigelassenen in seiner Staatskanzlei mit einem persönlichen Dank an Honecker verbunden. Als noch unpassender empfand es der DDR-Obere, daß ihn letzte Woche Strauß, von Weizsäcker und danach auch Windelen mit seiner Zusage, die Selbstschußanlagen abzubauen, öffentlich ins Obligo nahmen.
Unangenehm stieß den Einheitssozialisten auch Bonns Regierungssprecher Peter Boenisch auf. Der hatte am vergangenen Montag, einen Tag vor der Mitteilung aus Ost-Berlin, eine amtliche Note der DDR zum Thema Mindestumtausch angekündigt - für die DDR ein Affront, da sie den Mindestumtausch als eine innere Angelegenheit betrachtet.
»Die werden allmählich stinksauer«, weiß ein Kanzler-Helfer. »Wir aber auch«, fügt er hinzu, »wir machen die Drecksarbeit, und andere schwadronieren.«
Doch wenn''s um ihre Interessen geht, erträgt die DDR auch Schwadronierer: Strauß, so verbreiten SED-Leute, ist schon wieder dabei, die nächste Hilfsaktion für Ost-Berlin einzurichten.
Bei Niedergandern in der Nähe von Göttingen am Donnerstag letzterWoche.