Wird die Sowjet-Union ein Rechtsstaat?
Das haben die Sowjetbürger seit sechs Jahrzehnten nicht erlebt: eine -- nahezu -- freie Diskussion über eine neue Verfassung für die UdSSR.
57 Millionen Sowjetbürger berieten bislang das neue Grundgesetz auf 650 000 Versammlungen. Die sowjetischen Zeitungen verbreiten ketzerische Ideen ihrer Leser. Der Briefteil stieg zur meistgelesenen Zeitungsrubrik auf.
Was als ideologische Pflichtübung gedacht war, allenfalls als Ventil, droht für den Staat zu einer Büchse der Pandora zu werden. Gibt es nach dem Prager Frühling einen Moskauer Herbst?
Im Mai dieses Jahres hatte die Verfassungskommission der UdSSR
nach 15 Jahren Beratung -- den Entwurf für ein neues Grundgesetz beschlossen und im Juni veröffentlicht. Vier Monate lang soll das Sowjetvolk darüber diskutieren -- bis zum Oktober, zum 60. Jahrestag der Staatsgründung.
Es diskutierte gründlich und leidenschaftlich: Allein in der Hauptstadt Moskau finden täglich 2000 Vorträge statt, fast fünf Millionen Moskauer hörten bislang zu, Zehntausende machten Verbesserungsvorschläge. In Leningrad unterrichteten 200 000 Agitatoren über den neuen Text. in Kiew gibt es dafür 42 000 Studienzirkel.
Dabei kamen alle zu Wort. Konservativen Einsendern geht die Breschnew-Verfassung zu weit: Sie fordern zum Beispiel, die Pflichten der Bürger vor ihren Rechten aufzuführen. Ein »Prawda«-Leser aus Kasachstan empfiehlt den Zusatz:
Die Staatsinteressen gehen allem vor. Jeder Sowjetbürger ist verpflichtet, bei allen seinen Tätigkeiten die Staatsinteressen an die erste Stelle zu setzen. Eine Chemiewerkerin wünscht sich die Bestimmung:
Jeder arbeitsfähige Bürger, der sich vor gesellschaftlich nützlicher Arbeit drückt. wird nach dem Gesetz bestraft.
Ein Kabelschlosser aus Odessa sieht im Verfassungssatz von der Gleichberechtigung der Frauen eine alte Privilegierung des weiblichen Geschlechts und rät zu der Formel: »Männer und Frauen haben gleiche Rechte.« Sonderrechte fordern 45 Werkzeugmacher: Zusatzurlaub für Werkzeugmacher.
Die meisten in der Sowjetpresse veröffentlichten Änderungsvorschläge zur Verfassung plädieren jedoch für eine Erweiterung der Bürgerrechte. Ein Rechtsanwalt aus Tscheljabinsk ficht für das verfassungsmäßige Recht auf einen Verteidiger nach der Verhaftung: »Einem Beschuldigten wird das Recht auf Schutz vor Gericht und während der Voruntersuchung garantiert.« Ein Kollege schlägt vor, den Advokaten als Organ der Rechtspflege neben Gericht und Staatsanwaltschaft ausdrücklich anzuführen und die Teilnahme eines Verteidigers am Prozeß zur Pflicht zu machen. Der Abteilungsleiter des staatsrechtlichen Forschungsinstituts der Akademie der Wissenschaften in Moskau verlangt Rechtssicherheit mit seinem Vorschlag: »Ein Beschuldigter gilt als unschuldig, solange seine Schuld nicht durch Gerichtsurteil festgestellt ist.«
Den Aufruf der Sowjetpresse an das Sowjetvolk, das Gesetz in die eigenen Hände zu nehmen, könne man nicht wörtlich nehmen, klagt ein Jurist aus Rostow: Für einen Durchschnittsbürger sei es unmöglich, in einer Buchhandlung den Text der Strafprozeßordnung zu kaufen, und Kommentare dazu seien offenbar eine Geheimsache.
Der Rechtsberater eines Staatsguts auf der Krim enthüllt sogar, daß keineswegs alle rechtsetzenden Verordnungen der sowjetischen Regierung in ihrem Verordnungsblatt veröffentlicht werden. Die Moskauer Regierungszeitung »Iswestija« half für den Hausgebrauch aus. Auf Leseranfrage führte sie auf, was ein Sowjetbürger im privaten Besitz haben darf:
Arbeitseinkünfte und Ersparnisse, eine Wohnung, je Familie bis zu 60 Quadratmeter Wohnfläche -- in Litauen und Georgien nur bis zu 40 Quadratmeter -- eine Datscha innerhalb einer Laubensiedlung oder einem Erholungsgebiet. Ferner: ein Motorrad, Motorboot und ein Auto.
Schon den Schutz der Verfassung für »individuelle Transportmittel« zuzüglich Garage vermißt »Iswestija«-Leser Gluschkow aus Swerdlowsk im neuen Entwurf. Ein anderer möchte das Recht auf Wohnung erweitert sehen zu einem Recht auf eine gute Wohnung.
Ein Chefarzt fordert in einem Leserbrief Staatshilfe bei der privaten Tierhaltung -- bislang wird der Kolchos-Brauch, den Bauern Viehfutter, Weideland und den Kolchos-Lkw zum Transport der privaten Kuh in die Stadt zur Verfügung zu stellen, von der Verfassung nicht garantiert, von lokalen Scharfmachern aber bekämpft.
Unter die private Verfügungsgewalt des Sowjetbürgers fällt Gartenland (im Schnitt ein halber Morgen> der Kolchos-Sowjetbauern, Kriegsveteranen und Lehrer. An eigenem Vieh erlaubt der Sowjetstaat laut »Iswestija": > eine Kuh nebst Kälbchen;
* eine Zuchtsau mit bis zu drei Monate alten Ferkeln oder zwei Mastschweine;
* zehn Schafe oder Ziegen sowie > Bienen, Geflügel und Kaninchen in unbeschränkter Zahl.
Die Regierungszeitung teilte auch mit, in welchen Branchen selbständige Unternehmer -- ohne Angestellte, aber mit Familienangehörigen und mit staatlicher Kredithilfe -- nach der neuen Verfassung tätig werden dürfen:
Als einfache Heimhandwerker, ferner als Schmied, Graveur, Friseur, Maniküre, Photograph, Photo-Porträtist sowie in Reparaturwerkstätten für Kraftfahrzeuge, Fahrräder, Fernsehgeräte, Lautsprecher und Kugelschreiber.
Private Kutschen und Fähren sind erlaubt, private Taxis nicht. Ohne staatliche Genehmigung sind gestattet: Holzhacken, Wäschewaschen (zu Hause, ohne Einrichtung einer »besonderen Waschanstalt"), Fußbodenreinigung und Fensterputzen. Die Leserbriefe zur Verf assungsdebatte enthüllen die Mängel im Sowjetstaat. So beantragt ein Einsender, außer der Kinderarbeit auch besonders schwere Arbeiten für Frauen zu verbieten. Ein Arbeiter vermißt die förmliche Garantie
der Entfaltung aller Fähigkeiten eines Sowjetbürgers entsprechend seiner beruflichen Ausbildung.
Ein Komponist wünscht sich mehr Hilfe für die Künste, weil eine gute Geige ein Monatsgehalt koste. Der Lehrstuhlinhaber einer Architektur-Fachschule fordert, verfassungsmäßig abzusichern, daß das wissenschaftliche Potential der Hochschulen höchstmöglich ausgenutzt werde. Einen Geologen stört das Lohnprinzip, wonach der am meisten verdient, der quantitativ am meisten abrechnet, in seinem Fall heiße das: wer am meisten herumreist. Entwicklung von Initiative oder gar Sparsamkeit würden nicht belohnt.
Viele stört die Verfassungs-Garantie der 41-Stunden-Woche -- sie fürchten, daß dadurch auch eine Verminderung der Arbeitszeit konstitutionell verboten wäre. Immerhin müßten sich die Werktätigen der UdSSR laut gültigem Parteiprogramm schon seit fünf Jahren einer Arbeitswoche von 35 Stunden erfreuen. Ein Arbeiter aus einer Landmaschinenfabrik in Taschkent verlangt denn auch die Verfassungsbestimmung, die Arbeitszeit zu senken -- »nach dem Maß der Mechanisierung und Automatisierung der Produktion und des Wachstums der Arbeitsproduktivität«.
Die Vorschläge rühren an den Grundlagen, auf denen der Sowjetstaat errichtet ist. Stimmen werden laut, jedem Sowjetbürger einen Paß zu erteilen, und zwar ohne die -- diskriminierende -- Eintragung der Nationalität: »Russe« ist begehrt, »Tatar«, »Hebräer« -- oder »Deutscher« weniger. So schlägt denn ein Ingenieur aus Kaliningrad (Königsberg) die Formel vor: »Jeder Bürger der UdSSR, der das 16. Lebensjahr erreicht hat, erhält einen einheitlichen Paß eines Bürgers der UdSSR.«
Und der Lehrer Kurdamassow aus Semipalatinsk -- vielleicht ein Krimtatare, der seit der Vertreibung von der Krim durch Stalin nicht mehr dorthin zurückkehren darf -- postuliert Freizügigkeit: »Jeder Bürger jeder Unionsrepublik (vergleichbar einem Bundesland) genießt auf dem Territorium aller anderen Unionsrepubliken dieselben Rechte und Pflichten wie die Bürger jener Unionsrepublik.«
Am meisten erregt der neue Artikel 49: »Verfolgung von Kritik ist verboten.« Diese Errungenschaft geht vielen noch nicht weit genug. Änderungsvorschlag eines Oberstleutnants aus einer Garnison in Polen: »Verfolgung von Kritik wird nach dem Gesetz bestraft.«
Ein anderer rät: »Eine Amtsperson, die Verfolgung sachlicher Kritik zugelassen hat, wird nach dem Gesetz bestraft.«
Der Staatssozialismus gewinnt plötzlich ein beinahe menschliches Gesicht. Amtspersonen sollten mit Fristsetzung verpflichtet werden, Bürgereingaben zu bearbeiten, schlägt der Gaswirtschaftsmeister einer Ölaufbereitungsanlage vor. Die »besondere Verantwortlichkeit der Planungsorgane für das Schicksal der von ihnen ausgearbeiteten Planungsaufgaben« proklamiert ein Kolchos-Buchhalter und kritisiert damit die Verantwortungslosigkeit der Planherren, ihren Mangel an »Genauigkeit«.
Ein Leningrader Fahrer, der offenbar eine hohe Amtsperson chauffiert, begehrt Strafe bei Verschleuderung öffentlicher Mittel, und zwar »vom einfachen Arbeiter bis zur höchsten Amts-Person«. Ein Tischler hält Selbstverständliches gar nicht für so selbstverständlich: »Staatseinrichtungen, gesellschaftliche Organisationen und Amtspersonen«, so sein Vorschlag, »sind verpflichtet, bei ihrer Arbeit die Forderungen der Verfassung der UdSSR und die sowjetischen Gesetze streng und genau zu erfüllen.«
Ein Diamantenschürfer aus Nordsibirien fordert, den Tatbestand der Amtsuntreue in der Verfassung festzulegen. Er deckt auf, daß Vorgesetzte irrtümlich oder aus Schlamperei, aber auch im Einklang mit dem Arbeitsrecht einfach den Arbeitslohn kürzen.
Übermütige fordern für Volksvertreter sogar das gebundene Mandat: Kolchosvorsitzender Schneider aus dem Altai plädiert für eine Pflicht der Abgeordneten, »Wähleraufträge zu berücksichtigen«. Andere finden noch besser, die Erfüllung der Wähleraufträge zu kontrollieren -- durch regelmäßigen Rapport in der Lokalpresse und auf Versammlungen.
Soviel Demokratisierung hatten sich die Verfassunggeber wohl doch nicht vorgenommen. Schleunigst trat Ende Juli, mitten in der von Funktionären besonders genau genommenen Urlaubszeit« die Verfassungskommission in Moskau zusammen. Sie klagte über »Mängel« in der Diskussion, rügte die Zeitungen, auch würden von der Bevölkerung in der Verfassungsdebatte zu-
* Aufschrift oben: »Verfassung der UdSSR«, unten: »Rassismus, Unterdrückung, Gewalt. Gesetzlosigkeit, Ausbeutung, Arbeitslosigkeit«.
viel materielle Probleme angeschnitten und Beschwerden vorgebracht.
»Schwache Arbeit mit der Bevölkerung in den Wohngebieten« konstatierte die »Prawda": ungenügende Vorbereitung der Versammlungen, die mitunter »wenig sachlich« seien. Doch die »Prawda« rügte auch Versammlungsleiter, die möglichst rasch mit der Volksdiskussion fertig werden wollen, »ohne daß es nötig wäre, die Beratungszeit zu verkürzen«. Offensichtlich ist die landesweite Verfassungsdebatte aus dem Ruder gelaufen: In den Versammlungen ging es über die Themen der Leserbriefe noch weit hinaus.
Die bisher über 67 000 Briefe werden zur Veröffentlichung von den Redaktionen gefiltert. Ihre Auswahl zeigt immerhin, daß unter Redakteuren und Zensoren mancher kleine Dubcek sitzt.
So erschien in der »Iswestija« der Vorschlag des Generaldirektors der Gorki-Autowerke -- er sitzt im ZK -, beim Obersten Sowjet ein ständiges Organ zu schaffen, das die Betriebe gegen die ihnen übergeordneten Ministerien in Schutz nimmt. Mehr noch: Bei der Beförderung von Managern der mittleren Ebene solle mehr auf die Arbeiter gehört werden -- die Abteilungsleiter beispielsweise sollten von den Belegschaften gewählt werden.
Mitbestimmung in der UdSSR: Der Leningrader Nationalökonom Kulagin und der Parteisekretär Tschernow von den Kirow-Werken -- die, als sie noch Putilow-Werke hießen, über Rußlands revolutionärstes Proletariat verfügten -- rufen zum Umsturz. Sie schlagen eine neue Formulierung des Verfassungsartikels 16 vor:
Die Arbeitskollektive der Werktätigen, angefangen bei den Produktionsbrigaden. nehmen als gesellschaftliche Organisationen an der Verwaltung der Betriebe und Produktionsvereinigungen teil.
Vor 60 Jahren hatten die Arbeiter der Putilow-Werke ihren Rüstungsbetrieb völlig in die eigene Verwaltung übernommen, bis die Bolschewiki einige Monate später die Arbeiter enteigneten und die Werke verstaatlichten.
Aus Kiew stimmte jetzt der Syndikus eines Waggonausbesserungswerks dem Wunsch nach Mitverwaltung durch die Belegschaft zu. Ein Arbeiterrentner aus der Gegend von Nowgorod forderte »Erweiterung der Rechte der Ständigen Produktionsberatungen"« einer Art Betriebsrat, eingeführt schon vor dem Oktober 1917. heute die einzige Vertretung der Belegschaft im Sowjetbetrieb. Die Leiter der Straßenkomitees in Kalinin beschwerten sich, daß in der neuen Verfassung die Funktion der »Selbstverwaltungsorganisationen der Bevölkerung« überhaupt nicht definiert sei.
Selbstverwaltungs-Sozialismus im Sowjetland? Seit der Eilzusammenkunft der Verfassungskommission veröffentlicht die Sowjetpresse fast nur noch Leserbriefe, die den amtlichen Entwurf unterstützen.