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ATOMENERGIE / FRANKREICH Wirkliches Poker

aus DER SPIEGEL 14/1971

»Auf spektakuläre Art und Weise«, freute sich die gaullistische Zeitung »La Nation«, »hält Frankreich seinen Einzug ins Europa der Atome.« Der Einzug der Franzosen kommt spät -- zu spät wahrscheinlich.

Schon seit Jahren hatte Frankreich zwar versucht, die westeuropäischen Industrienationen für ein Grollwerk zur Herstellung von angereichertem Uran zu gewinnen. Aber nur französische Ingenieure, die bisher als einzige auf dem Kontinent -- durch ihre Isotopentrennanlage in Pierrelatte -- die Technik der Uran-Konzentration beherrschen, sollten den technischen Prozeß in der Gemeinschaftsanlage überwachen.

Doch die am Know-how interessierten Europäer lehnten es ab, das Atomzentrum lediglich finanzieren zu dürfen. Statt dessen unterzeichneten Großbritannien, Holland und die Bundesrepublik am 4. März vergangenen Jahres einen Vertrag. Nach einem neuen Verfahren will der Dreierbund künftig selbst Uran anreichern. Die eingeladenen Franzosen aber blieben daheim.

Erst im vergangenen Sommer begann Pompidou, Frankreichs atomare Autarkie-Politik zu revidieren. Mitte dieses Monats nun schlug Andre Giraud, neuer Chef des französischen Atomenergie-Kommissariats, allen interessierten europäischen Staaten und Japan den Bau eines gemeinsam betriebenen zivilen Atomzentrums vor, das Pierrelatte weit in den Schatten stellen soll. »Er will aus Frankreich eine Weltmacht des Atoms machen«, kommentierte »L'Express« den Plan des Atom-Kommissars.

In Wirklichkeit ist Girauds Plan Frankreichs letzte Möglichkeit, sein Uran-Wissen zu verkaufen, bevor es nichts mehr wert ist. »Es handelt sich um ein wirkliches Pokerspiel«, gibt die gaullistische Wochenzeitschrift »L'Actualité« zu, »mit dem Ziel, den Dreibund zu erschüttern.«

Fünfeinhalb Milliarden Franc hatte Frankreich in die Entwicklung seiner Isotopen -Trennanlage von Pierrelatte gesteckt. Weil die Amerikaner den Franzosen jegliche technische Assistenz verweigerten, mußten französische Ingenieure in den fünfziger Jahren ein längst erprobtes Verfahren neu erfinden, das US-Wissenschaftler bereits 1944 zur Herstellung der ersten Atombombe verwendet hatten.

Um das spaltbare Uran-Isotop 235 (das im natürlichen Uran nur zu 0,7 Prozent enthalten ist) vom nichtspaltbaren Uran-Isotop 238 zu trennen, blasen sie gasförmiges Uran-Hexafluorid durch Tausende von Membranen, die das leichtere Spaltisotop eher durchlassen als das schwerere Uran 238. Dadurch reichem sie Uran 235 bis zu über 90 Prozent an -- die für eine Bombe notwendige Konzentration.

Weil die Pierrelatte-Kapazität gerade ausreichte, den für de Gaulles Force de frappe benötigten Explosivstoff zu produzieren, entwickelte die französische Industrie für zivile Zwecke nebenher einen Reaktortyp, der mit natürlichem Uran arbeitete. Doch obgleich französische Ingenieure alle hiermit verbundenen technischen Probleme lösten, konnte der Eigenbau mit amerikanischen Reaktor-Modellen wirtschaftlich nicht konkurrieren.

Im vergangenen Jahr entschied deshalb der staatliche Energieversorgungsbetrieb Electriclté de France, die französische Reaktorenentwicklung aufzugeben und statt dessen wirtschaftliche Leichtwasserreaktoren amerikanischen Musters zu bauen. Hierzu benötigen sie aber bis auf drei Prozent angereichertes Uran. Das hat zur Folge, daß Frankreich künftig angereichertes Uran im Ausland kaufen muß.

Bislang jedoch verkauften nur die USA Uran-Konzentrat und diktierten daher den Preis. Viele Jahre lang hatten sie den Preis für eine Verkaufseinheit auf 26 Dollar festgesetzt. im September vergangenen Jahres stieg der Preis auf 28,70 Dollar; bis zum September dieses Jahres wird er voraussichtlich sogar 32 Dollar erreichen.

Doch nicht nur das. Nach einem Bericht der OECD werden die Amerikaner selbst mit erweiterten Anlagen von 1977 an den Weltbedarf an angereichertem Uran nicht mehr decken können. Nicht zuletzt aus diesem Grunde hatten Großbritannien, Holland und die Bundesrepublik beschlossen, eine eigene Anreicherungs-Anlage zu bauen.

Die drei verzichteten jedoch von Anfang an darauf, die US-Methode der Gasdiffusion nachzuahmen. Die Briten haben zwar in Capenhurst mit amerikanischer Hilfe eine klassische Isotopen-Trennanlage aufgebaut, um Explosivstoffe für die eigenen Atombomben herzustellen. Sie mußten sieh aber verpflichten, das von den Amerikanern erworbene technische Know-how nicht weiterzugeben.

Der Dreibund entschied sich daher dafür, das von dem deutschen Professor Wilhelm Groth miterfundene Verfahren der Gaszentrifuge zur großindustriellen Produktion weiterzuentwickeln. In der Zentrifuge wird das schwerere Uran 238 an der Außenwand konzentriert und abgepumpt, so daß im Innern das Spaltisotop 235 angereichert wird.

Das Zentrifugalverfahren hat vermutlich den Vorteil, weit billiger zu sein als das Gasdiffusionsverfahren. So beträgt der Energiebedarf zur Gewinnung von angereichertem Uran in der Zentrifuge nur ein Zehntel des Energiebedarfs, der bei der klassischen Methode aufgewendet werden muß. Beim holländischen Almelo und nahe dem britischen Capenhurst werden zur Zeit zwei Versuchsanlagen aufgebaut, die die technische Durchführbarkeit des Zentrifugalverfahrens beweisen sollen,

Der Nachteil der neuen Methode: Großindustrielle Anlagen werden kaum vor dem Jahr 1980 gebaut werden können. Zu diesem Zeitpunkt aber könnte bereits eine neue Generation von Atomreaktoren wirtschaftlich ausgereift sein -- die Hochtemperatur-Reaktoren. Während ein Teil von ihnen mit schwach (etwa fünf Prozent) angereichertem Uran arbeitet, benötigen andere ein Gemisch von Thorium und bis zu etwa 90 Prozent angereichertem Uran. Auch die darauf folgende Reaktorgeneration -- die schnellen Brüter -- brauchen als Startmaterial bis zu etwa 90 Prozent konzentriertes Uran 235.

Die Unsicherheit des Schleuderverfahrens und die Versorgungslücke von 1977 an versuchen nun die Franzosen auszunutzen. Ihr Kalkül: Wenn es ihnen gelingt, die europäischen Staaten von ihrer bereits erprobten Technologie zu überzeugen, könnten sie nicht allein neue Finanzquellen für ihr geplantes Super-Pierrelatte aufschließen, sondern würden darüber hinaus ihre atomare Position in Europa noch einige Jahre halten können.

Dem Ziel einer besseren französischen Atomenergieversorgung dient außerdem ein Vertrag, den Atom-Kommissar Giraud Anfang des Monats mit der sowjetischen Organisation Technab-Export schloß. Hiernach werden die Franzosen den Sowjets Anfang 1973 etwa 500 Tonnen Natur-Uran liefern, das anschließend in sowjetischen Fabriken -- zum Preis von 30 bis 40 Millionen Franc angereichert werden soll. Mit diesem Uran, das nach der Bearbeitung nach Frankreich zurückexpediert werden soll, will Frankreich seinen Großreaktor im elsässischen Fessenheim heizen, der von 1975 an arbeiten soll.

Das jetzt abgeschlossene Geschäft mit den Russen hielt die Franzosen freilich nicht davon ab, gleichzeitig auch mit den Amerikanern zu pokern. Denn als sie sich im vergangenen Jahr für die Leichtwasser-Reaktoren amerikanischer Provenienz entschieden, taten sie es vermutlich auch, um sich mit den USA gegen den Dreibund Großbritannien -- Holland-Bundesrepublik zu verbünden. Ebenso wie die Franzosen fühlen sich auch die Amerikaner von dem britisch-holländischdeutschen Pakt bedroht.

»Um den Zentrifugen-Anhängern den Boden unter den Füßen wegzuziehen«, meldete nun »L'Express«, »scheinen die Amerikaner bereit zu sein, »Frankreich Lizenzen des Diffusionsverfahrens zu verkaufen.«

Atom-Kommissar Giraud beauftragte denn auch neben der französischen Firma »Technip« die amerikanische Ingenieurfirma Bechtel, die bereits an mehr als 50 Atomanlagen in der Welt mitgearbeitet hat, mit Studien für die neue Isotopentrennanlage. »Das sieht alles sehr nach einem Bluff aus«, mutmaßt »L'Express«.

Tatsächlich sind die Investitionen von drei bis vier Milliarden Franc für das neue Super-Pierrelatte für Frankreich allein schwer zu tragen. Darüber hinaus wird die Kapazität der neuen Uranfabrik vermutlich für die französische Industrie allein zu groß sein. Um Länder wie Italien und Belgien, die sich bisher noch keinem der Uran-Blöcke angeschlossen haben, auf seine Seite zu ziehen, muß Frankreich deshalb die neueste Technologie des zwar traditionellen, aber erprobten Verfahrens anbieten.

Trotzdem ist es zweifelhaft, ob der Dreibund anbeißt. Klagte daher »Le Monde": »Alles das wäre nicht passiert, wenn Frankreich seinen Vorschlag drei Jahre früher gemacht hätte. Verpaßte Gelegenheiten aber kann man nur schwer wiederaufholen.«

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