»Wir wollen euren Friedhofsfrieden nicht«
Bluesmesse: Das war Eppelmanns Idee, Friedensgottesdienst mit Bluesmusik und im Vorprogramm Liedermacher oder Folkloregruppen. Obwohl nur im Schaukasten vor der Kirche ein Plakat hing, auf dem stand, wann die nächste stattfindet, war es immer voll. So voll, daß die Veranstaltung zwei Mal hintereinander durchgeführt werden mußte.
Die erste fand meistens um 18 Uhr in einer anderen Kirche statt und die zweite dann in der Samariterkirche um 19 Uhr. 2000 bis 3000 Leute waren das jedesmal - und die Stasi kam mit dem Photographieren kaum hinterher. Wir sahen alle gleich aus: Jeans, Parka; die auf der Bühne und die davor. Die Stimmung war immer gut. Wir wußten, wir gehören zusammen, und es war egal, wenn mal ein Beitrag nicht so gut war. 2000 bis 3000 Leute - ohne Werbung, bei nur einem Plakat, nur durch Flüsterpropaganda.
Die Kirchen waren voll. Bei jedem kritischen Satz oder Lied klatschten die Leute. Endlich mal ein Ort, wo man ausspricht, was Sache ist, wenn auch oft nur in Andeutungen, aber die wurden lachend verstanden. Jeder sah, man ist nicht allein, andere denken auch so und verstecken sich nicht. Das half, das machte stark, und es war egal, wo man stand, auf der Bühne oder davor.
Ich lernte Eppelmann auf einer dieser Bluesmessen kennen und fragte ihn, ob ich mal ein paar Lieder singen dürfte. »Gut, warum nicht«, sagte er, »du gibst mir deine Texte, besuchst mich, und wir besprechen alles.«
Bei der nächsten Bluesmesse sang ich dann. Vor so vielen Leuten hatte ich erst einmal gesungen. Bei einem Konzert von Bettina Wegner. Robert Havemann sagte zu mir mal: »Man muß als Liedermacher oder als Künstler das ausdrücken, was die Menschen, vor denen man auftritt, bewegt und was sie empfinden. Manche haben den Mut dazu, doch die meisten nicht.«
Meine Erfahrungen sind dieselben, die so viele gemacht haben. Schule, Lehre, Arbeit, Einengung, Bevormundung, Mißtrauen. Die meisten passen sich an, aber manche wehren sich. Oft, weil sie nicht mehr anders können, weil alle Schwierigkeiten, die sie dadurch in Kauf nehmen müssen, viel leichter zu ertragen sind als eine bewußte Anpassung, bei der man genau weiß, was einem entgeht. Wo man sich ein Leben lang belügt, sich selbst und andere. Aber man hat doch nur ein Leben, und was bleibt?
Viel schlimmer ist die Resignation. Wenn man versucht, was zu machen, und sich dauernd gegen Unrecht zur Wehr setzt, durch Eingaben, Diskussionen oder was auch immer, ohne wirklich was zu erreichen, was zu verändern, zu verbessern. Und man glaubt, man ist ganz allein - dann verliert man irgendwann die Kraft.
Dagegen halfen die Bluesmessen.
Wir wollen nicht euren Friedhofsfrieden, eingesperrt hinter Kasernenmauern. Wir wollen nicht zu bloßen Ja-Sagern degradiert werden. Wir wollen keinen Wehrkundeunterricht. Wir wollen sagen dürfen, was wir meinen, auch wenn es euch nicht paßt. Wir haben keine Lust mehr, in euer verordnetes Jubelgeschrei miteinzustimmen oder eure Phrasen nachzubeten. Wir wollen unseren Frieden. Einen Frieden ohne Erziehung zum Haß, ohne Kriegsspielzeug.
Darüber versuchte ich auf den Bluesmessen zu singen. Schwierigkeiten gab es genug. Eppelmann wurde unter Druck gesetzt. Er von seiner Kirchenleitung und wir von den staatlichen Stellen. Alle Beteiligten mußten das aushalten.
Auftritt Bluesmesse: »Ich will dir einen Tip geben«, sagte eine Jugendklubleiterin zu mir, »du kannst bei mir auftreten, aber laß die Bluesmessen S.96 sein] Du kennst doch die Bluesleute, die da immer spielen. Wir wurden angewiesen, die nicht mehr bei uns auftreten zu lassen. Sogar bestehende Verträge mußte ich absagen, und woanders kriegen sie auch keine Auftritte mehr. Du stehst mit deinen Liedern noch nicht auf dem Index, aber ich möchte nicht, daß es dir ähnlich ergeht. Du kannst, wie gesagt, bei uns auftreten. Ich will auch mit meinen Möglichkeiten was machen, das weißt du. Nur wenn die von oben sagen, den nicht mehr, dann kann ich auch nichts machen. Das wäre schade um dich. Aber bitte, erzähle niemandem, was ich dir gerade gesagt habe. Hörst du, niemandem]«
Ich rief Eppelmann an. »Weißt du«, sagte er, »nach der letzten Bluesmesse hat es Ärger gegeben.« - »Warum?« fragte ich. »Wegen deinem ''Lied vom Soldaten''. Die meinen, du würdest damit BRD und DDR vergleichen. Ich soll dich nicht mehr auftreten lassen.«
»Aber das stimmt doch nicht, so ist das Lied gar nicht gemeint«, antwortete ich (siehe Kasten). »Ja, das weiß ich«, sagte er, »und du kannst auch weiter auftreten, aber dieses eine Lied kannst du auf den Bluesmessen nicht mehr singen. Ich will wegen eines Liedes nicht die ganze Veranstaltung gefährden.«
»Gut«, meinte ich, »da hast du recht, aber schade ist es trotzdem.« - »Aber es geht nicht anders«, sagte Eppelmann, »leider.«
Bluesmesse am 12. 9. 1980: Die Gitarre hatte ich schon zur Arbeit mitgenommen. »Na«, sagten meine Kollegen, »geht''s wieder los? Viel Glück.« Als ich in der Friedenskirche ankam, wo die erste Veranstaltung laufen sollte, war die Kirche schon zur Hälfte voll. Ich begrüßte Eppelmann und die anderen Leute von der Organisationsgruppe und stimmte meine Gitarre. Da ich im Programm als erster dran war, konnte ich gleich anfangen.
Nachdem ich gesungen hatte, sprach Eppelmann die einleitenden Worte. Es wurde umgebaut, ich packte mein Zeug zusammen und fuhr zur zweiten Veranstaltung in die Samariterkirche.
Die Straße glich einem Heerlager. Überall auf den Bordsteinkanten saßen Leute und warteten darauf, daß es endlich losginge, daß die Kirchentüren aufgemacht würden. Viele kannte ich.
Im Kirchenschiff selber gähnende Leere und Stille. Nur vereinzelt hörte ich Rufe und Pfiffe von draußen. Ich ging zu den Ordnern.
»Wir können nicht anfangen. Die Anlage ist nicht da«, sagte einer aus der Organisationsgruppe zu mir, »wir versuchen schon dauernd, die Leute, die die Anlage herbringen sollen, telephonisch zu erreichen, aber wir kommen nicht durch. Dauernd ist besetzt, wahrscheinlich blockiert. Ich glaube, da soll bewußt was schieflaufen.«
»Ob das die Stasi drauf hat«, meinte ich, »aber egal, dann singe ich eben ohne Anlage. Wenn alle leise sind, komm'' ich schon irgendwie durch.« - »Das schaffst du niemals«, sagte er, »das sind mindestens 2000 Leute, die draußen warten. Das geht nicht. Da bleibt uns nur zu warten, daß die Anlage doch auftaucht. Wir haben jemanden losgeschickt, der S.98 eine andere Box, Verstärker und Mikros holen soll.«
So warteten wir.
Nach einer Weile kam ein Ordner - fast in Panik. »Du«, sagte er, »die Bullen haben gerade angerufen. Wenn wir nicht sofort die Kirche aufmachen, kommen sie mit ''nem Überfallkommando und räumen] Das gibt ''ne Straßenschlacht. Ist dir das klar?« - »Dann macht auf«, sagte ich, »versuchen wir''s. Wir schaffen das schon irgendwie.« Bloß wie, das wußte ich selber nicht.
Sie öffneten die Tür, und das eben noch so ruhige Kirchenschiff glich einem Hexenkessel. Später sagte mir Eppelmann, daß etwa 2000 Leute in der Kirche waren und mindestens noch 1000 draußen.
Wieder etwas später wurden Box und Verstärker gebracht. Aber die Anlage, die eigentlich dasein sollte, fehlte. Ebenso die Mikrophone. Das einzige war ein kleines Sprechmikrophon. »Okay, ich versuch''s, Gitarre und Gesang über ein Mikro. Vielleicht geht''s, vielleicht komm'' ich durch, wenn alle ruhig sind, vielleicht kann ich in so einer verkrümmten Haltung singen.«
Ich machte die Ansage, deutete an, was los ist und fing an. Nur zupfen konnte ich nicht, sondern mußte voll knüppeln, damit die Gitarre wenigstens ein bißchen rüberkam. Aber es ging.
Ich sang meine Lieder und welche von Bettina Wegner. Schade, Wolf-Biermann-Lieder durfte ich natürlich nicht singen. Eineinhalb Stunden mit 2000 Leuten.
Wer weiß von denen, die Beifall klatschten, daß ich jetzt hier sitze
( In Untersuchungshaft in Ost-Berlin. )
für die Lieder auch in den Bluesmessen
Sie bauten neue Mauern auf
Karl Winklers »Lied vom Soldaten":
Es war''n einmal zwei Königreiche / die haßten einander so tief / und trotzdem taten sie sich gleichen / In beiden derselbe Mief.
Die Menschen wurden nur belogen / Tyrannen hatten die Macht / So haben sie die Völker betrogen / und zu Feinden gemacht / Jeder König sprach zu seinem Volk / im andern Reich ist''s schlecht / Ihr wißt, ich bin von Gott gewollt / hab'' deshalb immer recht.
Die beiden Völker haben''s geglaubt / von Despoten aufgehetzt / und Mauern zwischen sich gebaut / dahin der Freiheitsrest / Doch einer hörte auf sein Gewissen / hielt sich nicht an die Norm / er hätte eigentlich schießen müssen / trug er doch Uniform.
Von der Heuchelei in seinem Land / von Falschheit und Betrug / von dem Gewehr in seiner Hand / da hatte er endlich genug / Irgendwann kommt er mal an die Macht / wenn keiner mehr schießen will / doch damals wurde er ausgelacht / So blieb es um ihn still.
Und sie bauten neue Mauern auf / sein Traum, der bleibt besteh''n / irgendwann gehn die Despoten drauf / die Freiheit wird neu ersteh''n.
."Nieder mit dem Bullenpack«
Alexanderplatz, 7. Oktober 1977: Der 7. Oktober ist der Gründungstag der DDR, genannt »Nationalfeiertag«, denn die DDR erhebt den Anspruch, eine eigenständige, sozialistische Nation zu sein. Bis zum Jahre 1977 fand an dem Tag auf dem Alexanderplatz ein sogenanntes »Volksfest« statt. Überall waren Bühnen aufgebaut, auf denen Rockgruppen spielten oder Diskotheken liefen.
Seit den Ereignissen am 7. Oktober 1977 treten an diesem Tag nur russische Soldatenchöre auf oder Schlagerstars, die die Lieder ihrer westlichen Konkurrenz nachsingen. Gegen 21 Uhr ist allgemein »Feierabend«, und der Alex liegt, wie sonst auch um diese Zeit, verödet da. Rockgruppen oder Diskotheken spielen seit 77 jedenfalls nicht mehr. In den Seitenstraßen stehen überall Kolonnen von Lkw, besetzt mit Bereitschaftspolizei. Die Angst vor einer Wiederholung der Geschehnisse ist groß.
Eigentlich war es damals wie all die Jahre zuvor. Am Fuße des Fernsehturms spielte eine Rockgruppe, auf der anderen Seite lief eine Diskothek. Gegenüber der Diskothek war ein Lüftungsschacht, mitten in einem Blumenbeet, begrenzt durch eine 1,5 Meter hohe, sechseckige Mauer. Oben lagen Gitter drauf, acht Meter unter den Gittern war der Betonboden mit einer seitlichen Öffnung. Hier wurde die Frischluft für die Klimaanlage des Fernsehturms angesaugt.
Überall waren Menschenmassen. Um besser sehen zu können, standen 10 bis 15 Leute auf dem Gitter des Lüftungsschachts. Sie wippten im Takt der Musik mit. Ich stand dazwischen.
Nach einer Weile waren die Gitter schon ganz durchgebogen. Ich schmiß eine Kippe in die Tiefe und sah, wie lange sie brauchte, bis sie unten ankam. Und wenn bei der Wipperei die verbogenen Gitter brachen?
Ich kletterte wieder runter, wollte weitergehen, schaute mich um, die Leute standen weiter da oben, schaute mich noch mal um, da war die Plattform wie leergefegt. Eingebrochen] Sie sind eingebrochen] dachte ich und kämpfte mich durch die Massen zurück zum Schacht.
Gleichzeitig mit mir kam ein Sanitäter mit einem Scheinwerfer an. »Die sind abgestürzt, die sind abgestürzt, holt sie doch raus]« schrie alles. Die Musik dröhnte weiter. Das war gegen 20.30 Uhr. Der Sanitäter leuchtete mit dem Handscheinwerfer in die Tiefe. Da lagen sie, acht Meter unter uns auf dem Beton. Ihre Körper, Arme und Beine waren völlig verdreht. Keiner bewegte sich, keiner schrie, kein Blut.
Nach einer Viertelstunde versuchten Krankenwagen mit Sirenengeheul, da ranzukommen. Die Musik spielte weiter. Polizisten schlugen mit Gummiknüppeln für die Krankenwagen den Weg frei. Sie schlugen in die falsche Richtung, und die Wagen entfernten sich von uns.
Endlich, nach einer halben Stunde, holte man die Abgestürzten raus. Die Polizei schlug immer noch auf uns ein. Wir schlugen zurück. »Nieder mit dem Bullenpack]« wurde gebrüllt. Die ersten Steine folgten. Die Musik verstummte. ebenso die Gruppe, die auf der anderen Seite des Fernsehturms spielte. Ihnen war der Strom abgedreht worden.
Plötzlich schlug die ganze Erbitterung der Ost-Berliner Jugendlichen durch. »All we are saying is give peace a chance« wurde gesungen. In Sprechchören wurde »Freiheit, Freiheit« gefordert. »Russen raus, laßt Biermann rein«, hörte ich.
Die Polizeiketten droschen erbarmungslos zu. Die Massen fluteten zurück, dann flogen hageldicht Steine, und alles strömte wieder vor. Von den Balustraden flogen Flaschen auf die Bullen. Sie trieben daraufhin die Leute oben weg. Als nur noch Bullen oben waren, schmissen die Leute von unten mit Steinen. Die großen Fensterscheiben klirrten. Riesige Splitter segelten den Bullen um die Ohren.
Ein Mädchen in meiner Nähe stürzte und wurde zu einem einzigen blutigen Bündel geschlagen. Die Polizeihunde drehten durch, rissen sich los und fielen wahllos Menschen an.
Barrikaden aus Cafe-Tischen, Stühlen, Müllcontainern und den großen steinernen Papierkörben wurden gebaut. S.100 Zweitausend Jugendliche gegen vierhundert Polizisten.
Nach zwei Stunden Straßenschlacht gelang es den Bullen, verstärkt durch massiven Stasi-Einsatz, uns zu zerstreuen und einen Teil auf den vorderen Alexanderplatz abzudrängen. Alles war abgesperrt, man kam nicht mehr raus. Wahllos wurden jetzt Jugendliche rausgezogen und weggeschleift.
Wieder stürmte die Polizeikette vor. Ich kam nicht mehr weg und wurde von einem dröhnenden Schlag auf den Kopf kurz ohnmächtig.
Wach wurde ich erst wieder, als mich drei Bullen packten. Zwei drehten mir die Arme nach hinten, und zwar so, daß mein Kopf fast auf dem Boden hing. Der dritte riß mich an den Haaren hoch, so daß ich kaum noch Luft bekam. Ein vierter kam. »Stoß ihm doch mal den Griff in den Magen, damit er nicht mehr zappelt«, sagte einer. Mit voller Wucht stieß mir der vierte den Griff seines Gummiknüppels in den Magen. Mir blieb die Luft weg, ich konnte nicht mal mehr schreien.
Sie schleiften mich über den Alexanderplatz, der aussah, als wenn eine Bombe eingeschlagen hätte. Überall lagen Steine (das Pflaster war aufgerissen worden), Glasscherben, kaputte Stühle und Tische sowie umgestürzte Müllcontainer rum. Aber es wurde schon wieder aufgeräumt, neues Pflaster eingesetzt, die Fenster verglast. Am Morgen, so habe ich mir erzählen lassen, sah der Alex aus wie immer. Nur anders gefärbte Gehplatten zeugten vom Geschehenen.
In der Tiefgarage, wo sonst die Waren für das Cafe im Fernsehturm verladen werden, mußte ich mich in Polizeistellung an eine Wand stellen. Arme und Beine weit auseinander gestreckt, die Beine einen Meter von der Wand entfernt, lehnte ich mit den Armen an der Wand. Eine Art schräger Liegestütz. Normalerweise hält man diese Stellung kaum zehn Minuten aus. Wir mußten stundenlang so verharren.
Ich stand in einer Blutlache, aber es war nicht mein Blut. Mein Nachbar wagte sich zu bewegen und wurde zusammengeschlagen, bis er sich wimmernd auf dem Boden wälzte. Die Ausweise wurden uns abgenommen. Wer keinen hatte, wurde zusammengeschlagen. »Was, du Schwein, rennst ohne Ausweis rum?« So brüllten sie diejenigen an. Vorn wurden Namen aufgerufen. Man mußte bei Aufruf die Hände im Nacken verschränken und nach vorn rennen.
Endlich war ich dran. »Name, Geburtsdatum«, wurde ich gefragt. Nach meiner Antwort wurde ich auf einen wartenden Lkw geschmissen. Ja, geschmissen] Oben saßen ein Bulle, ein Jugendlicher, ein Bulle, ein Jugendlicher, immer abwechselnd. Bereitschaftspolizei. Mir gegenüber hatte einer der Bullen ein Mädchen gepackt und an sich gepreßt. Sein linker Arm umklammerte ihren Hals, mit dem Gummiknüppel in S.101 der Rechten klopfte er leicht auf ihre Brüste. Sie wagte nicht, sich zu bewegen, in der Angst, er könnte richtig zuschlagen.
Schweigen.
Nach einer Weile fuhr der Lkw los zur VP
( VP = Volkspolizei. )
-Inspektion Friedrichshain. Dort wurden wir ausgeladen und mußten durch ein Spalier wartender Bullen rennen. Nach neuen Schlägen und Tritten wurden wir in einen Saal mit Plastikstühlen und -tischen gestoßen. Krachend flogen wir zwischen die Stühle.
Dort waren schon etwa 60 bis 70 Leute, alle etwa in meinem Alter. Bei den meisten waren die Sachen zerrissen. Viele hatten Platzwunden, aus denen noch Blut quoll. Lachend wurden wir als »Neue« begrüßt. Wir waren viele und alle in derselben Lage.
Wieder wurden Namen aufgerufen. Man hetzte uns durchs Treppenhaus nach oben in eine Turnhalle. Hier waren vier Reihen Matten ausgelegt, auf die wir uns, einer neben dem anderen, im Schneidersitz setzen mußten.
Es war mittlerweile zwei Uhr nachts. Man durfte nicht miteinander sprechen und nicht einschlafen. Zwischen den Reihen patrouillierten Bullen mit Gummiknüppeln und Maschinenpistolen. Wollte man austreten gehen, mußte man sich melden. Hinter uns standen sie mit Maschinenpistolen. Aber selbst in dieser Situation konnten wir noch lachen.
Vor mir saß eine Frau, etwa 50, stockbesoffen. Sie stank bis zur nächsten Reihe. »Ick hab'' meine Prämie versoffen, is det denn vaboten oder wat? Wißt ihr, wo wa hier sind, Jungs? Wat habt da denn jemacht? Die sind aba böse, wa?« Sie deutete auf die Bullen, vom Sprechverbot nahm sie keine Notiz. »Wo bin ick denn hier? Ick bin unschuldig, ick will hier weg, nach Hause, zu mei''n Alten]«
»Wir sind alle unschuldig«, riefen wir und lachten.
Die Posten entsicherten die Maschinenpistolen. »Hier herrscht Ruhe«, schrien sie nervös.
Später brachte man die Frau weg. Ich unterhielt mich leise mit meinem Nachbarn und wurde natürlich prompt erwischt.
»Du da, raustreten, ja, du, dich meine ich, brauchst dich gar nicht so blöd umzugucken«, brüllte mich ein Bulle an. Ich mußte vor zum Eingang und als Strafe stehen, aber nicht in der üblichen Polizeistellung, sondern die Füße ebenfalls einen Meter von der Wand entfernt und einen Meter auseinander. Zusätzlich mußte ich mich mit der Stirn an die Wand lehnen, die Hände im Nacken verschränken, beide Ellenbogen mußten eine Linie bilden.
Nach einer halben Stunde durfte ich mich wieder auf meinen Platz setzen. Ab jetzt sagte ich keinen Ton mehr. Gegen fünf Uhr wurden wir mit Lkws in die S.104 Keibelstraße gebracht, ins VP-Präsidium.
In einem 100 Meter langen, stickigen, dreckigen Kellergang, der alle 20 Meter durch eine trübe Glühbirne erhellt war, mußten wir den ganzen Tag wieder in Polizeistellung stehen. Die Luft konnte man kaum atmen. Hinter uns liefen die Bullen mit Gummiknüppeln und Totschlägern auf und ab. Brach jemand zusammen, wurde er mit Gummiknüppeln bearbeitet und wieder an die Wand gestellt. Natürlich fiel er gleich wieder um, und das Spielchen wiederholte sich.
Jede Stunde durften wir uns für zehn Minuten auf den Boden setzen. Mittags gab es für jeden eine salzige Bohnensuppe, aber zu trinken gab es die ganze Zeit nichts. Ich hatte furchtbaren Durst.
Einer wurde die Kellertreppe zu uns hinabgestoßen. »Der wollte einen Lkw umkippen, Sonderbehandlung«, schrie ein Bulle. Er wurde gleich von drei Mann zusammengeschlagen. Dann ließ man ihn liegen, und erst nach einigen Stunden fing er an, sich zu bewegen und zu stöhnen.
Namen wurden aufgerufen. Man mußte, die Hände im Nacken verschränkt, nach vorn rennen, im Laufschritt, wie es hieß. Rannte man nicht schnell genug, bekam man ihre Knüppel oder Tritte zu spüren, rannte man zu schnell, geschah dasselbe.
Nach einigen Stunden war ich dran. Ich rannte nach vorn. »Los, da hoch]« wurde ich angebrüllt. Die Hände im Nacken verschränkt, mußte ich bis hoch in den sechsten Stock rennen. Auf jedem Treppenabsatz standen Bullen, die mich schlugen, traten oder anbrüllten. »Los, schneller, du Schwein, dir machen wir noch Beine]«
Keuchend kam ich oben an. Wieder Polizeistellung, wieder Schläge. Aber es war hell, und man konnte atmen. Zuerst wurden Fingerabdrücke abgenommen, anschließend ging es zur Vernehmung.
Man konnte mir nichts nachweisen, und ich hatte mir schon vorher eine glaubhafte Story zurechtgelegt. Mit Steinen hatte ich wirklich nicht geworfen. So kam ich nach einer Weile wieder runter in den Kellergang.
Am Nachmittag wurden wir dann grüppchenweise entlassen. Vorher sollten wir noch einen Vordruck unterschreiben. Darin stand, daß wir anständig behandelt worden wären, zu essen und zu trinken bekommen hätten und daß eventuelle Verletzungen von den Prügeleien auf dem Alexanderplatz herrührten.
Einer weigerte sich zu unterschreiben. »Legen Sie mal die Hände auf den Tisch. Nein, nur die Finger über die Tischkante. Ja, so ist''s gut«, sagte der Bulle zu ihm. Dann drosch er mit voller Wucht den Gummiknüppel auf die Finger.
Nachdem ich das gesehen hatte, habe ich den Wisch gern unterschrieben - ja, gern] - und wurde dann wieder freigelassen. Den Jugendlichen, dem der Bulle den Gummiknüppel auf die Finger gedroschen hatte, habe ich nach einigen Wochen wiedergesehen. Die Finger waren immer noch geschwollen, und er konnte sie kaum bewegen.
7. Oktober 1977 - damals war ich 17 Jahre alt.
Im nächsten Heft
Hungerstreik im Gefängnis von Cottbus - Bonn kauft den Häftling Winkler frei
S.93Karl Winkler: »made in G.D.R. Jugendszenen aus Ost-Berlin«.Oberbaum-Verlag, Berlin 1983; 240 Seiten; 19,80 Mark.*S.96Im Juni 1982 in der Erlöserkirche.*S.98In Untersuchungshaft in Ost-Berlin.*