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»Wir wurden umprogrammiert«

»FAZ«-Herausgeber Frank Schirrmacher, 46, über die Ursachen und Folgen des Geburtenrückgangs, die Mitschuld der Politik und die Chancen von immer weniger Deutschen, ihre Identität zu wahren
Von Nikolaus von Festenberg und Matthias Matussek
aus DER SPIEGEL 10/2006

SPIEGEL: Herr Schirrmacher, stehen Sie eigentlich schon morgens pessimistisch auf?

Schirrmacher: Überhaupt nicht, ich bin ein optimistischer, aber auch sehr realistischer Mensch.

SPIEGEL: Wenn man Ihr neues Buch liest, drängt sich das Bild von einem Zug auf, der unerbittlich auf eine Katastrophe zufährt, und keiner kann ihn aufhalten.

Schirrmacher: Ich würde das anders sagen. Der Zug ist tatsächlich auf einem Gleis, auf das er nicht gehört. Aber irgendwo in der Ferne kommt noch einmal eine Weiche, und die können wir umstellen.

SPIEGEL: Im Zug in die Zukunft sitzen immer weniger Familien und immer weniger Kinder. Warum hängt unser Überleben ausgerechnet von der Existenz der bürgerlichen Familie ab?

Schirrmacher: Es geht darum, den Begriff der Familie zunächst einmal von allem Ideologischen, ja sogar von allem Zivilisatorischen zu befreien. Das geht deshalb, weil Familien etwas Urzeitliches sind. Was bleibt, wenn wir all das wegstreichen? Ich habe mich mit der Forschung zu zwei Katastrophen eingehend beschäftigt, dem schrecklichen Ende eines Siedlertrecks auf dem Zug nach Kalifornien Mitte des 19. Jahrhunderts und einer Brandkatastrophe in England aus dem Jahre 1973. In beiden Fällen stellte sich heraus, wie entscheidend Familien in der Stunde der Krise sind.

SPIEGEL: Überraschend. Man sollte meinen, dass die flexiblen Einzelnen adäquat reagieren können.

Schirrmacher: Familien erweisen sich, wenn ich das so sagen darf, als »Überlebensfabriken«. Sie produzieren Altruismus. Sie opfern sich auf, sie entwickeln eine Ökonomie des Teilens, und zwar sowohl materieller wie immaterieller Art. Sie teilen Nahrung, aber auch Informationen. Wer schwach, also Kind oder Greis ist, hat als Familienmitglied mehr Chancen, einer Katastrophe zu entkommen. Er hat die begründete Hoffnung: Ich werde nicht zurückgelassen.

SPIEGEL: Teile der modernen Kultur lehren etwas anderes: Nur der Einsame, Bindungslose, der rücksichtslose Draufgänger kommt durch. Also der Macho.

Schirrmacher: Dem widerspricht allein schon die Evolutionsbiologie. Frauen leben länger und können sich besser anpassen. Die Draufgänger ohne Familienbindung waren die Ersten, die bei der Katastrophe am Donner-Pass starben.

SPIEGEL: Wir erleben nicht ständig Extremsituationen. Lassen sich Ihre Katastrophenanalysen auf die Gegenwart übertragen? Doppelverdiener ohne Kinder leben besser als Menschen mit Kindern. Dem Single, so scheint es doch immer noch, gehören die angenehmen Seiten des Lebens.

Schirrmacher: Genau das ist das Problem: Wir haben mit Hilfe von fehlleitenden materiellen Schlüsselreizen auch hier erneut

in die Natur eingegriffen. Es geht gar nicht so sehr darum, was der Kinderlose alles hat. Es geht darum, dass der, der sich für Kinder entscheidet, buchstäblich gegen die gesellschaftliche Vernunft handeln muss. Deshalb sagen so viele Eltern, sie fühlten sich »für dumm verkauft«. Das ist enormer Anreiz, sich gegen Kinder und Familie zu entscheiden. Sicher, solange ich einen Beruf habe und Geld verdiene, fahre ich als Einzelgänger weitaus besser. Aber das funktioniert eben nur unter den Bedingungen eines fast absoluten Wohlstands, wie wir ihn zwischen 1970 und 1990 erlebt haben.

SPIEGEL: Und jetzt ist der Spaß vorbei. Also zurück zu den alten Mustern?

Schirrmacher: Die Familie mit den in ihr aufwachsenden Kindern ist eine Urgewalt. Sie mag als spießig empfunden werden. Man verbindet mit ihr bestimmte Formen von Enge und Trivialität. Aber der Staat bedient sich der Lektionen, die aus der Familie kommen. Was als gerecht anzusehen ist, entstammt der Familie. Die Vorstellungen von Versorgungs- und Solidargemeinschaft ebenso.

SPIEGEL: Die Vater Staat so lange übernommen und zu verwirklichen versucht hat, bis ihm die Schulden über den Kopf wuchsen. Eigentlich ein sehr menschlicher Zug.

Schirrmacher: Ich bin in der Willy-Brandt-Ära groß geworden und habe wirklich gedacht, dieser Staat wird dich nie fallen lassen. Meine Großmutter beispielsweise bezog Rente, deren Ansprüche in der Kaiserzeit erworben wurden - und das nach zwei Weltkriegen, einer Inflation und einer Währungsreform. Wer in so etwas groß wird, der kann nicht anders, als den Staat für loyaler und allmäch-tiger zu halten, als es je eine Familie sein könnte. Schließlich vergisst er, wie Familien und Lebenssicherheit zusammenhängen.

SPIEGEL: Welche Folgen hatte dieser staatliche Optimismus?

Schirrmacher: Wir haben 20 Jahre versiebt. Wo ist denn das Kapital geblieben, das wir dadurch gespart haben, dass weniger Kinder auf die Welt kamen? Es wurde in mehr Urlaub investiert, in die Verringerung der Arbeitszeit, in den Konsum.

SPIEGEL: Es war der Weg in die Ich-Gesellschaft. Der Siegertyp ist einer, der nicht teilt. Wer abgibt, ist blöde.

Schirrmacher: Ja, und diese Botschaft ist das verheerendste Signal: Menschen sind bereit, Opfer zu bringen, aber sie sind nicht bereit, dann auch noch für objektiv blöd gehalten zu werden. Die Kinder von heute werden diejenigen, die später von ihnen leben wollen, vermutlich zur Kasse bitten. Wir haben mit einer der Urverfassungen der menschlichen Natur herumgespielt und aus dem Kinderkriegen, das eigentlich eine tiefgreifende, elementare, menschliche und ganz individuelle Frage ist, eine ökonomisch und lebenspraktische Vorteilsabwägung gemacht.

SPIEGEL: Der Staat versucht zu reparieren, was er kaputtgemacht hat. Er bemüht sich um mehr Kindergeld.

Schirrmacher: Der Zug ist abgefahren. Die Frage, die uns hier gestellt wird, ist so elementar, die ist nicht durch 50 Euro Kindergeld zu lösen.

SPIEGEL: Immerhin war Frankreich mit seinen staatlichen Familienmaßnahmen nicht unerfolgreich.

Schirrmacher: Die Franzosen waren im Ersten Weltkrieg mit einem jungen, aggressiven Deutschland konfrontiert und waren es auch schon 1870/71. Sie haben bereits damals gesagt: »Das passiert uns nie wieder.« Und haben Familien gefördert. Aber bitte, keine Illusionen. Die bessere Versorgung mit Kinderkrippen und Geld führt auch in Frankreich nicht dazu, dass die jetzt auf einem bestanderhaltenden Niveau sind.

SPIEGEL: Welche Folgen wird das alles für unsere Kinder haben?

Schirrmacher: Dass Menschen immer Kinder kriegen - darauf ist ja unser Sozialstaat aufgebaut -, ist, wie sich gezeigt hat, nur so lange Naturgesetz, wie die Zahl der Kinder, Geschwister, Cousins und Cousinen, gleichaltrigen Freunde und Freundinnen im Verlauf der Sozialisation des Kindes nicht unter ein bestimmtes Minimum sinkt. Das aber ist jetzt geschehen. In Regionen mit wenigen Kindern bekommen auch diese Kinder wiederum weniger Kinder. Das ist ein staunenswerter Vorgang, der womöglich sogar einer biologischen Umprogrammierung entspricht.

SPIEGEL: Wir haben eine Art Mutation erlebt?

Schirrmacher: Wir haben jetzt ein völlig neues Programm im Kopf, das wir weitergeben, und das heißt: Weniger Kinder! Es handelt sich in dieser zweiten Generation also gar nicht mehr um eine Wertefrage. Es ist etwas verlernt worden. Das hat Folgen. Wir lasten diesen wenigen nicht nur unsere Schulden auf, wir lassen sie auch verwandtschaftlich allein, sie haben immer weniger Geschwister und Cousins, um sich die Lasten zu teilen. Sie werden mit einer alternden Gesellschaft mit vielen Menschen konfrontiert sein, die nie Kinder geboren haben und plötzlich Hilfe brauchen. Sie werden Schulden übernehmen müssen, die sie nicht gemacht haben, materieller und emotionaler Art. Sie und nicht die heute 45-Jährigen werden die wahre Sandwich-Generation sein: als Eltern, als wenige zuständig für die vielen Alten. Mindestens 40 Lebensjahre, die sie sich Abhängigen zu widmen haben. Erst ihren eigenen Kinder, dann ihren Eltern. Woher soll eigentlich der Altruismus kommen, der dafür nötig ist? Vor allem, da der nächste Verwandte dieser Kinder 30 Jahre älter sein wird.

SPIEGEL: Die Familie ist ein Trainingsgelände für Gefühle, für Nächstenliebe, und das verwaist zusehends?

Schirrmacher: Die Forschungsergebnisse zeigen immer deutlicher: Man muss Kinder aufwachsen sehen, um Zuneigung und eine fürsorgliche Mentalität zu entwickeln. Die Jüngeren lernen von den Älteren. Man muss Bindungen erleben, um sie gut zu finden. Die Zahl derer, die das nicht mehr können, wird steigen. Die Atomisierung der Gesellschaft hat ihre Grenzen noch gar nicht erreicht. Wir erleben einen demografischen Übergang,

dessen krisenhafte Wirkung wir noch gar nicht spüren

SPIEGEL: Wir wissen erst, was wir haben, wenn es an die Zukunft verloren ist. Woher kommt es, dass wir diese Veränderung nur so mühsam erkennen?

Schirrmacher: Die Kultur, die wir in unseren Köpfen tragen, kommt aus einer ganz anderen Welt. Wenn ich jetzt Thomas Mann lese oder zum Beispiel Rilke, muss ich erkennen, dass das in riesige familiäre Netzwerke eingebundene Menschen waren.

SPIEGEL: Entstammen Sie auch einem solchen Netzwerk?

Schirrmacher: Ich habe viele Cousins und Cousinen. Ich bin umgeben von extrem vielen Neffen und Nichten. Ich selbst habe einen Sohn, dem ich vielleicht zu viel zumute, weil er allein ist. Ich sehe das auch an meinem Umfeld: Wer ist eigentlich da im Notfall? Wo ist dieses Netz, auch kulturell?

SPIEGEL: Der familienstarke Islam stößt nun in diese kulturelle Lücke hinein. Wird er von der Identitätsschwäche einer atomisierten westlichen Gesellschaft profitieren?

Schirrmacher: Die Kultur, in der ich lebe, in der ich ein Buch schreiben und diskutieren kann, ist eine westliche, aufgeklärte Kultur, die aus abendländischen, christlichen Werten stammt. Jeder weiß, dass ein Teil der islamischen Welt uns den Krieg

erklärt hat. Die muselmanische Reconquista hat demografische Ursachen, die Geburtenrate wird in diesen Ländern noch bis ins Jahr 2020 wachsen.

SPIEGEL: Wie Botho Strauß sagt: »Bald werden sie unsere Toleranz nicht mehr nötig haben.«

Schirrmacher: Er hat interessanterweise auch die Familie erwähnt, die in »Not und Bedrängnis« hilft. Ich bin sicher, dass diese Version von Familie - im Unterschied zur »Lindenstraßen«-Familie - die Debatten der Zukunft bestimmen wird. Islamische Gesellschaften sind jung, stark vernetzt, familiär und religiös, also wie alle solche Länder, die in der globalen Welt konkurrieren, mächtig.

SPIEGEL: Wie wichtig oder hilfreich ist da die Nation als Zugehörigkeitsraum. Wie wichtig ist Patriotismus?

Schirrmacher: Es ist wichtig. Ich muss von den Dingen überzeugt sein, die ich vertrete. Wie eine türkische Autorin sagt: Warum sollen sich Türken, die hier leben, mit Deutschland identifizieren, wenn es selbst die Deutschen nicht tun.

SPIEGEL: Das bedeutet aber nicht den Kulturkampf.

Schirrmacher: Das genaue Gegenteil. Die Frage der Integration der hier lebenden Zuwanderer ist keine Luxusfrage, sondern existentiell für unsere Gesellschaft. Und eine geglückte Integration löst dann selbstverständlich auch ein paar demografische Probleme.

SPIEGEL: Zunächst aber heißt es für uns: Umdenken.

Schirrmacher: Ja. Wir wissen ja kaum noch, wie wir mit Kindern umgehen sollen. Und die Kinder wissen nicht mehr, wie sie später mit ihrem Wunsch nach Kindern umgehen können. Es handelt sich hier nicht mehr um eine Veränderung von Wertvorstellung allein. Hier läuft offenbar bereits ein Programm ab, das sich unserer Kontrolle entzieht.

SPIEGEL: Sie haben einen 14-jährigen Sohn, auf den nach Ihrer Schilderung eine sehr düstere Zukunft wartet. Was raten Sie dem?

Schirrmacher: Suche dir so schnell wie möglich eine Frau, sei nett zu ihr, denn um Frauen wird gekämpft werden müssen in der Zukunft, weil sie knapp werden! Und gründe rechtzeitig eine möglichst große Familie.

SPIEGEL: Herr Schirrmacher, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

* Mit den Redakteuren Nikolaus von Festenberg und Matthias Matussek.

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